Verelendung

1. Prinzipiell arm sind alle, die ohne eigene Existenzmittel leben müssen. Sie sind und bleiben von anderen abhängig

„In dem Begriff des freien Lohnarbeiters liegt schon, dass er ein Besitzloser ist, ein potenzieller Armer. Er ist seinen ökonomischen Bedingungen nach bloßes lebendiges Arbeitsvermögen, ... Bedürftigkeit nach allen Seiten hin, ohne objektives Dasein als Arbeitsvermögen zur Realisierung desselben. Kann der Kapitalist seine Mehrarbeit nicht brauchen, so kann er seine notwendige nicht verrichten; seine Lebensmittel nicht produzieren. Kann sie dann nicht durch den Austausch erhalten, sondern, wenn er sie erhält, nur dadurch, dass Almosen von der Revenue für ihn abfallen. Als Arbeiter kann er nur leben, soweit er sein Arbeitsvermögen gegen den Teil des Kapitals austauscht, der den Arbeitsfond bildet. Dieser Austausch selbst ist an für ihn zufällige, gegen sein organisches Sein gleichgültige Bedingungen geknüpft. Er ist also potenzieller Armer.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 497.

„... Die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 741f.

 

2. Als Besitzlose müssen Lohnarbeiter

Reichtum für andere schaffen

Anders als in allen vorherigen Gesellschaften beseitigt im Kapitalismus Arbeit also für die Arbeiter nicht die Armut (Besitzlosigkeit von Produktionsmitteln), sondern schafft nur immer neu den Gegensatz zwischen den Nichtbesitzenden (= Armen) und den Besitzenden (= Kapitalisten).

„Es ist nur in der auf das Kapital gegründeten Produktionsweise, dass die Armut erscheint als Resultat der Arbeit selbst, der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 497f.

„Von Tag zu Tag wird es somit klarer, dass die Produktionsverhältnisse, in denen sich die Bourgeoisie bewegt, nicht einen einheitlichen, einfachen Charakter haben, sondern einen widersprüchlichen; dass in denselben Verhältnissen, in denen der Reichtum produziert wird, auch das Elend produziert wird; ... dass diese Verhältnisse den bürgerlichen Reichtum, d. h. den Reichtum der Bourgeoisklasse, nur erzeugen unter fortgesetzter Vernichtung des Reichtums einzelner Glieder dieser Klasse und unter Schaffung eines stets wachsenden Proletariats.“ K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 141.

In Deutschland machen Kapitalisten rund 3 %, die produktiven Lohnarbeiter rund 77 % der Erwerbsbevölkerung aus. Die restlichen 20 % stellen unproduktive Lohnarbeiter („neue Mittelklasse“ – Staatsdiener und private Dienstleister) und selbstarbeitende Eigentümer (traditionelle Mittelklasse).

3. Relative und absolute Verelendung

3.1. Gemessen an dem Reichtum, den die Lohnarbeiter für das Kapital schaffen, werden sie immer ärmer

(„relative“ Verelendung)

Dieses Verhältnis zwischen der Armut der Lohnarbeiter und dem Reichtum der Kapitalisten bleibt aber nicht statisch, sondern hat eine eigene Dynamik durch die Akkumulation des Kapitals.

Der Arbeitsvertrag zwischen Lohnarbeiter und Kapitalist „bringt es mit sich, dass der Arbeiter, wenn die Konkurrenz ihm gerade erlaubt zu markten und streiten mit dem Kapitalisten, seine Ansprüche misst am Profit des Kapitalisten und einen bestimmten Anteil verlangt an dem von ihm geschaffenen Mehrwert; ... Ferner im Kampf der beiden Klassen – der sich bei Entwicklung der Arbeiterklasse notwendig einstellt – wird das Messen der wechselseitigen Distanz, die eben durch den Arbeitslohn selbst als Proportion ausgedrückt ist, entscheidend wichtig“. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 491.

„Das Arbeitsvermögen des Lohnarbeiters ... tritt nicht nur nicht reicher, sondern es tritt ärmer aus dem Prozess heraus, als es hereintrat. Denn nicht nur hat es hergestellt die Bedingungen der notwendigen Arbeit als dem Kapital gehörig; sondern die in ihm als Möglichkeit liegende Verwertung, ... existiert nun ebenfalls als Mehrwert, Mehrprodukt, mit einem Wort als Kapital ... Es hat nicht nur den fremden Reichtum und die eigene Armut produziert, sondern auch das Verhältnis dieses Reichtums als sich auf sich selbst beziehenden Reichtum zu ihm als der Armut, durch deren Konsum es neue Lebensgeister in sich zieht und sich von neuem verwertet.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 356f.

„Es zeigt sich hier, wie progressiv die objektive Welt des Reichtums durch die Arbeit selbst als ihre fremde Macht sich ihr gegenüber ausweitet und immer breitere und vollere Existenz gewinnt, so dass relativ, im Verhältnis zu den geschaffenen Werten oder den realen Bedingungen der Wertschöpfung die bedürftige Subjektivität des lebendigen Arbeitsvermögens einen immer grelleren Kontrast bildet. Je mehr sie sich – die Arbeit sich – objektiviert, desto größer wird die objektive Welt der Werte, die ihr als fremde – als fremdes Eigentum – gegenübersteht.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 359.

„Wir sahen ...: innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehen sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; ... Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daher, dass im Maße wie Kapital akkumuliert wird, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muss. Das Gesetz endlich, welches die Arbeitslosenarmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 674f.

