Neoliberale Indoktrination?

  • Linker Mainstream, wie er unter anderem auf den Nachdenkseiten verbreitet wird, verläuft nach dem Muster: „Nur ich/wir haben den Durchblick!“


    Wenn nur einige wenige Linke den „Durchblick haben“, was ist dann mit all den anderen Menschen?


    Es gibt drei Großtheorien, die versuchen, auf die Frage,„warum schweigen die Lämmer“ eine Antwort zu geben.
    Alle diese drei Großtheorien sind arrogant, elitär und damit auch misanthropisch, weil damit die meisten Menschen offen oder verdeckt verachtet werden.


    Erstens: „Wer hat uns verraten – die Sozialdemokraten!“
    Die Verratstheorie erklärt die Menschen zu bloßen „Massen“, zu „followern“ ohne eigenen Willen.
    Wo die „Führer“ vom rechten Pfad abweichen, da folgen ihnen angeblich alle "Massen" ins eigene Verderben – sei das 1914 in den Krieg, 1918 in die Kooperation mit der Reaktion, 1945 in die "Westbindung", später in den Balkankrieg, nach Afghanistan und nach Afrika und den Nahen Osten.
    Besonders beliebt ist die „SPD-Verratstheorie“ bei allen linken „Führungskonkurrenten“, die darüber enttäuscht sind, dass die "geistlosen Massen" lieber den Sozialdemokraten folgen als ihnen.


    Zweitens: Der CIA, die US-Imperialisten oder nur „die Wallstreet“ spielen Drahtzieher in aller Welt
    Die Drahtziehertheorie erklärt eine kleine Gruppe von Menschen für allmächtig. Wo früher ein Gott die Welt gelenkt hatte, sind nun die bösen Drahtzieher am Werk.
    Alle anderen Menschen sind notwendig und automatisch ihre geist- und willenlose Marionetten.
    Wo immer „Drahtzieher“ zum Aufstand aufrufen, dort riskieren angeblich die Menschenmassen blind und unselbständig ihr Leben - auf dem Alexanderplatz in der DDR, auf dem Platz des himmlischen Friedens in China, auf dem Tahrir-Platz in Ägypten, auf dem Taksim-Platz in der Türkei oder auf dem Maidan in der Ukraine – überall "ausländische Drahtzieher" am Werk.
    Wer erfolgreich zum Aufstand gegen den Feind aufrufen kann, der kann natürlich auch die Leute brav und ruhig halten.



    Drittens: BILD belügt und manipuliert die Leser.
    Diese Manipulations-Theorie wird schon in der Schule gelehrt. Unterrichtsziel ist dabei das Gefühl der eigenen Überlegenheit - sowohl der Überlegenheit über die Schreiberlinge der BILDzeitung und aller Mainstreampresse, wie der Überlegenheit über die tumben BILDleser.
    Diese Manipulationstheorie ist eine moderne Auflage des „Priesterbetrugs“ aus der Zeit der Aufklärung. Damals wurde die Gläubigkeit der Menschen und ihr Vertrauen in die Kirche mit "Priesterbetrug" erklärt. Heute wird die Unterwürfigkeit und das Vertrauen in Kapitalismus und bürgerlichen Staat mit den Lügen und dem Betrug der Massenmedien erklärt.
    Manipulations-, Lügen- und Betrugstheorie erklärt die Menschen für so geistlos und unintelligent, so dass sie ihre "Manipuliertheit" und damit ihre Interessenlage nicht durchschauen können.


    Und ich frage mich, wer denn die Adressaten dieser Botschaften sein sollen. Wer sollen die Empfänger sein, wenn doch alle neunmalklugen Verkünder der Wahrheit so weit "über der Masse stehen"?
    Wie überzeugend ist eine Verratstheorie, wenn sie nur darauf hinausläuft, sozialdemokratische "Führer" durch "revolutionäre Führer" zu ersetzen?


    Wie breitenwirksam kann eine Botschaft wirken, in der angeblich alle Rebellion und aller massenhafter Widerstand "von oben", von den Drahtziehern okkupiert und manipuliert wird?


    Wie erfolgreich können "Aufklärer" sein, die zunächst und vor allem ihre Zuhörer und Leser für zu blöd erklären, um die Propaganda von BILD oder SPIEGEL zu "durchschauen"?
    Reicht es also, einfach nur die Zeitung zu wechseln? Reicht es, statt SPIEGEL die "Junge Welt" oder die "Junge Freiheit" zu lesen?


    Ja, offenbar ist das das realistische Ziel dieser Aufklärer: Die Leute sollen ihre "Führer" und ihre Zeitungen wechseln.
    Die Alternative, die diese Aufklärer anbieten, heißt: Wir, "die Masse", sollen ein anderes Produkt kaufen, einem anderen Label folgen.
    Viel Spaß damit!


