Nationalismus und Linke

  • C. Wimmer, internationaler Sekretär der KPVenezuelas (PCV) behauptet:
    „Die PCV sieht zwei Hauptwidersprüche, die gleichzeitig im heutigen Kampf berücksichtigt werden müssen: Imperialismus gegen Nationalstaaten und Kapital gegen Arbeit. Wir kämpfen weiterhin für die nationale Unabhängigkeit.“ (Quelle)
    Aber C. Wimmer sagt nicht, wie der eine Widerspruch mit dem anderen Widerspruch zusammenhängt.


    Ich meine, „Imperialismus“ (das heißt: Großmachtpolitik, die andereStaaten und Regionen unterwerfen und in Abhängigkeit halten will) ist eine Organisationsform des Kapitals. Mehr oder minder selbständige Nationalstaaten sind auch eine Organisationsform des Kapitals.
    Im übertragenen Sinn kann man sagen: Imperialismus ist die Organisationsform des kapitalistischen Monopols, selbständige (National)Staaten sind die Organisationsform der kapitalistischen Konkurrenz. Im Großen und Ganzen entwickelte sich die Weltpolitik seit 1914 von wenigen Monopolen weg zur allgemeinen Konkurrenz – von einigen Großreichen weg zu vielen unabhängigen Staatsgebilden.
    1815 existierten in Europa nur zehn selbständige Staaten, 1900 waren es 22, heute sind es nur in Europa rund 70.
    In der ganzen Welt gab es 1900 nur 50 Staaten, derzeit sind 193 Staaten Mitgliederin der UNO.
    Die Vervielfältigung der (National)Staaten hat das unterdrückerische und monopolistische Kolonialsystem aufgebrochen und zerstört. Das war sicherlich ein großer Fortschritt.
    Doch der Kapitalismus wurde dadurch keineswegs zerstört oder nur geschwächt. Ganz im Gegenteil, mit den Nationalstaaten und in den Nationalstaaten hat sich der Kapitalismus über die ganze Welt verbreitet und überall Wurzeln geschlagen. Diese Entwicklung war gewissermaßen unvermeidlich, deshalb brauchen wir darüber nicht lange jammern. Die Imperialisten und der Imperialismus in der Welt ist bei weitem nicht mehr so stark wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.


    Dennoch: Imperialismus und Nationalstaaten sind auch heute noch ein Widerspruch, weil die heutigen Großmächte immer noch und immer wieder versuchen, Staaten und Regionen in Abhängigkeit zu bringen: Die USA im Nahen und Fernen Osten, China im Südchinesischen Meer, Russland in Osteuropa und in Fernost, usw.
    Was aber haben diese Widersprüche zwischen Imperialisten und der nationalen Unabhängigkeit mit dem Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital zu tun?
    Diese Antwort bleibt der Sekretär der KP Venezuelas schuldig, und diese Antwort bleiben gewöhnlich Antiimperialisten schuldig.
    Unser zentrales Interesse als Linke und Kommunisten sind unsere Lebensbedingungen und unsere Zukunftsperspektiven als Lohnabhängige. Wir leben und handeln aber in einer umkämpften, unfriedlichen Welt, in der es zunehmend schwieriger wird, den Durchblick und den Überblick zu behalten. Wer in diesem internationalen Hauen und Stechen behauptet:
    Diese fremde Regierung ist unser Feind (die USA, die EU, Russland, China oder Israel) und diese fremde Regierung ist unser Freund (Kuba, Venezuela, Griechenland, Syrien, Israel etc.) der soll bitteschön genau erklären, was dieser äußere Konflikt zwischen Regierungen und Staaten mit dem Widerspruch zwischen uns Lohnabhängigen und dem Kapitalismus zu tun hat.
    Wer diesen Zusammenhang nicht erklären kann, darf sich nicht wundern, wenn ihm unterstellt wird, er wolle uns Lohnarbeiter in einen potentiell kriegerischen Konflikt zwischen Staaten und Regierungen verwickeln.
    Wer diesen Zusammenhang nicht erklären kann, darf sich über mangelnde „internationale Solidarität“ nicht wundern,
    meint Wal Buchenberg


    Zur Schwächung des Imperialismus:


    ... und tschüss Imperialismus!