 

3.2. Kapitalakkumulation schafft die ständige Tendenz,

den erreichten Lebensstandard zu drücken

(„absolute“ Verelendung)

„Da ferner die Bedingung der auf das Kapital gegründeten Produktion ist, dass der Lohnarbeiter immer mehr Mehrarbeit produziert, so wird immer mehr notwendige Arbeit frei. Die Chancen seine Armut vermehren sich also.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 497f.

Die Tatsache des „relativen Elends“ der Lohnarbeiter wird auch von bürgerlichen Wissenschaften kaum bestritten. Bestritten wird aber, dass es eine „absolute Verelendung“ der Lohnarbeiter gäbe oder gegeben habe. Dazu ist Folgendes zu sagen

a) Die absolute Verelendung misst sich immer an einem zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen und beliebig wählbaren Ausgangsniveau. Insofern ist auch die „absolute“ Verelendung immer nur relativ.

b) Die Tendenz zur absoluten Verelendung wirkt – ähnlich wie die Gravitation der Erde – im Zusammenspiel mit anderen Kräften: Die Tendenz zur absoluten Verelendung drückt das Lebensniveau der Lohnarbeiter in Richtung Existenzminimum wie die Erdanziehung jeden Körper zum Erdmittelpunkt zieht. Kein Physiker zieht aber aus der Tatsache, dass noch kein Körper auf der Erde den Erdmittelpunkt erreicht hat, den Schluss, dass es keine Erdanziehung gebe. Aber alle bürgerlichen Ökonomen argumentieren so: Weil die absolute Verelendung in ihrer vollen Wirkung nicht sichtbar werde, gebe es sie nicht.

c) In die Lage der Arbeiterklasse müssen auch die Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen, der Kranken, der Arbeitslosen und Rentner usw. mit eingerechnet werden. In staatlichen Statistiken wird aber immer nur das Lohnniveau der aktiven Arbeiter miteinander verglichen. Das zeigt dann vielleicht ein steigendes Niveau – und selbst das nicht immer.

d) Außerdem wird durch Kapitalexport Lohnarbeiterelend exportiert:

„Was die arbeitenden Klassen anbetrifft, so ist es eine noch sehr bestrittene Frage, ob ihre Lage sich infolge der Vermehrung ... Reichtums (der Bourgeoisie) verbessert hat. Wenn die Ökonomen uns als Stütze für ihren Optimismus das Beispiel der englischen Baumwollenarbeiter zitieren, so berücksichtigen sie deren Situation nur in den seltenen Momenten der industriellen Prosperität. ... Aber vielleicht haben die Ökonomen, wenn sie von Verbesserung sprachen, von den Millionen Arbeitern sprechen wollen, die in Ostindien umkommen mussten, damit den eineinhalb Millionen in der gleichen Indus-trie in England beschäftigter Arbeiter drei Jahre Prosperität auf zehn verschafft würden.“ K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 123.

Rund 15 Prozent der Lohnarbeiter, die von deutschem Kapital ausgebeutet werden, leben und arbeiten außerhalb Deutsch-lands. Siehe: Arbeitswelttrends - Kapitalexport

 

 

4. Armut gab es auch in allen früheren Gesellschaften

Nicht Armut und Verelendung ist die Haupttriebfeder zur Beseitigung von Kapital und Lohnarbeit, sondern Herrschaft

und Zwang der Kapitalisten über die Lohnarbeiter

und die ganze Gesellschaft

„Die mehr oder minder günstigen Umstände, worin sich die Lohnarbeiter erhalten und vermehren, ändern jedoch nichts am Grundcharakter der kapitalistischen Produktion.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 641.

„Unter den bisher unterstellten, den Arbeiter günstigsten Akkumulationsbedingungen kleidet sich ihr Abhängigkeitsverhältnis vom Kapital in erträgliche ... Formen. Statt intensiver zu werden mit dem Wachstum des Kapitals, wird es nur extensiver, ... Von ihrem eigenen anschwellenden und schwellend in Zusatzkapital verwandelten Mehrprodukt strömt ihnen ein größerer Teil in der Form von Zahlungsmitteln zurück, so dass sie den Kreis ihrer Genüsse erweitern, ihren Konsumtionsfonds von Kleidern, Möbeln usw. besser ausstatten und kleine Reservefonds von Geld bilden können. So wenig aber bessere Kleidung, Nahrung, Behandlung und ein größeres Peculium (anvertrautes Vermögen) das Abhängigkeitsverhältnis und die Ausbeutung des Sklaven aufheben, so wenig die des Lohnarbeiters. Steigender Preis der Arbeit infolge der Akkumulation des Kapitals besagt in der Tat nur, dass der Umfang und die Wucht der goldnen Kette, die der Lohnarbeiter sich selbst bereits geschmiedet hat, ihre losere Spannung erlauben.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 645f.

Engels 1885 im Rückblick auf 1845: „Und so hat die Entwicklung der kapitalistischen Produktion allein hingereicht, wenigstens in den leitenden Industriezweigen ... alle jene kleineren Beschwerden zu beseitigen, die in früheren Jahren das Los des Arbeiters verschlimmerten. Und so tritt mehr und mehr in den Vordergrund die große Hauptursache, dass die Ursache des Elends der Arbeiterklasse zu suchen ist nicht in jenen kleineren Übelständen, sondern im kapitalistischen System selbst.“ F. Engels, Anhang zu „Lage der Arbeiter“, MEW 21, 252.

Siehe auch die Artikel:

Akkumulation des Kapitals

Armut

Ausbeutung

Kapitalisten

Klassenlose Gesellschaft

 

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Zur Zitierweise:

Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er selbst hingewiesen: Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund Sterling bedeuten.“ Kapital II, MEW 24, 396.

Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff.