Etwas besseres als den Tod ...

  • Mehr als jede andere Messzahl gibt die allgemeine Lebenserwartung Auskunft über die Lebensverhältnisse einer Gesellschaft. Elend bringt niedrige Lebenserwartung mit sich, dem Wohlstand folgt hohe Lebenserwartung.
    Aus linker Sicht bringt Kapitalismus nur Elend. Dabei wird gerne übersehen, dass vorkapitalistische und halbkapitalistische Gesellschaften mehr und schlimmeres Elend produzieren als der entwickelte Kapitalismus.
    Aus Sicht fast der gesamten Menschheit ist der Kapitalismus ein sehr erfolgreiches System. Das zeigt mehr als alles andere der Vergleich der Lebenserwartung in verschiedenen Gesellschaften.



    In den ärmsten Ländern haben die Menschen ab Geburt eine Lebenserwartung von 60 Jahren. In den kapitalistischen Kernländern haben Neugeborene eine Lebenserwartung von 80 Jahren. Die Lebenserwartung ab Geburt ist erheblich von den medizinischen und hygienischen Bedingungen in den ersten Lebensjahren beeinflusst. In allen Regionen der Welt ist aber die Lebenserwartung der Neugeborenen seit 1990 gestiegen. Sie ist stärker gestiegen in den ärmsten Ländern. Dort betrug die Lebenserwartung von Säuglingen 1990 noch 52 Jahre, heute 60 Jahre (plus 8 Jahre). In den kapitalistischen Kernländern stieg die Lebenserwartung seit 1990 um vier Jahre auf 80.


    Eine andere wichtige Messzahl ist die verbliebene Lebenserwartung ab dem 60. Lebensjahr. Diese Alterslebenszeit hängt vor allem von der gesamten Arbeitsbelastung und Lebensführung im vorherigen Leben ab.
    In den ärmsten Ländern der Welt stieg die Lebenserwartung der 60jährigen seit 1990 nur um ein Jahr auf 77 Jahre. In den kapitalistischen Kernländern stieg die Lebenserwartung der 60jährigen seit 1990 um drei Jahre auf 84 Jahre.


    Diese Trends führen der ganzen Welt vor Augen: Der Kapitalismus bringt mehr als nur „Fäulnis“ (Lenin). Das mag beim Blick in unsere Zukunft anders aussehen, aber für die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart widerlegt diese Faktenlage jede ahistorische Kapitalismuskritik,
    meint Wal Buchenberg


    Quelle: http://www.who.int/gho/publica…_statistics/en/index.html

  • Die Frage, die sich an deine These anschliesst, Wal, ist: Wieviel von dem, das sich "im" Kapitalismus ereignet, ist "ihm" anzulasten oder gutzuschreiben? Der Gedanke, dass "das System",im guten wie schlechten, ALLES im Leben der Menschen leistet - oder besser, dafür sorgt, dass aus ihrer Leistung überhaupt etwas Förderliches für sie wird - diese Idee stammt von den Protagonisten des Kalten Krieges. Was sich da äussert, ist aber eher ein nicht auf Natur und Welt als ganzes, sondern das Soziale, Politische, Ökonomische bezogener religiöser Glaube: Wähle das richtige System, und (beinah) alles wird (unbestimmt wie) optimal - unter den gegebnen Umständen. - Zurecht machst du eine Andeutung darüber, dass sich an den Errungenschaften der Epoche etwas ändern könnte: Sie könnten sich als nicht nachhaltig erweisen; der Fortschritt ein EXTREM kurzsichtig entfachtes Strohfeuer, das nachfolgenden Generationen (und vergangenen wie zeitgenössischen wie zukünftigen in der "Peripherie") mörderische Lasten hinterlässt.
    WIE wird übrigens jenseits der 60 oder 70 gelebt - setzt sich der formale Zugewinn an Lebenszeit auch in Erlebenswertes um (vom Aufwand bis Terror der Medikalisierung der ganzen Existenz zu schweigen).
    Längst ist in den "Kernländern" die Hoffnung auf Lebensverlängerung in Panik umgeschlagen: Mit seitenlangen Patientenerklärungen suchen sich die Betroffenen gegen den wahnwitzigen Zugriff der "Gesundheits"-Maschinerie auf ihren Körper zu sichern.
    Zu den "Zivilisations-Alterskrankheiten" folgende Meldung, die ich heute im Ticker gesehen habe: Eine (wieder mal viel zu kleine) Studie deutet auf einen Zusammenhang zwischen stabilen DDT-Abbauprodukten im Blut von Patienten und Alzheimer (im Schnitt bei letzteren 4fach erhöht gegenüber der Kontrollgruppe); an Neuronen-Zellgruppen im, Labor stimulieren diese Substanzen die Produktion des Alzheimer-Proteins; beachtlich immerhin:
    «Die Stärke des Effekts ist auffallend groß, sie gleicht der des verbreitetsten Gen-Faktors bei der späten Ausbildung von Alzheimer.» Der medizinische Kommentar merkt an, dass die neurotoxische Wirkung unsüpezifisch sei, und ebenso sich auf die Disposition zu Parkinson und Schlaganfall auswirken könne: Allerdings so wie immer: Es ist EIN Faktor unter vielen... (Tja da weiss man natürlicih nix genaues, bevor man es nicht GANZ GENAU weiss...)
    Vor kurzem las ich: Alle Metastudien zur Entstehung der Arteriosklerose deuten auf einen bislang unbekannten Faktor X hin, der für 50% des Gesamt-Krankheitsrisikos (alles andre aufgeschlüsselt in die bekannten Risikofaktoren, hat also gleiches Gewicht) verantwortlich sei. Man tippt auf Feinstaub. Feinstaub-Partikel dringen durch die Lungenbläschen-Wände und sorgen für PRIMÄR-Läsionen an Endothel- (also Blut-Gefässwand)-Zellen.


