Reichtum ist kein Skandal. Reichtum wird (von den Meisten) nicht geneidet, sondern bewundert. Die Superlative des Luxus, die Jachten, Villen oder Privatflugzeuge, werden ebenso neidlos bestaunt wie Höchstleistungen im Sport. Dass ein junger Kerl wie Marco Reus monatlich über eine Million Euro verdient, trägt noch zu seinem VIP-Status bei – solange er schöne Tore schießt.
Reichtum ist auch deshalb für die meisten kein Skandal, weil privater Reichtum in unserer 90-Prozent-Gesellschaft so gut wie unsichtbar bleibt.
Wer von uns Lohnabhängigen war schon einmal in der üppigen und digital vernetzten Villa eines Milliardärs? Wer von uns Lohnabhängigen hat schon einmal in einem Zwei-Sterne-Restaurant gegessen, wo man für ein einzelnes Menü mehrere hundert Euro hinblättert?
Selbst die Wohlhabenden unter den Lohnarbeitern in Deutschland protzen nicht mit Reichtum und tragen Jeans und T-Shirts, die sich auf den ersten Blick kaum von den Klamotten unterscheiden, die alle anderen bei C&A kaufen.
Reichtum wird erst für diejenigen zum Skandal, die sich nicht einmal Hosen bei C&A kaufen können.
Armut ist immer ein Skandal, erst recht in einer reichen Gesellschaft wie der unsrigen. Armut ist in Deutschland jedoch ebenso versteckt und unsichtbar wie in der folgenden Grafik:
Grafiken wie diese taugen wenig zur antikapitalistischen Aufklärung. Sie werden zur Kenntnis genommen wie eine Fahrplanauskunft der Deutschen Bundesbahn.
Reichtum wird erst zum Skandal, wenn sein Zustandekommen skandalös ist.
Betrüger, die Sparbücher von alten Omas mit dem „Ich-bin-Dein-lieber-Enkel-Trick“ plündern, sind uns ebenso verhasst wie Brutalos, die Menschen umbringen, um sie zu berauben. Kapitalistischer Reichtum wird erst zum Skandal, wenn man begreift, wie dieser Reichtum zu Stande kommt.
Machen wir mal ein Gedankenexperiment.
Wir wählen dafür 100 Leute aus, die wir auf drei verschiedene Räume verteilen.
30 Leute schicken wir in eine Werkstatt und lassen sie dort arbeiten, was immer sie arbeiten wollen und arbeiten können.
65 andere schicken wir in den Lese- und Ruheraum. Sie können dort studieren, lesen, schreiben oder einfach nichts tun.
Die letzten 5 Leute schicken wir in den letzten Raum, der vor dem Ausgang des Gebäudes liegt.
Am Ende des Tages dürfen alle Teilnehmer nach Hause.
Aber die 30 produktiven Arbeiter müssen erst einen Teil ihres Arbeitsprodukts an alle anderen abgeben:
Ein Drittel ihres Arbeitsprodukts müssen sie an die Inaktiven und Unproduktiven im zweiten Zimmer abgeben, ein zweites Drittel ihres Arbeitsprodukts müssen sie an die „Kapitalisten“ im letzten Zimmer abliefern. Nur ein Drittel dürfen sie behalten und selbst verzehren.
Ich denke, diese Art der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums werden sich die produktiven Arbeiter keinen zweiten Tag gefallen lassen.
Das ist sind aber genau die Verteilungsverhältnisse im kapitalistischen Deutschland. Wo sind nun die Gemeinsamkeiten zwischen dem Gedankenexperiment und dem Kapitalismus in Deutschland?
Die Parallelen zeigen sich in zwei Daten: in der Lohnquote und in dem Verhältnis des Gesamtlohns (=Arbeitskosten) zum Nettolohn.
Die Lohnquote in Deutschland liegt aber bei 66 Prozent des Nationaleinkommens.
Das Nationaleinkommen wird jedoch – nach Auffassung von uns Marxisten – insgesamt von den produktiven Arbeitern geschaffen (- den relativ geringen Anteil der selbständigen Gewerbetreibenden lassen wir hier unberücksichtigt).
Die Lohnquote von 66 Prozent sagt aus, dass die Lohnabhängigen zwei Drittel des gesellschaftlichen Arbeitsprodukts erhalten, während ein Drittel des erarbeiteten Reichtums in Deutschland an die Kapitalisten fallen. Nach Abzug des Anteils für die Kapitalisten bleiben noch zwei Drittel für die Lohneinkommen.
Die Lohneinkommen wiederum teilen sich in Deutschland 50 : 50 in Nettolohn und in die Bruttobestandteile des Lohns.
Den Nettolohn erhalten die aktiven (produktiven) Lohnarbeiter. Aus den Bruttobestandteilen des Lohns werden alle unproduktiven (Staatsdiener) Lohnarbeiter und alle Transfereinkommen der nichtaktiven Lohnabhängigen bezahlt, - die Alten, die Kinder und Jugendlichen, die Kranken und die Arbeitslosen.
Diese Dreiteilung des Reichtums steckt hinter den Daten der obigen Grafik.
Unsichtbar bleiben diese Verteilungsverhältnisse, weil die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschengruppen verdeckt und verhüllt werden durch Sachbeziehungen zwischen Geld und Waren.
Unsichtbar bleiben diese Verteilungsverhältnisse auch, weil durch die Entwicklung der Arbeitsproduktivität die produktiven Lohnarbeiter immer weniger werden und ihre Arbeit zunehmend hinter immer unfangreicheren und immer intelligenteren Technologien verschwindet.
Auch das ist ein Element des kapitalistischen Reichtums in Deutschland, dass immer mehr Menschen durch die Arbeit immer weniger produktiver Arbeiter ernährt und unterhalten werden.
„Ein Land ist umso reicher, je geringer seine produktive Bevölkerung verhältnismäßig zum Gesamtprodukt ist; ganz wie für den einzelnen Kapitalisten, je weniger Arbeiter er braucht, um denselben Mehrwert zu erzeugen, umso besser für ihn.Das Land ist umso reicher, je geringer die produktive Bevölkerung im Verhältnis zur unproduktiven, bei derselben Quantität von Produkten. Denn die verhältnismäßige Geringheit der produktiven Bevölkerung wäre ja nur eine anderer Ausdruck für den verhältnismäßigen Grad der Produktivität der Arbeit.“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert I, MEW 26.1, 199.
Gruß Wal Buchenberg