Der Sozialstaat ist eine kapitalistische Einrichtung

  • In Deutschland und Frankreich wird nur rund 50 Prozent der Summe, die auf der Entgeltabrechnung steht, an den jeweiligen Lohnarbeiter ausbezahlt. Die anderen 50 Prozent wandern schnurstracks in die Staatskasse.
    In den USA wird 70 Prozent der Lohnsumme individuell ausbezahlt, in Chile über 90 Prozent. Siehe die Grafik:

    bruttolohn.jpg


    Der individuell ausbezahlte Lohn ist für Lohnabhängige die Quelle aller Freiheit im Kapitalismus. Sobald der Lohnarbeiter seine Arbeitsstelle verlassen hat, ist er als Käufer und Konsument frei – soweit es sein Konto hergibt. Je mehr ein Lohnarbeiter verdient, je mehr er meint, auf soziale Unterstützung nicht angewiesen zu sein, desto unwilliger blickt er auf Sozialabgaben und Steuern. Desto eher glaubt er, ihm werde mit diesen „Abzügen“ etwas vorenthalten.


    Dass Sozialabgaben und Lohnsteuern von uns Lohnarbeitern gezahlt würden, ist aber ein Trugschluss. Lohnsteuer und Sozialabgaben sind keine Abzüge vom individuellen Lohn. Lohnsteuer und Sozialabgaben gehen direkt vom Konto des Arbeitgebers/Kapitalisten an die Staatskasse. Weder hatten wir diese Beträge je auf unserem Konto, noch können wir entscheiden, was und wie viel an die Staatskasse abgeführt wird.
    Lohnsteuer und Sozialabgaben werden – wie der individuelle Lohnanteil – von den Kapitalisten gezahlt, nicht von uns Lohnarbeitern. Alleiniger Schuldner dieser Gelder ist der Arbeitgeber (§ 28e SGB IV). Über § 266a (Beitragsvorenthaltung) und § 263 StGB (Beitragsbetrug) droht der Staat säumigen Schuldnern mit bis zu fünf Jahren Gefängnis – in schweren Fällen drohen 10 Jahre Gefängnis. Wohlgemerkt: diese Strafen drohen den Arbeitgebern, nicht uns Lohnabhängigen.


    Was geschieht mit den Abgaben und Steuern aus Lohn? Das zeigt die nächste Grafik:


    sozialstaat.jpg%20


    Folgendes fällt daran auf:
    1.
    Die Regierung rechnete im Jahr 2008 rund 755 Mrd. Euro zum „Sozialbudget“ (Wenn diese Zahl um Doppelzählungen konsolidiert wird, bleiben noch 723,4 Mrd. Euro). Dieses offizielle „Sozialbudget“ der Bundesregierung, ist mit allen möglichen Leistungen aufgebläht, die wir schwerlich unter „Sozialleistungen“ rechnen würden.
    Fangen wir ganz oben (rechts) an: Steuern, auf die der Staat z.B. durch Ehegattensplitting „verzichtet“, werden hier als „Sozialleistung“ aufgeführt. Da wird als „soziale Leistung“ gerechnet, dass das Finanzamt nicht einen noch höheren Steuerbescheid ausstellt. So etwas ist Bürokratenlogik.
    Alle Maßnahmen der „Familienförderung“ tauchen hier als „Sozialleistung“ auf, darunter die ominöse „Küchenprämie“, die Mütter bekommen, die ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken.
    Unterstützungszahlungen an Landwirte und Beamte werden hier ebenso eingerechnet wie Kriegsopferentschädigungen.


    2. Vorsichtig gerechnet, kam man 2008 in Deutschland auf rund 550 Mrd. Euro Sozialleistungen im Jahr - immer noch eine beträchtliche Summe. Diese Ausgaben waren mehr als gedeckt durch die Steuern und Abgaben aus den Lohnausgaben der Arbeitgeber/Kapitalisten – siehe die linke Säule.


    Fakt ist: Die Kapitalisten finanzieren über die Bruttobestandteile des Lohns den Sozialstaat. Der Sozialstaat ist eine kapitalistische Einrichtung.
    Aber warum finanzieren Kapitalisten den Sozialstaat?