    Wer ist jetzt für sowas "verantwortlich"?
    Der Kapitalismus?

  • Der Gedanke, dass "das System",im guten wie schlechten, alles im Leben der Menschen leistet - oder besser, dafür sorgt, dass aus ihrer Leistung überhaupt etwas Förderliches für sie wird - diese Idee stammt von den Protagonisten des Kalten Krieges. Was sich da äussert, ist aber eher ein nicht auf Natur und Welt als ganzes, sondern das Soziale, Politische, Ökonomische bezogener religiöser Glaube: Wähle das richtige System, und (beinah) alles wird (unbestimmt wie) optimal - unter den gegebnen Umständen.


    Hallo Franziska,
    nein, der "Systemvergleich" ist keine Erfindung des Kalten Krieges. Jeder Urlauber, der irgendwo außerhalb Europas landet, macht einen Systemvergleich, und jeder Afrikaner, Südamerikaner oder Asiate, der die EU oder die USA besucht. Genau genommen ist jeder Systemvergleich nur ein Ausfluss und eine andere Form der Konkurrenz. Länder stehen als Produzenten miteinander in Konkurrenz wie Kapitalisten. Länder stehen als Konsumenten in Konkurrenz zueinander wie Nachbarn.
    Theoretisch auf den richtigen Punkt gebracht, hat zuerst Adam Smith den "Systemvergleich": „Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird, die es im Jahr über verbraucht. ... Ein Volk ist daher um so schlechter oder besser mit allen Gütern, die es braucht, versorgt, je mehr oder weniger Menschen sich in den Ertrag der Arbeit ... teilen müssen. ...
    Zwei Faktoren bestimmen nun in jedem Land diese Pro-Kopf-Versorgung: Erstens die Produktivität der Arbeit ... und zweitens das Verhältnis der produktiv Erwerbstätigen zur übrigen Bevölkerung. Von beiden Umständen muss es jeweils abhängen, ob in einem Land das Warenangebot im Jahr über reichlich oder knapp ausfällt ....
    Überfluss oder Mangel an Gütern dürfte vorwiegend von der Produktivität der Arbeit abhängen. In primitiven Völkern ist jeder Arbeitsfähige zumeist als Jäger oder Fischer mehr oder weniger nützlich tätig. ... Solche Völker leben jedoch in so großer Armut, dass sie häufig aus schierer Not gezwungen sind ... Kinder, Alte und Sieche bedenkenlos umzubringen oder auszusetzen. ...
    In zivilisierten und wohlhabenden Gemeinwesen ist das Sozialprodukt hingegen so hoch, dass alle durchweg reichlich versorgt sind, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht arbeitet und viele davon den Ertrag aus zehn-, häufig sogar hundertmal mehr Arbeit verbrauchen als die meisten Werktätigen. Selbst ein Arbeiter der untersten und ärmsten Schicht, sofern er genügsam und fleißig ist, kann sich mehr zum Leben notwendige und angenehme Dinge leisten, als es irgendeinem Angehörigen eines primitiven Volkes möglich ist.“ Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, Einführung. 1789.
    (Das ganze Buch "Wohlstand der Nationen" kreist um die Frage des Systemvergleichs).