    Es geht mit dem "Imperialismus" zu Ende


    Zum Nationalismus:
    Doku: Ukrainischer Nationalismus - eine Analyse


    Stinknormaler Nationalismus als ideologische Basis der Neofaschisten und was Linke dagegen tun könnten.

  • Aus Sicht der KP Venezuelas und der meisten Leninisten gibt es ja bekannterweise die hegemonialen Großmachts-Nationen und die kleineren, von ihnen abhängigen Nationalstaaten.


    Da obendrein der Staat als Mittel zur Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Betracht gezogen wird und davon ausgegangen wird, dass eine soziale Emanzipation erst möglich ist, wenn die nationalstaatliche Sourveränität zurückerlangt ist (da man ja vorher an den Auflagen der supranationalen Institutionen gebunden sei), dürfte für einen C. Wimmer der Zusammenhang derart auf der Hand liegen wie ich es gerade versucht habe darzulegen.


    Einige Kommunalisten, wie z.B. Takis Fotopoulos, sehen es ja inzwischen ähnlich, dass es ohne Rückermächtigung der nationalen Souveränität keine Spielräume zu einer Kommunalisierung und Demokratisierung gäbe. Wohl eine strategische Frage.


    Problematisch dürfte nur die damit verbundene Annäherung an einen "Linksnationalismus" sein, der sich, abgesehen von Migrationsfragen, beispielsweise unwesentlich von dem der französischen Front National unterscheidet. Man sollte nicht vergessen, dass der französische und italienische Faschismus des 20. Jahrhunderts auch aus einer Revision des Marxismus hervorging und Mussolini selbst den Klassenkampf gegen den Kampf für Italien als "proletarische Nation" eintauschte.


    Die Frage der nationalen Souveränität ist also schwierig und man kann sie unterschiedlich sehen.

  • Hallo.

    Ich meine, „Imperialismus“ (das heißt: Großmachtpolitik, die andere Staaten und Regionen unterwerfen und in Abhängigkeit halten will) ist eine Organisationsform des Kapitals. Mehr oder minder selbständige Nationalstaaten sind auch eine Organisationsform des Kapitals.


    Kapital ist grenzenlos, weshalb Nationen keine keine Organisationsform des Kapitals sein können. Nationen sind die Organisationsformen eines Volkes oder mehrerer Völker, sich in der Konkurrenz um die weltweiten Reichtümer durchzusetzen. Das Kapital ist dabei ein Mittel, um diesen Zweck zu erfüllen. Organisationsformen des Kapitals sind Monopole, Oligopole, Konzerne, Kartelle, Syndikate etc.. Nationen dienen dem Kapital als Standorte, um dort Geschäfte machen zu können und als Rückzugsgebiete um ihren Reichtum zu sichern.


    ... "Linksnationalismus" ..., der sich, abgesehen von Migrationsfragen, beispielsweise unwesentlich von dem der französischen Front National unterscheidet.


    Richtig, denn der Inhalt des Nationalismus ist überall der Gleiche. Rassismus hinsichtlich Migration u. a. machen viele linke (und rechte) Nationalisten derzeit noch nicht mit, weshalb Marine le Pen auch ihren Vater wegen seiner rassistischen und antisemitischen Sprüche aus der Partei geschmissen hat, um den linken Zweiflern einen leichteren Übertritt zu ermöglichen.


    Linkssein und Nationalismus sind nicht miteinander vereinbar, wenn der Zweck des Linksseins die Emanzipation des Lohnarbeiters von der Lohnarbeit ist. Wenn sich gemäß dieser Bestimmung ein linker Lohnarbeiter für den Nationalismus entscheidet, dann verabschiedet er sich damit, von dem Zweck, den er bisher verfolgt hat. Dann nämlich setzt er von nun an auf den Erfolg seiner Nation, weil er davon er sich einen höheren Wohlstand verspricht als von seinem Einsatz für die Befreiung von der Lohnarbeit.


