Pierre Ramus' Kritik am Marxismus

  • Ich bin neulich auf einen Text gestoßen, der vom österreichischen Anarchisten Pierre Ramus geschrieben wurde und sich gegen den Marxismus als "reaktionäre" Ideologie und verfälschten Sozialismus wendet.



    Sowohl von der Form als auch vom Inhalt her kann ich dem Text nichts abgewinnen. Die Kritik zieht völlig vorbei und Ramus hat Marx offensichtlich schlecht gelesen, wenn denn überhaupt. Da ich aber selbst das Kapital immer noch nicht gelesen habe und Wirtschaftswissenschaften mein wohl schwächstes Gebiet sind, gibt es dennoch ein paar Punkte, bei denen ich mir nicht sicher bin, wie ich darauf antworten soll, weshalb ich hier nach ein paar weiteren Meinungen fragen möchte, angefangen mit dem Wert von Land:


    Pierre Ramus wrote:

    Die Grundlehre des „Kapital“ bildet „die Werttheorie“. Marx behauptet mit derselben, daß das Maß der menschlichen Arbeit den Wert aller Dinge bestimme. Dabei übersah Marx zunächst, daß bereits vor Beginn der Arbeit die Herstellungs- und Erlangungskosten der Erlaubnis zu der Produktion vom Kapital erworben werden müssen, und daß in allen Dingen der Wert einer großen Vorarbeit vergangener Geschlechter mit enthalten ist. An einigen Beispielen kann man leicht erkennen, wie falsch die Werttheorie ist. Ein Stück Land wird nicht dadurch wertlos, daß es brachliegt, also keine menschliche Arbeit in demselben verkörpert wird. Oft ist vielmehr ein Stück unbebautes Land weit teurer im Werte als ein anderes gleich großes Stück bebautes Land in anderer Stelle. Hier spielten die örtlichen Verhältnisse, die kapitalistische Spekulation, die entscheidende Rolle.


    Meine Vermutung ist, dass Land keine kapitalistisch produzierte Ware ist, sondern ein bereits vorhandenes Gut. Die Werttheorie gilt dennoch für reproduzierbare Waren. Gab es überhaupt in Marx' (oder generell in der klassischen) Nationalökonomie einen objektiven Wertmaßstab für Land oder spielen hier tatsächlich, wie Ramus sagt, "die örtlichen Verhältnisse, die kapitalistische Spekulation, die entscheidende Rolle"?
    Weiterhin wären da noch die Zusammenbruchs- und Verelendungstheorie:
    Pierre Ramus schrieb:

    Abgesehen von den absurden Seitenhieben à la "Eine solche Vertröstung ist aber geeignet, die Arbeiterschaft vom Klassenkampf abzuhalten" - ich hab die Verelendungs- und Zusammenbruchstheorie immer als Tendenz verstanden und nicht als notwendige Entwicklung - das heißt ohne Klassenkämpfe, ohne aktive Politik tendiert die Arbeiterklasse zur Verelendung und konzentriert sich das Kapital immer weiter. Dass wir heute zum Beispiel Sozialgesetze haben, haben wir nicht der Nächstenliebe der Kapitalisten zu verdanken, sondern das war eine historische Errungenschaft der deutschen sozialistischen Bewegung.


    Pierre Ramus wrote:

    Noch offenkundiger wird die Unwissenschaftlichkeit des Marxismus in bezug auf die Konzentrationstheorie dadurch, dass Marx bei allen seinen Untersuchungen die Agrikultur nicht berücksichtigt hat. Damit hat Marx gerade die Hauptseite der Wirtschaft ignoriert, aus dem Grunde schon wären alle seine Hypothesen null und nichtig, weit das industrielle Kapital nur eine sekundäre Erscheinung, die landwirtschaftliche Produktion aber die elementare Form jeglicher Produktion überhaupt ist. Zunächst muß doch mal der Mensch essen, also landwirtschaftliche Produkte haben, erst dann kann er weben, Maschinen bauen, produzieren. Und letzten Endes haben alle Mittel zur Produktion, wie Häuser, Maschinen, Rohprodukte, ihren Ursprung in der Landwirtschaft. Marx machte sich die Sache sehr einfach, er übertrug die angebliche kapitalistische Tendenz unbesehen auf die Landwirtschaft. In der Landwirtschaft tritt es aber noch viel klarer zutage wie in der Industrie, daß diese angebliche Tendenz eine Fabel ist. Die Entwickelung beweist uns nämlich, daß in der Landwirtschaft der Großbetrieb dauernd zurückgeht, während der Kleinbetrieb blüht und gedeiht, und zwar trifft dies für alle Länder in gleicher Weise zu.