    WIE wird übrigens jenseits der 60 oder 70 gelebt - setzt sich der formale Zugewinn an Lebenszeit auch in Erlebenswertes um (vom Aufwand bis Terror der Medikalisierung der ganzen Existenz zu schweigen).
    Längst ist in den "Kernländern" die Hoffnung auf Lebensverlängerung in Panik umgeschlagen: Mit seitenlangen Patientenerklärungen suchen sich die Betroffenen gegen den wahnwitzigen Zugriff der "Gesundheits"-Maschinerie auf ihren Körper zu sichern.


    Du willst doch nicht allen Ernstes den 6 Milliarden Menschen, die außerhalb der kapitalistischen Kernzone leben und eine Lebenserwartung von unter 70 Jahren haben, einreden wollen, es sei für sie gar nicht erstrebenswert 80 Jahre oder älter zu werden, weil ihnen dann irgendwelche "Zivilisationskrankheiten" drohen? Du willst doch nicht allen Ernstes der Milliarde Menschen im entwickelten Kapitalismus einreden wollen, dass ihre lange Lebenserwartung ein Unglück sei, und sie besser mit 70 in Gras beißen sollen?
    Diese Menschen der kapitalistischen Peripherie kommen gar nicht in die Lage, sich gegen die medizinische Überversorgung im entwickelten Kapitalismus entscheiden zu können. Sie würden diese Entscheidungsmöglichkeit aber sicherlich als eine große Verbesserung ihrer Situation empfinden.
    Gruß Wal

  • Sollen wir, Wal, allen Ernstes aus Smiths generellen Hinweisen auf Voraussetzungen der PHYSISCHEN Reichtumsmehrung (in Gestalt der produktiv Tätigen in Relation zur Gesamtbevölkerung UND der Produktivität von deren Arbeit) ein Lob auf Kapitalismus als ökonomisches und Herrschaftsverhältnis ableiten? Sollen wir darin vor allem eine grossartigen Reichtums-Produktionsmaschine erkennen - so grossartig, dass " ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht arbeitet und viele (!) davon den Ertrag aus zehn-, häufig sogar hundertmal mehr Arbeit verbrauchen als die meisten Werktätigen"?
    Smith' Lob besagt: Der moderne (so nenne ich ihn mal, um den Unterschied zu markieren) gesellschaftliche Reichtum ERLAUBT Einkommens- und Vermögensunterschiede, die in vormodernen Gesellschaften undenkbar waren. Das Umgekehrte hat er nicht behauptet. Vielmehr beweist er Feinsinn genug, die wahre Quelle dieser Unterschiede beim Namen zu nennen: Den genügsamen und fleissigen Arbeiter - er sagt, der untersten und ärmsten Schichten, ich beziehe mal die Lohnabhängigen (Smith sagt (in der Übersetzung): die "Werktätigen") auf höheren Positionen der Lohnhierarchie mit ein - der NIE nach da oben hinschaut, dahin, wo der Ökonom seine Vergleiche anstellt, sondern immer nur bescheiden UNTER sich, und dann seine Zufriedenheit daraus bezieht, dass es doch welche auf der Welt gibt, die noch schlechter dastehn.
    Und wenn du mich schon fragst, würde ich sagen: WEDER die in der Peripherie (die doch wo immer das möglich war, längst dem Weltmarkt unterstellt ist - die enclosures finden doch heute ihre Fortsetzung bis in den letzten Weltwinkel) NOCH die in der Metropole kommen derzeit in die Lage, sich grundsätzlich für oder gegen etwas entscheiden zu können, ja auch bloss ihre Lage BEURTEILEN und für Entscheidungen nötiges WISSEN sich aneignen zu können.
    Könnten sie es, würden sie vernünftigerweise sagen: WEDER NOCH. (Und NOCH wird nicht gut, weil WEDER nichts taugt.)