    Die Ausgaben für „Sozialleistungen“ sind Leistungen für Notlagen, die in jedem Lohnarbeitsleben vorkommen (können): Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Alter, Arbeitslosigkeit, Armut, Pflegebedürftigkeit. Diese Kosten fallen zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger bei jedem einzelnen Lohnabhängigen an. Die einzige Einkommensquelle, die wir haben, ist jedoch der Lohn. Also muss der Lohn nicht nur unser Alltags- und Feiertagsleben, sondern auch alle diese Notfälle abdecken. Das ist ein Muss.


    3. Allerdings gibt es drei Möglichkeiten, diese Vorsorge für Notzeiten zu verwalten:
    3.1. Jeder Lohnabhängige sorgt individuell für Notlagen vor. Die gesamte Lohnsumme (Bruttolohn plus Arbeitgeberabgaben) muss dann individuell ausbezahlt werden. Den Jungen, Gesunden und Besserverdienenden mag das eine verlockende Alternative sein. Die Berechnungen der Versicherungswirtschaft zeigen allerdings, dass das Lohnniveau dann insgesamt deutlich steigen müsste, weil nicht jeder sorgsam genug mit dem zusätzlichen Geld umgeht, so dass es im Notfall fehlt.
    Aus Sicht des Kapitals ist das eine teure Lösung. Aus Sicht der Lohnabhängigen ist das eine risikoreiche Lösung.


    3.2. Die Staatsbürokratie verwaltet einen zentralen Sozialfonds. Durch die Zwangsmitgliedschaft wird hier die Einnahmenseite erhöht und gesichert, gleichzeitig hat die Kapitalseite über den Gesetzgeber (indirekt) Einfluss auf die Ausgabenseite. Das ist aus Sicht des Kapitals die kostengünstigste Lösung. Aus Sicht der Lohnabhängigen ist diese Lösung immer noch risikoreich, denn der Staat spart nicht wirklich Mittel für Notfälle an. Die anfallenden Kosten werden nur auf alle Lohneinkommen (ohne die Beamten) umverteilt. Künftige Sozialleistungen bleiben bloße Versprechungen der Staatsbürokratie mit Verfallsdatum in jeder Krise. Jeder Staatsbankrott, jede (Hyper)Inflation lässt die versprochenen Sozialleistungen platzen.
    Hinzu kommt: In jeder schweren Krise – das zeigt sich jetzt wieder in der Ukraine – verliert die Zentralregierung als erstes ihre Funktionsfähigkeit.


    3.3. Die dritte Lösung: Der Sozialfonds wird von den Lohnarbeitern auf kommunaler Ebene direkt und unmittelbar selbst verwaltet. Das ist kostengünstiger und risikoärmer als individuelle Vorsorge, und es erlaubte, auf einen Großteil des Staatspersonals samt behördlicher Schikanen (HartzIV etc.) zu verzichten.
    So oder so müssen wir damit rechnen: Was in der nächsten großen Krise nicht lokal und kommunal bewältigt wird, bleibt unbewältigt,
    meint Wal Buchenberg

  • Hab den Thread nochmal ausgebuddelt, weil ich die Kritik an Konzepten der staatsfixierten Linken teile und die Frage aufkam, gerade bezüglich Überlegungen zum Spielraum der griechischen Syriza-Regierung, wie denn die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen in Zeiten eines stagnierenden Kapitalismus zu verbessern seien. Du, Wal, meinst also, und diese Idee teile ich, dass es um eine kommunale Verwaltung der Sozialversicherung gehen müsste, wie es ja auch im Bochumer Programm vorgeschlagen wird.


    Die Frage wäre aber ob die Kapitalisten sowas überhaupt mitmachen würden, denn schließlich nimmt ihnen das die Kontrolle über den Sozialfond. Darüber hinaus ist die Frage inwieweit da was in den Topf kommt, wenn der finanzielle Spielraum durch stagnierendes bis sinkendes Wertwachstum ohnehin kleiner wird. Die Abhängigkeit von den Zahlungen des Kapitals blieben ja.


    Weiterhin ist unklar wie realistisch das überhaupt wäre. Viele Linke würden wohl meinen, mit einem "Arbeiterstaat" wäre mehr drin, da dieser im Interesse der Lohnarbeiter/innen handeln würde und eine Kommunalisierung wäre dann gar nicht notwendig.