    So lehrt uns die Berufszählung für Deutschland vom Jahre 1907, daß die Zahl der Parzellen und Kleinbetriebe (also die unter 2 ha) seit 1895 um rund 142 000 gestiegen ist. Die der Kleinbauern (2-5 ha) verlor allerdings 10000, aber nur, indem der eigentliche Mittelstand des Bauerntums (5- 20 ha) um volle 67000 zunahm. Dagegen verloren die großbäuerlichen Betriebe (20-100 ha) fast 20000, und der Großgrundbesitz (über 100 ha) 1500, das heißt rund 6 Proz. aller in Deutschland vorhandenen Großgrundbesitzbetriebe. Diese tatsächliche Entwickelung von 12 Jahren, eine Entwickelung, die aller marxistischen Theorie ins Gesicht schlägt, vollzieht sich in derselben Weise weiter. In anderen Ländern, wie Ungarn, vollzieht sich eine gleiche Entwickelung in noch stärkerem Maße, überall in allen Ländern geht die Landwirtschaft zum Kleinbetrieb über. Wie rationell der Kleinbetrieb arbeitet, kann man an China sehen, wo der Boden unter alle Familien des riesigen Volkes ungefähr gleich aufgeteilt ist, dort ist Feldwirtschaft beinahe überflüssig geworden, es wird eine so rationelle Gartenkultur getrieben, daß 1 ha Land 10 Personen ernährt.


    So schafft die ökonomische Entwickelung die Vorbedingungen jener Kultur der kommunistischen Zukunft, deren Grundzüge im Gartenbau und Gartenbewirtschaftung, in Verbindung mit unserer hohen elektro-maschinellen Technik ihren Ausdruck finden werden. Das erstrebenswerte Ziel ist ein freies selbständiges Land- und Industrievolk anstatt der marxistischen industriellen und landwirtschaftlichen Armeen.


    und:


    Pierre Ramus wrote:

    Den letzten Teil der Zusammenbruchstheorie bildet die Krisentheorie


    Die Voraussage von Marx, daß sich die ungefähr 10 jährigen Krisen der kapitalistischen Produktion immer häufiger und immer heftiger einstellen müßten, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. Der Kapitalismus hat es vielmehr verstanden, durch Bildung von Kartellen und Trusten diese Krisenbildung zu verringern. Es trifft aber auch nicht zu, daß die jeweils einsetzenden Krisen das kapitalistische System schwächen, bis schließlich dadurch die ganze kapitalistische Produktionsweise unmöglich wird, sondern die Krisen erwiesen sich als Ereignisse, die die kapitalistischen Produktionsverhältnisse immer wieder regenerierten, wenn die Planlosigkeit in der kapitalistischen Produktion überhand genommen hatte. Wenn jetzt die kapitalistische Wirtschaft am Ende ihres Lateins angelangt ist, so vollzieht sich dies nicht in der von Marx vorgesehenen Form, sondern der Kapitalismus ist gerade umgekehrt bankerott geworden durch Mangel an Kapital, Rohstoffen, Überschuldung.

    Hier weiß ich wirklich nicht, was ich zu den beiden Argumenten sagen soll. Ich denke man kann mir in diesem Forum am ehesten weiterhelfen, ich wäre für jede Antwort dankbar.

  • Hallo Alet,
    von Friedrich Engels gibt es das verärgerte Bonmot: "Wenn irgendein miserabler, unfähiger Kerl für sich Reklame will, so greift er Marx an." (MEW 37, 9).
    Dieser Reklamewert einer Marx-Kritik und auch die vielen Entstellungen der Marxschen Theorie durch den "Marxismus-Leninismus", die zur Kritik geradezu einladen, haben dazu geführt, dass die "Widerlegungen" der Marxschen Theorien ganze Bibliotheken füllen. Es ist eine Sisyphus-Arbeit, sich mit all den "Widerlegungen" von Marx zu befassen.