    Das Problem ist im übrigen nicht "Überversorgung", sondern eine Lebensform, die chronisch krank macht, SPÄTESTENS im Alter, und auch aus diesem Elend, wie aus aller Bedürftigkeit, gleich welcher Quelle, ein GESCHÄFT - oder eine Last für Staat und Standort.

  • Sollen wir, Wal, allen Ernstes aus Smiths generellen Hinweisen auf Voraussetzungen der physischen Reichtumsmehrung (in Gestalt der produktiv Tätigen in Relation zur Gesamtbevölkerung und der Produktivität von deren Arbeit) ein Lob auf Kapitalismus als ökonomisches und Herrschaftsverhältnis ableiten? Sollen wir darin vor allem eine grossartigen Reichtums-Produktionsmaschine erkennen - so grossartig, dass " ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht arbeitet und viele (!) davon den Ertrag aus zehn-, häufig sogar hundertmal mehr Arbeit verbrauchen als die meisten Werktätigen"?


    Hallo Franziska,
    erstens liest sich die Marx'sche Beschreibung des Kapitalismus nicht grundsätzlich anders als die von A. Smith. Marx verstand den Kapitalismus als historische Produktionsweise, die erst die Voraussetzungen für eine bessere Gesellschaft geschaffen hat:
    „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.
    Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9.


    Und zweitens wird die Linke keinen Anklang finden und keinen Erfolg haben, wenn sie nicht ernsthaft bemüht ist, die Errungenschaften des Kapitalismus nicht nur zu sehen und anzuerkennen, sondern auch zu bewahren und für eine emanzipatorische Gesellschaft nutzbar zu machen:
    "Die Menschen verzichten nie auf das, was sie gewonnen haben, aber das bedeutet nicht, dass sie nie auf die Gesellschaftsform verzichten, in der sie bestimmte Produktivkräfte erworben haben. Ganz im Gegenteil.Um das erzielte Resultat nicht zu verlieren, um die Früchte der Zivilisation nicht zu verlieren, sind die Menschen gezwungen, sobald die Art und Weise ihrer Wirtschaftsweise den erworbenen Produktivkräften nicht mehr entspricht, alle ihre überkommenen Gesellschaftsformen zu ändern. K. Marx, Brief an Annenkow (1848), MEW 4, 549.

    Das Problem ist im übrigen nicht "Überversorgung", sondern eine Lebensform, die chronisch krank macht, spätestens im Alter ...


    Jede bisherige Produktionsweise hat vielleicht ihre spezifischen Krankheiten. Dass die Kommunisten ein Leben ohne Krankheit versprechen würden, wäre mir allerdings neu. ^^


    Gruß Wal

  • Hallo Wal,


    deinen hier vorgebrachter Vergleich zwischen Peripherie und Kernländern a) als Pluspunkt für den Kapitalismus und b) als eine Differenz zwischen entwickelten kapitalistischen und weniger oder überhaupt nicht entwickelten Ländern darzustellen, verstehe ich nicht ganz.


    a) Es handelt sich hier nur um eine statistische Größe, die uns nichts über die Lebensumstände der Lohnarbeiter mitteilt. Sollen denn die Lohnarbeiter in den kapitalistisch voll entwickelten Ländern froh sein, dass sie sich in den Fabriken, Läden und Büros abwrackern und ihre Gesundheit ruinieren dürfen? Und andersherum, sollen sich die Lohnarbeiter in den nicht (voll) kapitalistisch entwickelten Ländern ausgerechnet den Kapitalismus herbeiwünschen, um von den Kapitalisten ausgebeutet und ruiniert zu werden?


    b) Die Differenz ist ein Vergleich statistischer Größen i n n e r h a l b des Kapitalismus. Werden die Lebensumstände der Lohnarbeiter herangezogen, sieht es nämlich so aus: Es ist allgemein bekannt, dass sich der Kapitalismus inzwischen auf der ganzen Welt völlig durchgesetzt hat. Dass es den Lohnarbeitern in manchen Regionen dreckiger als ihren Kollegen anderswo geht, ist aber gerade ein Ergebnis des Kapitalismus - also Folge aus der die statistische Differenz sich erst ergibt. Und überhaupt, den Kapitalismus überall so weit zu entwickeln, wie das etwa in Europa oder den USA der Fall ist, kann schon wegen der ihm innewohnenden zerstörerischen Tendenz (vor allem der Konkurrenz) ohnehin kaum gelingen.