    Linkssein und Nationalismus sind indes miteinander vereinbar, wenn unter Linkssein Sympathie für den Sozialstaat oder generell für alles Soziale und Antipathie gegen soziale Missstände verstanden wird. Dann wird auch verständlich, warum Linke, wie das aktuell in Frankreich massenweise der Fall ist, problemlos, ohne ihrer weltanschaulichen Identität untreu werden zu müssen, von ihren ehemaligen linken, kommunistischen und sozialistischen Vereinen zu quasi neofaschistischen Vereinen überwechseln können, denn diese haben ja mindestens genau so viel Staat und Soziales für ihre Volksgenossen im Angebot.


    These: Nationalistisch, wenn auch zu ihrem Schaden, sind von Haus aus die Menschen, die sich (letztendlich) entschlossen haben, unter staatlicher Herrschaft zu einem Volk als Nation zusammenzuschließen. Dann aber muss ein Volk, das einmal seine Nation als Voraussetzung für seine Existenz und sein Überleben definiert und sich dementsprechend abgegrenzt hat, zwingend andere in Nationen zusammengefasste Völker als potentielle Feinde ansehen - unter kapitalistischen Bedingungen auf jeden Fall als Konkurrenten auf dem Weltmarkt ansehen. Damit können Nationalisten aber nichts anderes mehr wollen, als dass sich ihre Nation gegen andere Nationen mit Hilfe eines schlagkräftigen Staates in der internationalen Konkurrenz durchsetzt und wenn es sein muss, auch mal mit einem kleinen oder größeren Krieg. An diesem Kriterium messen Nationalisten dann auch das Personal, das sie über Wahlen aussuchen können. Das ist der billige Inhalt von Nationalismus, weshalb er auch im Kern keine Ideologie ist (die baut sich um ihn herum auf), sondern einen materiellen Inhalt hat, der dem Glauben entspringt, eine Nation könnte ein vorteilhaftes Lebensmittel für die Lohnarbeiter sein. Und wenn man das nicht erkennt, kann man den Nationalismus auch nie richtig kritisieren. Dann kann man immer nur nur an seiner hässlichen Fratze herum mäkeln.

  • Kapital ist grenzenlos, weshalb Nationen keine Organisationsform des Kapitals sein können. Nationen sind die Organisationsformen eines Volkes oder mehrerer Völker, sich in der Konkurrenz um die weltweiten Reichtümer durchzusetzen. Das Kapital ist dabei ein Mittel, um diesen Zweck zu erfüllen. Organisationsformen des Kapitals sind Monopole, Oligopole, Konzerne, Kartelle, Syndikate etc.. Nationen dienen dem Kapital als Standorte, um dort Geschäfte machen zu können und als Rückzugsgebiete, um ihren Reichtum zu sichern.

    Hallo Jialing,
    ich denke, du hast meine Aussage nicht ganz verstanden. Erst behauptest du: "Nationen können keine Organisationsform des Kapitals sein" und zwei Sätze weiter sagst du: "Nationen dienen dem Kapital als Standorte, um dort Geschäfte machen zu können und als Rückzugsgebiete, um ihren Reichtum zu sichern."
    Wenn diese letzte Aussage zutrifft, dann kann dein erster Satz nicht korrekt und zutreffend sein. Wenn die Nation ein regionaler Raum ist, den eine Gruppe von Kapitalisten als eigener Binnenmarkt und als eigene Expansionsbasis organisiert, dann ist "Nation" doch irgendwie eine Organisationsform des Kapitals.


    Ich denke, wir müssen die „Nation“ mit Bezug zum Kapital und zum Kapitalismus definieren und erklären. Nationalstaaten sind erst im Kapitalismus entstanden und sind mit dem Kapitalismus entstanden. Und Nationalstaaten dienen - wie du richtig sagst - einem kapitalistischen Zweck.


    Sprachlich und historisch konkurrierte das Wort „Nation“ lange Zeit mit dem Wort „Volk“. Im Mittelalter wurden unterschiedliche Ethnien als „nationes“ bezeichnet. Noch weiter zurück in der römischen Antike waren „nationes“ alle die Völker, die kein Römisches Bürgerrecht besaßen.
    Mit der Herausbildung der Nationalstaaten rückte die „nation“ immer näher an einen Staatsverband, während „Volk“ dem „niederen Volk“, dem Plebs, vorbehalten blieb. Die Bedeutungen von "Nation" und "Volk" trennten sich mehr oder minder.