    Gruß Wal

  • Hallo Wal,
    das ist wohl im wesentlichen eine Bewußtseinskritik aber wie sinnvoll ist so was. Deine kritisierten Linken sind in der Regel bürgerliche Linke oder Staatssozialisten die sich in ihrem Handeln und Denken größtenteils in einem bestimmten Rahmen bewegen. Für sie, wie für alle anderen gilt, das man bei der Betrachtung der Wirklichkeit, nur deren äußere Erscheinung sieht. Egal aus welchem Umfeld man kommt, geht es nicht ohne die praktische und wissenschaftliche Auseinandersetzung um das Wesen der Wirklichkeit zu erkennen. Sicherlich erklären sich diese Linken die Wirklichkeit so, wie es ihrem Selbstverständnis entspricht. Das ist der Stand ihres Wissens. Aus diesem Grund werden die Vorwürfe von Arroganz bis Selbstherrlichkeit bei den Meisten ins Leere laufen. Immerhin kritisieren sie die kapitalistischen Verhältnisse und sind somit (zumindest einige) potenzielle Bündnispartner der Lohnarbeiter. Im schlimmsten Fall sind diese Linken für die Interessen der Lohnarbeiter unbrauchbar. Wer weis, wie solche Linke Dich oder mich sehen.
    Gruß Jens

  • Hallo Jens,
    mir ging es nicht darum, einzelne Leute zu kritisieren. Ja, es handelt sich bei den obigen Thesen um eine Ideologiekritik - du nennst es "Bewusstseinskritik".
    Das Problem, das ich sehe, ist, dass es grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen den hier kritisierten Denkansätzen und unserem eigenen Denken, bzw. dem Denken aller Linken gibt.
    Die grundlegende Gemeinsamkeit sehe ich dort, wo jemand meint, die Welt, und was sie im Innersten zusammenhält, aus einer einzigen Warte sehen und beurteilen zu können. Das ist die Warte des Universalgeistes, in die sich einzelne kluge Köpfe gerne hineinphantasieren - und je klüger sie sind, desto leichter phantasieren sie sich in die Rolle eines Universalgeistes.
    Ich denke/glaube allerdings, dass die Welt viel zu komplex geworden ist, als dass sie von einem einzelnen Kopf umfassend oder auch nur ausreichend verstanden und beurteilt werden kann.
    Die Rolle des Universalgeistes entspricht einem Angler, der einen einzelnen Haken ins Weltmeer wirft. Viel wird er damit nicht entdecken.
    Wahrheit ist keine Angelrute, sondern eher ein Netz, das viele Knoten und viele Ansichten enthält.


    Im Bochumer Programm wird gefordert bzw. darauf abgezielt, dass Alle über Alles entscheiden.
    Dieses Ziel hat die erkenntnistheoretische Grundlage, dass viele/alle Köpfe klüger sind als ein einzelner Kopf.
    Linkes Denken zielt meist auf "Einheit". Ich glaube, nicht Einheit, sondern Vielfalt macht die Emanzipationsbewegung stark.
    Gemeinsam handeln müssen wir wohl, aber es ist eine vielfältige Gemeinsamkeit, keine einheitlich-uniforme Gemeinsamkeit.
    Die linke Vorstellung, dass die "Massen" eigentlich/im Kern/generell dumm sind, bringt diese Linke immer in Konflikt mit der Selbstbestimmung der Menschen, macht diese Linke immer anfällig für diktatorische Lösungen. Die Vorstellung, dass "Einheit im Denken" anzustreben sei, führt notwendig in Totalitarismus.


    Diese Vorstellung, dass es im Denken auf Einheit und auf Einzelköpfe ankommt, verstärkt auch ständig den linken Frust über die Lohnarbeiter. Solange du mit einzelnen Lohnarbeitern sprichst, bekommst du nie befriedigende Antworten. Nur dort, wo es gelingt, die Köpfe zu vernetzen und zu kombinieren, dort wird auch ein hohes Niveau von Erkenntnis erreicht. Die Kapitalisten machen das längst. Ich habe selten erlebt, dass Linke versuchen, die Köpfe zu vernetzen. Ich denke, hier liegt die Wurzel der linken Einflusslosigkeit.


    Kurz: Ich denke, solange die arroganten Linken ihr Überlegenheitsgefühl nicht ablegen, solange sie die "Massen" für blöde halten, solange sind sie als (Bündnis)Partner für die Lohnarbeiter wenig nutze.