    Für mich steht aber fest: Marx wollte die Bewegungsgesetze des Kapitalismus verstehen und erklären. Das war sein Lebenswerk. Falls die Marxsche Kritik am Kapitalismus falsch und überholt ist, wenn Marx den Kapitalismus nicht richtig verstanden hat, dann bleibt nur die eine schlimme Schlussfolgerung: Der Kapitalismus ist nicht verstehbar, nicht erklärbar, nicht durchschaubar.


    Denn all diese Kritiken an Marx münden in geistigen Nebel. Alle diese Kritiken münden in die Undurchschaubarkeit der gesellschaftlichen Umstände die uns umgeben, in denen wir arbeiten und leben.


    Gegen diese schlimme Schlussfolgerung habe ich mich mein Leben lang gewehrt. Ich habe versucht, mein Verständnis des Kapitalismus, das auf den Theorien von Marx fußt, so verständlich wie möglich (für mich und andere) aufzubereiten und zu verbreiten. Ich habe versucht, die Marxsche Theorie aufzuzeigen anhand unserer Erfahrungen und mittels der Daten, die uns zur Verfügung stehen.
    Für Kritik an "Widerlegungen" fehlte mir die Zeit und die Lust.


    Ich werde trotzdem versuchen, so gut ich kann, auf die Thesen von Pierre Ramus zu antworten, aber dafür brauche ich etwas Zeit.
    Für den Anfang versuche ich mal einen Kernpunkt der Marxschen Werttheorie anhand der "Arbeitszettel" aufzuzeigen, die derzeit unter Linken wieder Anhänger finden.


    Nehmen wir eine Gesellschaft mit 10 Personen (es können auch 10.000 oder 10 Millionen sein).
    In dieser Gesellschaft tragen 3 Arbeiter je 5% zur gesamten Arbeitsleistung bei.
    4 Arbeiter tragen je 10% zur Gesamtarbeit bei.
    3 Arbeiter tragen je 15% zur Gesamtarbeit bei.
    Ihr gesamtes Arbeitsprodukt in der Lebensmittelbranche betrage zum Beispiel 1.000 Tonnen (Äpfel, Kartoffeln, Gemüse etc.)
    Von diesen 1000 to erhielten die ersten drei Arbeiter je 5% = 50 to.
    Die Vier erhielten je 10% = 100 to.
    Die restlichen drei Arbeiter erhielten je 15% = 150 to.
    Das ist das Ergebnis des ersten Jahres. Im folgenden Jahr wären die Witterungsbedingungen ungünstig, so dass bei gleichem Arbeitseinsatz die Gesamternte nur 800 to betrüge.
    Deshalb erhielten die ersten drei Arbeiter je 40 to.
    Die Vier erhielten je 80 to.
    Und die letzten drei Arbeiter erhielten je 120 to.


    Im ersten Jahr haben wir einen Gesamtprodukt von 1000 to. Im zweiten Jahr ein Produkt von 800 to. Die Arbeitszeit hatte sich jedoch nicht geändert. Also erhalten wir das Ergebnis, dass dieselbe Arbeitszeit einen "Wert" von 1000 oder auch von 800 Tonnen Lebensmittel schafft. Das wird dann als Einwand gegen die Arbeitswerttheorie gesehen.


    Es kommt noch besser: Denn die obige "sozialistische" Gesellschaft mit "Arbeitszetteln" ist nichts anderes als das Modell der kapitalistischen Produktionsweise - nur dass im Kapitalismus die Austauschenden keine Arbeiter, sondern Kapitalisten sind, die an dem, von den Lohnarbeitern geschaffenen Gesamtwert anteilmäßig je nach ihrem Kapitaleinsatz partizipieren.