    Denn bei einer Verwaltung des Fonds durch die Kommunen bliebe die politische Macht ja dennoch überwiegend beim kapitalistischen Staat, weshalb eine Kommunalisierung und Demokratisierung des Sozialfonds nur eine Übergangslösung sein könnte, bis eine geldfreie Versorgung sichergestellt werden kann.


    Vielleicht kann mich dahingehend jemand aufklären oder auf Denkfehler hinweisen, die mir bisher nicht aufgefallen sind.


    Grüße


    Mario

  • Hab den Thread nochmal ausgebuddelt, weil ich die Kritik an Konzepten der staatsfixierten Linken teile und die Frage aufkam, gerade bezüglich Überlegungen zum Spielraum der griechischen Syriza-Regierung, wie denn die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen in Zeiten eines stagnierenden Kapitalismus zu verbessern seien. Du, Wal, meinst also, und diese Idee teile ich, dass es um eine kommunale Verwaltung der Sozialversicherung gehen müsste, wie es ja auch im Bochumer Programm vorgeschlagen wird.
    Die Frage wäre aber ob die Kapitalisten sowas überhaupt mitmachen würden, denn schließlich nimmt ihnen das die Kontrolle über den Sozialfond. Darüber hinaus ist die Frage inwieweit da was in den Topf kommt, wenn der finanzielle Spielraum durch stagnierendes bis sinkendes Wertwachstum ohnehin kleiner wird. Die Abhängigkeit von den Zahlungen des Kapitals blieben ja.


    Hallo Mario,
    Meine Überlegungen haben einen doppelten Ausgangspunkt und einen einfachen Zielpunkt:
    Erstens wollen wir weg von den Ware-Geld-Beziehungen. Wir müssen also nach Lösungen suchen, die ohne Geld auskommen.
    Zweitens müssen wir in der Umbruchszeit mit großen Krisen und Katastrophen rechnen. Das erste, was in Krisen und Katastrophen zerstört wird, ist die Macht der Zentralinstanz. Beispiele dafür gibt es in der Ostukraine, in Syrien und überall in den Regionen der "Failed States" - der zerfallenden (zentralen) Staatsmacht.
    Ob da die Kapitalisten mitmachen? Die Kapitalisten sind auf ihre Lohnarbeiter angewiesen und sind ohne ihre Lohnarbeiter ein Nichts. Siehe Schindlers Liste, siehe die Patriarchen in der Ostukraine, die an bedürftige Bewohner Essenspakete ausliefern lassen. Siehe die Kapitalisten in Deutschland nach 1945, die an ihre Arbeiter Schuhe, Kohle und Kartoffeln ausgegeben haben.
    Wenn wir in solchen Notsituationen überhaupt was bewegen können, dann auf lokaler Ebene. Und alles, was wir bewegen müssen, funktioniert dann ohne Geldbeziehungen. Allenfalls (gegenüber Bauern) in Form von lokalen Schuldscheinen, quasi als lokales Notgeld.
    Der Zielpunkt: Alle existentiellen Dienstleistungen fallen lokal an. Also spricht alles dafür, diese Dienstleistungen auch lokal zu steuern. Das ist ein einfacher und einleuchtender Grundsatz, der niemanden in Erklärungsnot bringt. Wer es anders haben und anders machen will, der ist in Erklärungsnot.


    Weiterhin ist unklar wie realistisch das überhaupt wäre. Viele Linke würden wohl meinen, mit einem "Arbeiterstaat" wäre mehr drin, da dieser im Interesse der Lohnarbeiter/innen handeln würde und eine Kommunalisierung wäre dann gar nicht notwendig.