    Übrigens hatte sowohl die Weltwirtschaftskrise von 1929, dann der Sieg des Faschismus über Europa, der Hitler-Stalin-Pakt, und zuletzt der Zusammenbruch des Sowjetsystems zu einem tiefen Einbruch im Selbstverständnis und in der Selbstgewissheit der (linken) "Intellektuellen" geführt. Keines dieser Ereignisse hatten die diese Intellektuellen vorgesehen. Auf keines dieser Ereignisse waren sie vorbereitet und für keines dieser Ereignisse wussten sie eine überzeugende Antwort.
    Im kleinen wiederholt sich dieses linke Versagen mit jedem "schwarzen Schwan", mit jedem ungewöhnlichen Ereignis: siehe die Niederlage des arabischen Frühlings, siehe Maidan, siehe die russische Besetzung der Krim, siehe Islamischer Staat, siehe die FLüchtlingskrise usw.
    Mit dem Starkreden des Reformismus, des Imperialismus, der Drahtzieher und der Manipulatoren, wird die eigene Schwäche, der Mangel an eigenem Durchblick schöngeredet.


    Gruß Walu

  • Hallo Wal,
    ich glaube, das jeder der ehrlich zu sich selbst ist versteht, das man das gesamte Wissen der Menschheit, nicht in einen einzigen Menschen konzentrieren kann. Dann wäre er besser und leistungsfähiger als jeder Computer. Natürlich gibt es jede Menge Leute, die sich der "großen Masse" überlegen fühlen und darum genau wissen, was gut und richtig für andere ist. Das gibt es aber sicherlich in allen menschlichen Gesellschaften und ist keine Erfindung der Linken. Auch Kapitalisten und deren Manager werden ein Überlegenheitsgefühl haben. Sie drücken es vielleicht anders aus, letztlich sehen sie aber auch auf Untergebene und "Habenichtse" herab. Das Kapitalisten das kombinierte Wissen und Können der Lohnarbeiter in der Kapitalverwertung nutzen, bedeutet nicht, das sie darum nicht elitär sind.
    Die elitäre Linke wird wahrscheinlich die Gegebenheiten der Gesellschaft durch ihre Brille sehen und dabei entdecken sie z.B. Ausbeutung, Imperialismus, Manipulation, Krieg u.v.a. Daraus zimmern sie sich ein Weltbild, das dann auch die Lohnarbeiter zu verstehen haben, nur sind die "Stur und Träge und begreifen nix".
    Diese "arroganten Linken" werden wohl kaum freiwillig und ohne Anlaß von ihrer Arroganz lassen. Die Veränderung wird wohl auch hier mit dem Verändern der Verhältnisse einhergehen. Es wird nicht erst bessere Menschen geben und dann bessere Verhältnisse.
    Gruß Jens


  • "BILD belügt und manipuliert die Leser."

    Daran haben mal linke Intellektuelle so fest geglaubt, dass sie sich nicht gefürchtet haben die Lieferwagen der Bildzeitung in Brand zu setzen. Wer heute - ob als Linker oder sonst wer - noch an die p o l i t i s c h e Manipulierbarkeit der Lohnarbeiter glaubt, der hat nicht mitbekommen, dass es sich genau umgekehrt verhält, dass die herrschende Politik nämlich genau das ist, was jene wollen. Weshalb in unseren Landen Politik ja auch so schön reibungslos funktioniert. Ja, manchmal, wie in Sachen Pegida oder AfD, sind die Lohnarbeiter ihren Politikern sogar voraus, die nehmen diese nämlich hinsichtlich ihres offiziell propagierten Nationalismus beim Wort und machen Ernst damit.


    Warum Menschen, trotz aller Offensichtlichkeit, dass die ihnen vorgetragene Herrschaft unaufhörlich mit Krieg, Armut und Not schadet, alles mitmachen, lässt sich damit beantworten, dass sie sich dennoch einen (nationalen) Vorteil versprechen, weil sie sich einbilden, dass es ihnen gut geht oder besser ginge wenn ihre Nation sich gegen die andern durchsetzt. Gegen diese Blödheit niemals ernsthaft (wissenschaftlkiche) Aufklärung betrieben zuhaben, ist der große Fehler der offiziellen Linken, bis in die radikale Linke hinein, gewesen. Denn nur sie allein kann anhand des ihr zur Verfügung stehenden Wissens, den nationalen Unfug als einen Weg in die Barbarei nachweisen. Stattdessen aber strebt sie lieber unter dem Label "sozial" nach Macht im Vaterland. Weil sozial mit kapitalistischen Bedingungen auf Dauer aber unverträglich ist, diskreditiert sie, ähnlich wie er reale Sozialismus zu andern Zeiten, die radikale antinationale Kritik (wie generell die radikale linke bzw. marxistische Kritik) und stärkt damit den Nationalismus, der ihr wohl irgendwann den Garaus machen wird (s. Frankreich, wo bis jetzt ca. 30% Gewerkschaftler von der PS zum FN übergelaufen sind).

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