    Das sieht analog zu obigem Modell so aus:
    Die drei Kapitalisten, denen insgesamt 15% des gesellschaftlichen Gesamtkapitals gehört, erhalten 15% des Gesamtwertes.
    Die vier Kapitalisten mit insgesamt 40% des Gesamtkapitals erhalten 40% des Gesamtwertes.
    Die letzten drei Kapitalisten mit insgesamt 45% des Gesamtkapitals erhalten 45% des Gesamtwertes.
    Siehe dazu im Marx-Lexikon das Stichwort "Durchschnittsprofitrate"
    http://marx-forum.de/marx-lexi…on_d/durchschnittspr.html


    Innerhalb dieses Austauschs ist weder der gesellschaftliche Gesamtwert, noch der auf einzelne Mitglieder verteilte Wert eine definierbare, absolute Größe. Der Gesamtwert und so auch der Wert jeder einzelnen Ware schwankt und ändert sich je nach der vorhandenen Arbeitsproduktivität. Diese wiederum ist von vielen Faktoren abhängig. Im Großen und Ganzen ist "Wert" der unsichtbare Schwerpunkt, um den die sichtbaren Preise auf- und abschwanken.


    Kritiker der Werttheorie unterstellen jedoch, dass der Wert einzelner Waren wie der Gesamtproduktionswert aller Waren messbare und sichtbare Größen sein müssten. Messbar und sichtbar ist aber nur der Preis der Waren. Alle diese Kritiker der Arbeitswerttheorie kennen keinen Unterschied von Preis und Wert. Sie gehen von einer Identität von Preis und Wert aus, und stellen anhand empirischer Daten über Preisbewegungen fest, dass sich die Warenpreise oft irrational bewegen, dass man im einen Jahr für dasselbe Geld 1000 to Lebensmittel kaufen kann und im folgenden Jahr nur 800 to.
    Die Kritiker behaupten dann, dass diese Preisbewegungen keine sinnvollen Rückschlüsse auf einen dahinter vermuteten Wert zulassen.


    „Der Gebrauchswert drückt die Naturbeziehung zwischen Dingen und Menschen aus, ist in der Tat das Dasein der Dinge für den Menschen. Der Tauschwert ist ... das gesellschaftliche Dasein der Dinge.“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert III, MEW 26.3, 291.
    Heißt: "Wert" ist zunächst und vor Allem der relative Anteil der gesellschaftlich üblichen/notwendigen Gesamtarbeitszeit, der auf eine bestimmte Warensorte fällt. Diese einfache Wertbestimmung wird allerdings im modernen Kapitalismus durch die Durchschnittsprofitrate verkompliziert:
    „Dasein und Begriff des Produktionspreises und der allgemeinen Profitrate, die er einschließt, beruhen darauf, dass die einzelnen Waren nicht zu ihrem Wert verkauft werden.
    Die Produktionspreise entspringen aus einer Ausgleichung der Warenwerte, die, nach Rückerstattung der jeweiligen, in den verschiedenen Produktionssphären aufgezehrten Kapitalwerte, den gesamten Mehrwert verteilt, nicht im Verhältnis, worin er in den einzelnen Produktionssphären erzeugt ist und daher in ihren Produkten steckt, sondern im Verhältnis zur Größe der vorgeschossenen Kapitale.
    Nur so entspringt ein Durchschnittsprofit und der Produktionspreis der Waren, dessen charakteristisches Element er ist.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 769.


    Siehe dazu im Marx-Lexikon "Wert und Preis"
    http://www.marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_p/preis.html


    Soweit erstmal von mir.
    Wal

  • Pierre Ramus wrote:

    Die Grundlehre des „Kapital“ bildet „die Werttheorie“. Marx behauptet mit derselben, daß das Maß der menschlichen Arbeit den Wert aller Dinge bestimme. Dabei übersah Marx zunächst, daß bereits vor Beginn der Arbeit die Herstellungs- und Erlangungskosten der Erlaubnis zu der Produktion vom Kapital erworben werden müssen, und daß in allen Dingen der Wert einer großen Vorarbeit vergangener Geschlechter mit enthalten ist. An einigen Beispielen kann man leicht erkennen, wie falsch die Werttheorie ist. Ein Stück Land wird nicht dadurch wertlos, daß es brachliegt, also keine menschliche Arbeit in demselben verkörpert wird. Oft ist vielmehr ein Stück unbebautes Land weit teurer im Werte als ein anderes gleich großes Stück bebautes Land in anderer Stelle. Hier spielten die örtlichen Verhältnisse, die kapitalistische Spekulation, die entscheidende Rolle.


