Kapitalismus und Emanzipation

  • Dem Frühsozialisten Charles Fourier (1808) wird der Satz zugeschrieben: „Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation.“ (siehe auch MEW 20,242)
    Darin stecken zwei Unterstellungen, die heute nicht mehr selbstverständlich sind:
    Erstens: Dass der soziale Fortschritt, die „allgemeine Emanzipation“ sichtbar und spürbar und damit auch messbar sei und
    zweitens, dass der Maßstab für diese allgemeine Emanzipation in der sozialen Stellung der Frau zu finden sei.


    Über die Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen Leben gibt es etliche vergleichende Untersuchungen. Neu ist die folgende Untersuchungen zur persönlichen Einstellung in „Frauenfragen“ (die auch „soziale Fragen“ sind) und zu Sexualität.
    Als Messlatte gelten hier vier Themen:
    1. Einstellung zur vorehelichen Sexualität
    2. Haltung zur Abtreibung
    3. Haltung zur Scheidung
    4. Haltung zur Homosexualität.
    Die These: Ein Land ist umso zivilisierter, seine Bevölkerung umso emanzipierter, je positiver sie zu diesen vier Fragen eingestellt sind. Umgekehrt umgekehrt.


    Meine Daten dazu entstammen einer globalen Umfrage von Pew Research in 40 Ländern der Welt über „Global Views on Morality“.
    Die Untersuchungsergebnisse von PEW sind nach Ländern aufgeschlüsselt und ich habe diese Länder nach der Zeitspanne sortiert, in der die Einwohner schon im (politisch unabhängigen) Kapitalismus leben.

    Das erbrachte folgende vier Ländergruppen:
    1. Ländergruppe: Alte kapitalistische Länder (vor 1900 kapitalistisch)
    (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, USA)
    2. Frühe kapitalistische Länder (ab 1900 kapitalistisch)
    (Argentinien, Australien, Bolivien, Brasilien, Chile, El Salvador, Griechenland, Japan, Kanada, Libanon, Mexiko, Philippinen, Südafrika, Türkei, Venezuela)
    3. Späte kapitalistische Länder (ab 1945 kapitalistisch)
    (Ägypten, Ghana, Indien, Indonesien, Kenia, Malaysia, Nigeria, Pakistan, Senegal, Südkorea, Tunesion, Uganda)
    4. Kapitalistische Nachzügler (ab 1990)
    (China, Polen, Russland, Tschechien)


    So ergeben sich folgende Ergebnisse:



    Bei allen vier Fragenkomplexen liegen die alten kapitalistischen Länder vorn und es gibt eine klare Abstufung zwischen den einzelnen Ländergruppen – mit Ausnahme der postsozialistischen Länder (ganz rechte Säulen) deren Einstellungen zur Frau und Sexualität sich nur unwesentlich von der Einstellung in den alten kapitalistischen Ländern unterscheidet. Die postsozialistischen Länder zeigen, dass der Kapitalismus nicht der einzige Weg zu liberalen/emanzipierten Einstellungen in Frauen- und Sexualfragen ist.


    Aber: Wo der Kapitalismus vorherrschte, besteht eine klare Beziehung zwischen der Dauer des Kapitalismus und emanzipierten Einstellungen. Je länger Menschen im Kapitalismus lebten, desto häufiger entwickelten sie liberale/zivilisierte Haltungen zu Frauenfragen und Sexualität.


    Innerhalb der kapitalistischen Kernzone kommt übrigens Deutschland auf den höchsten Durchschnittswert von 52%, vor Spanien (50%) und Frankreich (41%). Die USA liegen weit zurück mit einem Gesamtwert von 25%.


    Wer nun behauptet, ich verteidige den Kapitalismus, dem antworte ich: Ich verteidige den Kapitalismus nicht mehr, als ihn Karl Marx verteidigt hat, wenn er schrieb:
    „Wir sahen ...: das Kapital – und der Kapitalist ist nur das personifizierte Kapital ... –, also das Kapital pumpt in dem ihm entsprechenden Produktionsprozess eine bestimmte Menge Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten oder Arbeitern heraus, Mehrarbeit, die jenes ohne Gegenwert erhält und die ihrem Wesen nach immer Zwangsarbeit bleibt, wie sehr sie auch als das Resultat freier vertraglicher Übereinkunft erscheinen mag. ...Es ist eine der zivilisatorischen Seiten des Kapitals, dass es diese Mehrarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der Entwicklung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Schöpfung der Elemente für eine höhere Neubildung vorteilhafter sind als unter den früheren Formen der Sklaverei, Leibeigenschaft usw. Es führt so einerseits eine Stufe herbei, wo der Zwang und die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung (einschließlich ihrer materiellen und intellektuellen Vorteile) durch einen Teil der Gesellschaft auf Kosten des anderen wegfällt; andererseits schafft sie die materiellen Mittel und den Keim zu Verhältnisses, die in einer höheren Form der Gesellschaft erlauben, diese Mehrarbeit zu verbinden mit einer größeren Beschränkung der materiellen Arbeit überhaupt gewidmeten Zeit.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 827.

    Gruß Wal Buchenberg

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