    Wer hält denn die Konzepte der "Arbeiterstaatsideologen" für realistisch? Weder Kapitalisten noch Arbeiter halten deren Konzepte für realistisch. Wo immer linke Revolutionäre in der Geschichte was bewegt haben, dann deshalb, weil sie in der historischen Bewegung mitgeschwommen sind und ihre Programmatik "vergessen" haben. Die Bolschewiki kamen 1917 nicht mit Arbeiterforderungen, sondern mit pazifistischen Bauernforderungen ("Land und Frieden") an die Macht. Und die chinesischen Kommunisten waren erfolgreich, weil sie auf eine Revolutionierung des Landes, nicht der Fabriken setzten.
    Um die "Arbeiterkommunisten" müssen wir uns keine Sorgen machen. Sie machen im Notfall entweder das Notwendige oder sie klammern sich an ihre Dogmen (wie die Trotzkisten) und bleben bedeutungslos.
    Im übrigen denken die Arbeiterstaatsideologen immer in dem Schema "intelligente und revolutionäre Minderheit führt/beherrscht die dumme, nichtrevolutionäre Mehrheit". Jede Minderheitenrevolution verstärkt automatisch und notwendig den Zentralismus und den Militarismus. Anders als durch Zentralismus und Waffengewalt lässt sich so ein Minderheiten-"Arbeiterstaat" gar nicht organisieren.

    Denn bei einer Verwaltung des Fonds durch die Kommunen bliebe die politische Macht ja dennoch überwiegend beim kapitalistischen Staat, weshalb eine Kommunalisierung und Demokratisierung des Sozialfonds nur eine Übergangslösung sein könnte, bis eine geldfreie Versorgung sichergestellt werden kann.


    Ich denke, der kapitalistische Sozialstaat zerfällt. Der Sozialstaat ist eine Schönwetterveranstaltung. Damit zerfällt und zersplittert auch die politische Macht. Den schlimmsten Ausgang dieser Entwicklung zeigt derzeit die Ostukraine und alle "Failed States": dort üben bewaffnete Banden die Macht in den Straßen aus. In den Betrieben herrschen die Patriarchen durch ökonomische Not. Eine Zentralgewalt existiert nicht, ein gemeinsamer Wille existiert nicht.
    Alle zivile Macht, alle vernünftigen und einvernehmlichen Lösungen sind dort versperrt.


    So eine katastrophale Entwicklung gilt es zu verhindern. Nur dann haben die Emanzipationsbestrebungen und die soziale Revolution eine Chance.
    Ich denke, wir sollten zuerst und vor allem überlegen, wie eine geldfreie Versorgung sichergestellt werden kann. Das ist das A und O der kommenden Revolution.

    Vielleicht kann mich dahingehend jemand aufklären oder auf Denkfehler hinweisen, die mir bisher nicht aufgefallen sind.


    Unsere "Denkfehler" bestehen vielleicht darin, als Einzelkopf nach Lösungen zu suchen, die viele Millionen betreffen, ohne diese Millionen einzubeziehen. Unsere "Denkfehler" bestehen vielleicht darin, nicht nach Lösungen, sondern nach Anhängern zu suchen.


    Gruß Wal

  • Wer meint, der Sozialstaat helfe den Lohnarbeitern,der ist auf dem Holzweg.
    Craig Botham ist Anlageberater der Investmentgesellschaft Schroders. Seine Philosophie heißt: „Wachstum allein schlägt sich nicht positiv am Anlagemarkt wieder. Was zählt, ist profitables Wachstum.“ Das missfällt ihm am chinesischen Anlagemarkt. „Viele große Unternehmen in China, in erster Linie Staatsbetriebe, arbeiten nicht wirklich gewinnorientiert. ... Die Belegschaft ist in manchen Großbetrieben doppelt so groß wie notwendig. Da stellt sich die Frage: Wohin mit diesen Arbeitern?“
    Deshalb sei „der Aufbau eines Sozialstaats notwendig. Das ist die wirklich große Aufgabe.“ (Quelle FAZ)


    Fakt ist: Ein Sozialstaat entlässt die Kapitalisten aus jeder sozialen Verantwortung für ihre Lohnarbeiter. Die Betriebe können sich voll aufs Profitmachen konzentrieren. Die Arbeiter, die dafür nicht taugen oder nicht mehr gebraucht werden, werden an den Sozialstaat entsorgt.
    Der Sozialstaat ist innerhalb des Kapitalismus für die Lohnarbeiter unverzichtbar. Wer jedoch meint, der Sozialstaat sei immer unverzichtbar, der kann sich das Leben und die Gesellschaft nicht ohne Lohnarbeit vorstellen.

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