    Die Herausbildung des Nationalstaates und der Nation waren allerdings eine kapitalistische Veranstaltung. So wie sich die Hansestädte zu einem „Schutzverein“ zusammenschlossen, so schlossen sich Kapitalisten verschiedener Branchen zu einer Schutzgemeinschaft zusammen – teils schon auf der (gemeinsamen) Reise zu einem fremden Handelsort, teils in der Fremde in einer gemeinsamen Unterkunft. Die Kapitalnation bildete sich auf der Basis der Geschäfte und der Kommunikation einer (gleichsprachigen) Gruppe von Kaufleuten.
    Je stärker der feudale Regionalstaat von der Bourgeoisie erobert und genutzt wurde, desto mehr wurde dieser Staat zum Schutzherr einer „kapitalistischen Nation“, also einer regional verfassten Kapitalorganisation mit gemeinsamem inneren Markt und einer eigenen „Volkswirtschaft“.
    Für den gemeinsamen inneren Markt schuf sich die Kapitalnation eigene, nationale Regeln. Für die Expansion nach außen nutzten sie den (Außen)Handel und stehende Heere. Und anfangs wurde dieser Nationalstaat nur durch Steuern der "Kapitalnation", der Bourgeoisise, finanziert. Das "Volk" zahlte keine Steuern.
    Als gemeinsamer Binnenmarkt und als eigenständige „Volkswirtschaft“ - das heißt als regionales Ausbeutungsmonopol - führten diese „Kapitalnationen“ Kriege zum Teil gegeneinander zum Teil gegen nichtkapitalistische Völker, die sie in ihr (Kolonial)Reich eingliedern wollten.


    Das ist gemeint, wenn ich schrieb: „(National)Staaten sind die Organisationsform der kapitalistischen Konkurrenz.“
    Nationen sind das Werk einer Kapitalistenklasse. Nationen sind eine Form der kapitalistischen Herrschaft.


    Der Ursprung einer Nation ist historisch mehr oder minder zufällig. So war die Heiratspolitik der Herrscher von Westspanien der historische Grund, warum sich auf der iberischen Halbinsel neben der spanischen Nation noch eine portugiesische Nation entwickelte, aber keine katalanische oder baskische Nation.
    Genauso historisch zufällig war es, dass z. B. Bayern heute zu Deutschland zählt und nicht zu Österreich. Umgekehrt: Hätten die Österreicher und Bayern ihre Kriege gegen die Preußen gewonnen, dann wäre Preußen und Ostdeutschland vielleicht heute nicht ein Teil der "deutschen Nation". Die Sieger machen eine Nation, nicht die Verlierer. Die USA sind eine Nation der Yankees, weil die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg über die Südstaaten siegten.


    Diese zufälligen historischen Anfänge der Nation werden aber schnell unwichtig. Wichtig wird dann eine gemeinsame Gesetzgebung, gemeinsame Marktregeln, ein gemeinsamer Durchschnittsprofit, also eine gemeinsame Ausbeutung der eigenen Lohnarbeiterklasse und schließlich gemeinsame außenpolitische Abenteuer und Kriege. Das macht dann eine Nation aus. Die deutsche Nation datiert auf den Sieg über Frankreich 1871. Die amerikanische Nation datiert auf den Sieg über Spanien 1898.
    Wer sich Hoffnungen auf die Nation macht, macht sich Hoffnungen auf gemeinsame Beute. Das ist das Zuckerbrot, dass die herrschende Klasse einer "Siegernation" "ihrem" Volk macht: Dass ein paar Brocken abfallen von der nationalen Beute.