    Beste Grüße
    Kim

  • Hallo Wal, deinen hier vorgebrachter Vergleich zwischen Peripherie und Kernländern a) als Pluspunkt für den Kapitalismus und b) als eine Differenz zwischen entwickelten kapitalistischen und weniger oder überhaupt nicht entwickelten Ländern darzustellen, verstehe ich nicht ganz.
    a) Es handelt sich hier nur um eine statistische Größe, die uns nichts über die Lebensumstände der Lohnarbeiter mitteilt.


    Hallo Kim,
    das verstehe ich nun wiederum nicht. Jeder Vergleich zwischen Menschengruppen beruht auf statistischen Größen, was denn sonst? Und zweitens gibt die Messgröße "Lebenserwartung" durchaus Auskunft über die Lebensverhältnisse:
    "Lebenserwartung ist ... eine wichtige sozioökonomische Messgröße: Je höher sie für eine bestimmte Gruppe ist, desto höher ist in der Regel deren Lebensstandard, beispielsweise medizinische Versorgung, Hygiene, Trinkwasserqualität und Ernährungslage." (Wikipedia)
    Die statistische Messgröße "Lebenserwartung" im Ländervergleich hat gegenüber anderen Vergleichszahlen wie Reallohn, Durchschnittseinkommen, BIP etc. mehrere Vorteile. Erstens gibt sie Auskunft nicht nur über eine beschränkte Menschengruppe (z.B. Lohnarbeiter) und zweitens gehen in diese Messzahl relativ gleichgewichtige Größen ein.
    In das Durchschnittseinkommen eines Landes gehen zum Beispiel auch die Einkommen der Reichen ein, die das zehn oder hundertfache eines Armen betragen. Die Lebenserwartung der Reichen beträgt jedoch vielleicht das Doppelte oder 1,5fache, aber niemals das zehn oder hundertfache der Lebenserwartung der Armen.
    Die deutlich höhere Lebenserwartung der Menschen im entwickelten Kapitalismus besagt also nichts mehr, als was A. Smith schon feststellte: Das Leben der Armen wie der Durchschnittsbevölkerung in den entwickelten Ländern ist besser als das Leben der Armen wie der Durchschnittsbevölkerung in rückständigen Ländern. Das sind Fakten, die allgemein bekannt sind, die aber von Linken gerne ignoriert oder geleugnet werden. Tatsächlich haben aber diese Fakten eine enorme propagandistische Kraft - sowohl bei den Lohnarbeitern in der Kernzone, wie bei den Menschen in der Peripherie.


    Sollen denn die Lohnarbeiter in den kapitalistisch voll entwickelten Ländern froh sein, dass sie sich in den Fabriken, Läden und Büros abwrackern und ihre Gesundheit ruinieren dürfen? Und andersherum, sollen sich die Lohnarbeiter in den nicht (voll) kapitalistisch entwickelten Ländern ausgerechnet den Kapitalismus herbeiwünschen, um von den Kapitalisten ausgebeutet und ruiniert zu werden?


    Genau so wirken diese Fakten und genau so interpretieren die Apologeten des Kapitalismus, einschließlich A. Smith, diese Zahlen. Wie erklären und kritisieren wir diese Verhältnisse? Das ist meine Fragestellung.
    Marx kommentiert diese Verhältnisse folgendermaßen:
    Erstens hat er einen historischen Blick, der den entwickelten Kapitalismus durchaus als Fortschritt sieht:
    "Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die billigen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die so genannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“ K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 466.
    Das ist unter Linken weitgehend bekannt.
    Weniger bekannt ist, dass Marx die nationalen Unterschiede zwischen den Ländern vollständig als Ausfluss der kapitalistischen Konkurrenz erklärt:
    „Übrigens ist die Unterscheidung von Inland und Ausland durchaus illusorisch. Wie sich die Nation, die eine Missernte erleidet, zur fremden Nation verhält, von der sie kauft, verhält sich jedes Individuum der Nation zum Bauern oder Getreidehändler. Die Zusatzsumme, die es auf Ankauf des Getreides verwenden muss, ist eine direkte Verminderung seiner ... verfügbaren Mittel.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 47f.