    Hallo Alet,
    zur Werttheorie habe ich oben ein paar Hinweise geschrieben. jeder Ansatz, der "an einigen Beispielen" erkennen will, "wie falsch die Werttheorie ist" verwechselt Preis mit Wert. Diese Verwechslung verrät sich auch, wenn Begriffe wie "teurer" oder "kapitalistische Spekulation" verwendet werden.
    Wer keinen Unterschied macht zwischen "Preis" und "Wert", aber die Marxsche Werttheorie kritisieren will, der kritisiert etwas, von dem er keine Ahnung hat.


    Pierre Ramus wrote:

    Die Zusammenbruchs-Theorie
    Mit derselben behauptet Marx, daß der Kapitalismus an seinen eigenen Entwicklungsprodukten auf Grund feststehender ökonomischer Gesetze zugrunde geben müsse. Dies wäre nun zwar gut und schön, wenn es richtig wäre, es ist aber nicht richtig, sondern falsch. Eine solche Vertröstung ist aber geeignet, die Arbeiterschaft vom Klassenkampf abzuhalten, sie führt zum Fatalismus, und ist deshalb ein Verbrechen.


    Zur angeblichen "Zusammenbruchstheorie" siehe im Karl Marx-Forum:
    http://marx-forum.de/marx-lexi…ikon_z/zusammenbruch.html



    Pierre Ramus wrote:

    Die Verelendungstheorie
    Diese besagt, daß im Maße, wie sich der Kapitalismus weiterentwickelt, die Lage des Arbeiters sich immer mehr verschlechtern muß, und gleichzeitig die industrielle Reserve-Armee, also das Heer der Arbeitslosen, immer größer wird. Nach dieser Theorie hätte in den 50 bis 60 Jahren industrieller Entwickelung nach Marx die industrielle Reserve-Armee schon die Mehrheit des Volkes bilden müssen, in Wirklichkeit ist sie aber nicht größer geworden, ihre Zahl schwankt wellenförmig um einen bestimmten Prozentsatz.


    Zur angeblichen "Verelendungstheorie" siehe im Karl-Marx-Forum:
    http://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_v/verelendung.html




    Pierre Ramus wrote:

    Den letzten Teil der Zusammenbruchstheorie bildet die Krisentheorie
    Die Voraussage von Marx, daß sich die ungefähr 10 jährigen Krisen der kapitalistischen Produktion immer häufiger und immer heftiger einstellen müßten, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. Der Kapitalismus hat es vielmehr verstanden, durch Bildung von Kartellen und Trusten diese Krisenbildung zu verringern. Es trifft aber auch nicht zu, daß die jeweils einsetzenden Krisen das kapitalistische System schwächen, bis schließlich dadurch die ganze kapitalistische Produktionsweise unmöglich wird, sondern die Krisen erwiesen sich als Ereignisse, die die kapitalistischen Produktionsverhältnisse immer wieder regenerierten, wenn die Planlosigkeit in der kapitalistischen Produktion überhand genommen hatte. Wenn jetzt die kapitalistische Wirtschaft am Ende ihres Lateins angelangt ist, so vollzieht sich dies nicht in der von Marx vorgesehenen Form, sondern der Kapitalismus ist gerade umgekehrt bankerott geworden durch Mangel an Kapital, Rohstoffen, Überschuldung.


    Es gibt keine eigene "Krisentheorie" von Marx. Vielmehr weist Marx nach, dass alle Entscheidungen und alle Wirkungen im Kapitalismus krisenhaft sind.
    Siehe dazu im Karl-Marx-Forum:
    http://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_k/krise.html


    Im Übrigen sind alle "Voraussagen von Marx" nichts weiter als wissenschaftlich begründete Prognosen. Dass solche Prognosen nicht zu 100% eingetroffen sind, nimmt Pierre Ramus als Beweis für die "Unwissenschaftlichkeit" der Marxschen Theorie. Dahinter steht ein falscher Wissenschaftsbegriff, der exakte Vorhersagen zum (Haupt)Kriterium von Wissenschaftlichkeit macht.


    Exakte Vorhersagen sind selbst für Physiker und für Chemiker nur im Experiment möglich, wo die einwirkenden Faktoren künstlich begrenzt werden. In der Wirklichkeit sind die einwirkenden Faktoren immer vielfältig und wirken aufeinander und gegeneinander. Man kann die Statik einer Brücke scheinbar exakt berechnen. Trotzdem wirken dann nach dem Brückenbau viele Faktoren eine Rolle, die in keiner Rechnung enthalten sind. Wissenschaftliche exakte Prognosen sind nur möglich im Experiment, nicht in der Wirklichkeit. Das gilt für alle Naturwissenschaften und erst recht für alle Humanwissenschaften.
    Kein Mensch erwartet von der Humanmedizin exakte Voraussagen für einen einzelnen Krankheitsfall. Trotzdem handelt es sich bei der Medizin um eine Wissenschaft. Wer von irgendeiner Wissenschaft, erst recht von der Humanmedizin (und von der politischen Ökonomie) exakte Vorhersagen erwartet, der hat keine Ahnung davon, was Wissenschaften leisten können und was nicht.


    Zu den Prognosen von Karl Marx siehe im Karl-Marx-Forum: "Da irrte Marx!"
    http://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_m/marx_irrtum.html


    Mein Resümee:
    Pierre Ramus kritisiert nicht die originalen Schriften von Karl Marx, sondern nur die fehlerhafte und entstellte Rezeption durch die marxistische Sozialdemokratie und durch den Marxismus-Leninismus. Aber diese Kritik von Ramus ist schülerhaft und falsch.


    Gruß Wal Buchenberg

  • Hallo Wal,
    danke, dass du dir die Zeit genommen hast, die Antworten sind nachvollziehbar. Dass Marx keine Krisentheorie hatte, wusste ich auch noch nicht, ich dachte er hätte Überproduktion als Ursache dafür gesehen?

  • Hallo Wal,
    Dass Marx keine Krisentheorie hatte, wusste ich auch noch nicht, ich dachte er hätte Überproduktion als Ursache dafür gesehen?

    Hallo Alet,
    freilich gibt es im "Kapital" viele Hinweise auf die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Und ja, den wesentlichen Grund für kapitalistische Krisen sieht Marx in der Überproduktion, die keine kaufkräftige Nachfrage mehr findet.


    Aber:
    "Marx hatte keine EIGENSTÄNDIGE Krisentheorie" - meint: Es gibt in den drei/vier Bänden des Kapitals kein eigenes Kapitel "Die kapitalistischen Krisen".
    Von linken Ökonomen wird allerdings Karl Marx hauptsächlich als "Krisentheoretiker" herausgestellt. Und in jeder Wirtschaftskrise tauchen vermehrt Marx-Zitate auf.
    Indirekt wird dadurch behauptet: Gäbe es keine Krisen, wäre die Kritik von Marx am Kapitalismus hinfällig und erledigt.


    Dass der Kapitalismus notwendig Krisen produziert ist aber nicht der Kern der Marxschen Kritik am Kapitalismus. Marx suchte nicht in den Krisen den Grund für Abschaffung des Kapitalismus, sondern in der Ausbeutung und Fremdbestimmung der Lohnarbeit. Das gesellschaftliche Ziel von Karl Marx war nicht eine krisenfreie Wirtschaft, sondern eine Wirtschaft, die sich von Ausbeutung und Fremdbestimmtheit emanzipiert hat, weil alle Gesellschaftsmitglieder Arbeiter sind und alle gemeinsam über die Zwecke und die Mittel ihrer Arbeit bestimmen.


    Die klassenlose Gesellschaft ist eine Gesellschaft „von Individuen, die vereint sind auf der Grundlage der gemeinsamen Aneignung und Kontrolle der Produktionsmittel. (Letztere Vereinigung ist nichts Willkürliches: sie setzt die Entwicklung materieller und geistiger Bedingungen voraus ...).“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 77.



    "Dies ist der sehr große Unterschied: Ob die vorhandenen Produktionsmittel den Arbeitern als Kapital gegenüberstehen, ... ob diese Produktionsmittel sie beschäftigen, oder ob sie, als Subjekte, die Produktionsmittel – im Akkusativ – anwenden, um Reichtum für sich selbst zu erzeugen.
    Natürlich ist dabei vorausgesetzt, dass die kapitalistische Produktion bereits die Produktivkräfte der Arbeit überhaupt zu der nötigen Höhe entwickelt hat, worauf diese Revolution eintreten kann.“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert II, MEW 26.2, 583.



    „Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.“ K. Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 342.



    Gruß Wal

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