    Es ist aber für die Ausgebeuteten und Unterdrückten einer "Verlierernation" keineswegs egal, ob sie von der eigenen Bourgeoisie oder von einer fremden Bourgeoisie ausgebeutet und unterdrückt werden. In aller Regel erscheint die Herrschaft einer auswärtigen Kapitalistenklasse drückender als die Herrschaft der eigenen Bourgeoisie. Es ist nicht einfach Dummheit, sondern schmerzliche Erfahrung, wenn ein ausgebeutetes und unterdrücktes Volk die Herrschaft einer fremden Bourgeoisie bekämpft und die Herrschaft der eigenen Bourgeoisie duldet und der Fremdherrschaft vorzieht. So erleben heute die (meisten) Kurden die türkische Herrschaft als drückender als jede Herrschaft von kurdischen Machthabern.
    Eine andere Sache ist es, wenn die kleinen und großen Kapitalisten in Norditalien und in Katalonien, die gute Geschäfte machen, ihre eigene Regierung und ihre eigenen Staatsgrenzen wollen, nur um nicht den armen Süden ihrer Ländern mitfinanzieren zu müssen. Das ist so ähnlich, wie wenn das reiche Bayern aus dem deutschen Staatsverband ausscheiden möchte, um den Länderfinanzausgleich loszuwerden.


    Die Antikolonialbewegung des 20. Jahrhunderts war jedoch eine wirkliche Volksrevolution und nicht einfach nur ein Betrug der jeweiligen nationalen Bourgeoisie an ihrem Volk. Dieses Element des Betruges, dass dem Volk als Siegerpreis das sozialistische Blau des kommunistischen Himmels versprochen wurde, das gab es auch. Aber das war nicht das Wesentliche. Das Wesentliche war der Kampf gegen die imperialistische Vorherrschaft, ein Kampf gegen das "imperiale Ausbeutungs-Monopol".
    Dass hinterher kein kommunistischer Himmel, sondern die kapitalistische Konkurrenz heraussprang, ist eine Ernüchterung, aber dieses Ernüchterung macht den siegreichen Kampf gegen die "imperialen Monopole" nicht wertlos.


    Gruß Wal Buchenberg


    Marx und Engels über nationale Befreiungsbewegungen

  • Nicht nur Natur und Gesellschaft sind in ständiger Veränderung, der Inhalt von Begriffen ist es ebenfalls. Beim Beispiel Nation war der Ursprung , wie bereits von Wal erwähnt, ein anderer Begriff für Volk . Mit der einsetzenden kapitalistischen Entwicklung wurde daraus überwiegend eine staatlich und ökonomisch organisierte Vereinigung. Das könnte aber noch nicht das Ende der Umdeutung sein. Im Zusammenhang mit der Pariser Kommune erwähnte Marx mehrmals die Einheit der Nation als etwas, was zu erhalten sei. Sinngemäß erwähnte er, das die Nation von der Unterwerfung durch den Staat befreit werden müsse. Daraus läßt sich schlussfolgern, das er davon ausging, das es auch in nachkapitalistischen Gesellschaften Nationen geben kann.

  • Hallo Jens,


    was soll mir nun Dein Einwurf, daß es auch in nachkapitaistischen Gesellschaften Nationen geben kann, sagen?
    Daß dann Nation 'wieder' Volk meint, daß es einen Sprachraum meint, daß es... ja, was eigentlich?


    Ich meine zu wissen, was Staat ist, was ihn ausmacht - und ich denke das wichtigste: Warum es ihn überhaupt gibt.
    Dh. warum es ihn und unter welchen 'Umständen', sprich Produktionsverhältnissen, gibt/ geben muß.


    Staat ist Überbau über das gesellschaftlich bestimmende Produktionsverhältnis, das 'ruft' ihn hervor, nicht er das Produktionsverhältnis.


    Herrschaft abschaffen (zu wollen), macht also mE nur Sinn, wenn die Bedingungen, die Herrschaft erfordern(!) beseitigt werden (wollen).


    Liebe Grüße - Wat.

  • Wal, da stehen wir nun mit zwei nicht zu vereinbar Thesen: Du behauptest, dass die Nationen nicht das Werk der Völker sind, sondern einer herrschenden Klasse. Sie seien eine Form der kapitalistischen Herrschaft. Ich behaupte das Gegenteil und sage, dass Nationen das Resultat, des Willens von Völkern (als Gesamtwille der einzelnen Bürger) sind, sich in der Konkurrenz um den Reichtum auf der Erde gegen andere in Nationen zusammengefassten Völkern durchzusetzen. Das Kapital ist dabei ein Mittel diesen Zweck zu erreichen, also nicht das Subjekt in diesem Konkurrenzkampf. Begründung:


    Auf Deutschland bezogen - was aber prinzipiell für jede Nationenbildung gilt - entsprang die Ambition zur Bildung der Nation der Bourgeoisie, deren materielles Interesse darin bestand, anhand der Nationenbildung den Feudalismus zu überwinden, um selbst zur herrschenden Klasse aufzusteigen. Die zu diesem materiellen Interesse gehörige Weltanschauung, der Nationalismus, wurde damals vor allem über die Literatur (Herder, Goethe, Schiller etc.) und auch an den Hochschulen (Fichte) verbreitet. Auch das aufkommende Proletariats befasste in seinen Arbeitervereinen mir dem Nationalismus und ließ sich diesen einleuchten. Durch die Wahlen erkannte das wählende Volk die Nation als Voraussetzung ihrer Lebensbedingungen an, begründete durch die damit stattgefundene Abgrenzung aber auch die Konkurrenz zu anderen Nationen, was sich schließlich als Wille zu dieser in der Begeisterung für den 1. Weltkrieg manifestierte, der mit dem Ziel geführt wurde, Deutschland zur führenden Nation zu machen.


    Bei alldem spielte das Kapital zwar eine wichtige aber untergeordnete Rolle. Es gehörte zwar zur Bourgeoisie und hatte wie diese ein starkes Interesse den Feudalismus, der die Kapitalakkumulation beschränkte, zu überwinden. Sein Interesse war aber weniger ein politisches sondern vor allem ein ökonomisches. Sein Interesse bestand darin, dass ein möglichst großer Wirtschaftsraum und die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen seien, damit eine möglichst reibungslose Kapitalakkumulation stattfinden kann. Es hatte überhaupt keinen Anlass, nach (politischer) Macht, die besaß sie ja schon zur genüge in seinem Reichtum.


    "Während das Kapital also einerseits dahin streben muss, jede örtliche Schranke des Verkehrs ... niederzureißen, die ganze Erde als seinen Markt zu erobern, strebt es andererseits danach, den Raum zu vernichten durch die Zeit; d. h. die Zeit, die die Bewegung von einem Ort zum anderen kostet, auf ein Minimum zu reduzieren. ... Grundrisse 378


    Für den von dem kämpferischen Volk gewollten und (vorerst) von der Bourgeoisie personell besetzten und die Nation führenden und organisierenden Staat hingegen, war das Kapital das entscheidende Mittel im Konkurrenzkampf gegen die anderen Nationen und musste entsprechend gefördert, gesichert und organisiert, also alle Voraussetzungen, wie zum Beisiel eine gescheite Infrastruktur, geschaffen werden, damit sich das Kapital möglichst ungestört entwickeln konnte.


    Folgt man der bis jetzt geführten Argumentation, dann ist der Sachverhalt also genau umgekehrt, wie du behauptest: Nicht das Kapital organisiert sich in der Nation, sondern das Kapital wird (privilegiert) vom ausführenden Organ der Nation, dem Staat organisiert. Das Kapital ist nicht Subjekt sondern Objekt.


    Das gilt heute umso mehr, wo das Kapital ungehindert von allen nationalen Schranken auf dem Weltmarkt agiert. Und das Kapital sucht sich die (Produktions)Standorte auf der Welt aus, wo es die günstigsten Bedingungen hinsichtlich politischer Stabilität (Rechtssystem, Ordnung, Sicherheit) und ökonomischer Rahmenbedingungen (ausgebildete Arbeiterschaft, Steuern, Subventionen etc.) vorfindet, um möglichst ungestört sein Kapital vermehren zu können. Andererseits ist der Kapitalist aber auch Bürger und hat insbesondere als Teil der Bourgeoisie ein großes Interesse am Erfolg der Nation, weil er im Gegensatz zum einfachen Bürger, für den der nationale Erfolg nicht unbedingt auch persönliche Vorteile garantiert, von dessen Erfolg profitiert, weil eine starke Nation ihm bei der Durchsetzung seines Interesses, Kapital weltweit zu akkumulieren,besser unterstützen kann als eine schwache und außerdem der Binnenmarkt vergrößert wird. Und solange das so ist und die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen stimmen, wie das derzeit z. B. in Deutschland der Fall ist, gibt es auch keinen Grund den zentralen Standort zu wechseln und nicht als deutscher Kapitalist aufzutreten. Kurz: Als Bourgeois ist der Kapitalist Nationalist als Kapitalist ist er es nicht. Als Kapitalist nutzt er die Nation für seine strategischen Ziele und als Kapitalist nutzt der die Nation führende Staat ihn für seine strategischen Ziele. Es liegt also ein Verhältnis vor, bei dem sich jede Seite einen Nutzen vom andern verspricht, Weil es sich dabei aber um jeweils eigenständige Formen handelt, unter denen ganz unterschiedliche Zwecke verfolgt werden, kann die Nation nicht die Organisationsform des Kapitals sein.




    @ Jörg. Es ist richtig, wie man aus den im Lexikon aufgeführten Zitaten entnehmen kann, dass Marx und Engels sich mehrfach für den nationalen Kampf des Proletariats ausgesprochen und sich positiv zur Nationenbildung geäußert haben. Das kann zeitbedingt allerdings nur strategisch gemeint gewesen sein und das kann man gelten lassen, wenn sich Lohnarbeiter von einem größeren als dem kapitalistischen Joch befreien wollen, aber nicht mehr, wie in den Weltkriegen, wenn Lohnarbeiter gegen Lohnarbeiter aufeinander losgehen, denn das proletarische Prinzip lautet ja: Proletarier aller Länder vereinigt euch, ist also von Haus aus gegen jede bornierte Abgrenzung wegen nationaler Interessen gerichtet. Von Nationalismus hingegen, der den Proletariern einreden will, dass es ihnen etwas brächte, wenn sie für den Erfolg ihrer Nation sind und/oder sich dafür einsetzen, wirst du bei Marx und Engels nichts finden. Wenn sie erführen, dass die Köpfe der Lohnarbeiter heutzutags von dieser Seuche befallen sind, müssten sie sich im Grabe umdrehen.


    @wat: wenn aber Herrschaft gewollt ist, wie u. a. aus nationalistischen Gründen, ist deren Abschaffung kaum möglich, weshalb erst mal mit diesem furchtbare Mist aufgeräumt gehört.

  • Wal, da stehen wir nun mit zwei nicht zu vereinbar Thesen: Du behauptest, dass die Nationen nicht das Werk der Völker sind, sondern einer herrschenden Klasse. Sie seien eine Form der kapitalistischen Herrschaft. Ich behaupte das Gegenteil und sage, dass Nationen das Resultat, des Willens von Völkern (als Gesamtwille der einzelnen Bürger) sind, sich in der Konkurrenz um den Reichtum auf der Erde gegen andere in Nationen zusammengefassten Völkern durchzusetzen. Das Kapital ist dabei ein Mittel diesen Zweck zu erreichen, also nicht das Subjekt in diesem Konkurrenzkampf.


    Ja, das ist genau unsere Meinungsverschiedenheit in dieser Sache.


    Nicht das Kapital organisiert sich in der Nation, sondern das Kapital wird (privilegiert) vom ausführenden Organ der Nation, dem Staat organisiert. Das Kapital ist nicht Subjekt sondern Objekt.


    Dieser Sicht kann ich nichts abgewinnen. Da wird die "Nation" als ein über den Klassen stehendes historisches Subjekt unterstellt. Ich kenne in der (modernen) Geschichte nur Klassen als (überindividuelle) geschichtliche Subjekte. Klassen können zwar als "Volk" oder als "Nation" kooperieren, aber ob diese Klassenkooperation wirklich in einem gemeinsamen Interesse ist, müsste von Fall zu Fall geklärt werden.
    "Nation" ist in deiner Theorie aber ein ideologisches Konstrukt, mit dem die Klassen und der Klassengegensatz aus der kapitalistischen Welt weggeschafft und geleugnet werden sollen.


    Und was in meinen Augen noch absurder ist: Der Staat wird hier als dem Kapital übergeordnet vorgestellt. Der Staat sei das eigentliche historische Subjekt, demgegenüber das Kapital nur Objekt ist.
    Hier wird das "Primat der Politik" zum Theorem erhoben und der "Überbau" wird zum "Schöpfer der ökonomischen Basis" erklärt.


    Ich weiß wohl, wo diese Theorie gepflegt wird. Mit den Ansichten und der Theorie von Karl Marx (und Friedrich Engels) hat sie nichts zu tun.


    Gruß Wal

  • Das Problem besteht wohl darin, dass die Begriffe Nation und Staat - zumindest seit der Moderne, d.h. dem Anbrechen des bürgerlichen Zeitalters - miteinander verschränkt sind. Meinte, wie Wal dargelegt hat, der mittelalterliche Begriff der nationes noch lose mit dem des "Volkes" gleichgesetzt. Beide Begriffe waren aber sehr ungenau. So umfasste beispielsweise die Universität Paris im Mittelalter vier nationes, aber diese waren mehr Himmelsrichtungen von Volksschaften als genaue nationale Zuordnungen im heutigen Sinn. Wikipedia schreibt zum Begriff Nationes:


    "Das Vier-Nationen-Modell der Alma mater in Paris hatte eine territoriale Einordnung der Landsmannschaften nach den vier Himmelsrichtungen eingeteilt und wies schon das Fakultätsprinzip auf. So gab es an der Universität Paris die englische Nation für die Nord- und Osteuropäer, dazu die normannische, die pikardische und die gallische Nation. So wurden die Scholaren aus deutschsprachigen Regionen zusammen mit „Engländern“ und Nordeuropäern zur „natio anglicana“ zusammengefasst. Seit dem mittleren 13. Jahrhundert setzte sich dieses Modell europaweit durch."


    Was Staat und Kapital angeht, kann man hier nicht sagen, dass eins dem anderen vorausging. Beide bedingten sich einander und entwickelten sich, aus einer Metaperspektive gesehen, parallel. Später wurde der Nationalstaat aber mythologisiert und eine geschichtliche Kontinuität eines Nationalvolkes konstruiert, die wohl im Altertum und im Mittelalter kein "Germane" oder "Deutscher" so empfunden haben mag.


    So gesehen bestand die Entwicklung der heutigen Nation einerseits aus einer kulturellen "Annäherung" sich ähnlich seiender kultureller Regionen, andererseits musste der bürgerliche Staat noch einiges hinzubuttern um ein einheitliches Nationalbewusstsein zu schaffen. Letztlich sind die heutigen großen Nationalstaaten aber reichlich abstrakt um zu ihnen jenseits einer nationalen Ideologie einen Bezug zu haben. Demgegenüber könnte man wohl das Heimatgefühl abgrenzen, das eine konkretere, regionale, wenn man so will kommunale Erfahrung ist.


    So gesehen könnte die Linke, wie es Tucholsky einst formulierte, der Rechten zumindest den Anspruch auf den Heimatbegriff streitig machen und emanzipatorisch ausrichten. Hierzu ist Tucholskys Abhandlung "Heimat" sehr lesenswert: http://www.textlog.de/tucholsky-heimat.html


    Ein Ausschnitt daraus:


    "Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ›national‹ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.

    Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands ... !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.

    Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.

    Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn ›Deutschland‹ gedacht wird ... wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.

    Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

    Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat."

  • Lieber ein Kurt Tucholsky :thumbsup: als ein Peter Decker.


    Gruß Wal

  • Hallo jialing


    Seit wann sind denn die Verhältnisse (Produktionsverhältnisse), die Menschen im Laufe ihrer Geschichte eingehen, von ihrem Willen abhängig?


    Bei Marx lese ich da anderes. Also im Grabe drehen sich Marx und Engels möglicherweise, aber nicht wegen einer Seuche, von der noch zu klären wäre, ob DIE Lohnarbeiter tatsächlich von ihr befallen sind.


    Liebe Grüße - Wat.


    Edit:


    "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesell-schaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseins-formen entsprechen.
    Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.
    " K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 8f.

  • Hallo Wat,
    so wie ich Marx verstanden habe, meinte er eine Nation ohne Staat, bestenfalls einen Reststaat, der sich aus der noch vorhandenen (d.h. noch nicht vollständig überwundenen) Klassenspaltung ergibt. Darunter verstehe ich weiterhin einen gesellschaftlichen Übergang an dessen Ende Klassenspaltung und Staat verschwunden sind. Wie man den Begriff Nation künftig interpretiert, wird sich zeigen.
    Gruß Jens

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