    „Was Carey nicht begriffen hat, dass diese weltmarktlichen Dis-harmonien nur die letzten passenden Ausdrücke der Disharmonien sind, die ... in dem kleinsten Umfang eine lokale Existenz (in jedem lokalen Markt) besitzen. ... Er ist ebenso wohl Amerikaner in seiner Behauptung der Harmonie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, als in der Behauptung der Disharmonie derselben Verhältnisse in ihrer welt-marktlichen Gestalt.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 847.

    „Im Maß wie in einem Lande die kapitalistische Produktion entwickelt ist, im selben Maß erheben sich dort auch die nationale Intensität und Produktivität der Arbeit über das internationale Niveau. Die verschiedenen Warenmengen derselben Art, die in verschiedenen Ländern in gleicher Arbeitszeit produziert werden, haben also ungleiche internationale Werte, die sich in verschiedenen Preisen ausdrücken, ...“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 584.
    „Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, dass auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt, sooft die produktivere Nation nicht durch die Konkurrenz gezwungen wird, den Verkaufspreis ihrer Ware auf ihren Wert zu senken.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 584.


    Die Mehrzahl der Linken stützt sich bei ihrer Analyse und Kritik der internationalen Verhältnisse jedoch auf Hilferding und Lenin, die von ganz anderen Voraussetzungen ausgehen als Marx. Ihre Imperialismustheorie basiert wesentlich auf der Staatsgewalt und dem Eingreifen der Regierungen. Nach meiner Meinung taugt die "Imperialismustheorie" hinten und vorne nicht, um den globalen Kapitalismus zu verstehen und zu kritisieren.


    b) Die Differenz ist ein Vergleich statistischer Größen i n n e r h a l b des Kapitalismus. Werden die Lebensumstände der Lohnarbeiter herangezogen, sieht es nämlich so aus: Es ist allgemein bekannt, dass sich der Kapitalismus inzwischen auf der ganzen Welt völlig durchgesetzt hat. Dass es den Lohnarbeitern in manchen Regionen dreckiger als ihren Kollegen anderswo geht, ist aber gerade ein Ergebnis des Kapitalismus - also Folge aus der die statistische Differenz sich erst ergibt.


    Ja, was denn sonst? Natürlich sind alle bestehenden Unterschiede zwischen den Ländern und Nationen kapitalistische (Konkurrenz)Unterschiede. Die gilt es aber zu verstehen und zu erklären.


    „Es versteht sich, dass die große Industrie nicht an jedem Ort eines Landes zu derselben Höhe der Ausbildung kommt. ... Und ... die von der großen Industrie ausgeschlossenen Arbeiter (werden) durch diese große Industrie in eine noch schlechtere Lebenslage versetzt ... als die Arbeiter der großen Industrie selbst. Ebenso wirken die Länder, in denen eine große Industrie entwickelt ist, auf die mehr oder minder nichtindustriellen Länder, sofern diese durch den Weltverkehr in den universellen Konkurrenzkampf hereingerissen sind.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 61.

    Die vorherrschende kapitalfreundliche Erklärung ist: Der entwickelte Kapitalismus ist sichtbar und spürbar besser als alles andere! Wenn ihr ein besseres Leben haben wollt, dann werdet wie wir!
    Ich weiß von meinen langjährigen Erfahrungen im Ausland, dass diese kapitalfreundliche Erklärung wirkt. Für rund 6 Milliarden Menschen ist der entwickelte Kapitalismus nach wie vor die Verheißung eines schöneren Lebens. Was haben wir dem entgegenzusetzen? Ich sehe da bei den Linken wenig Überzeugendes und eine große Schwachstelle. Für die übergroße Mehrzahl der Menschen sind die linken Vorstellungen nichts anderes als Esoterik.

    Und überhaupt, den Kapitalismus überall so weit zu entwickeln, wie das etwa in Europa oder den USA der Fall ist, kann schon wegen der ihm innewohnenden zerstörerischen Tendenz (vor allem der Konkurrenz) ohnehin kaum gelingen.


    Das ist eine Hypothese, die schon von einigen hundert Millionen Menschen widerlegt wurde. Und 2 Milliarden Asiaten machen sich gerade daran, diese Hypothese nochmals zu widerlegen. Ich habe ebenfalls starke Zweifel an dieser Hypothese. Ich glaube zwar nicht, dass innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz alle Nationen ein gleichmäßig hohes Niveau erreichen können. Ich glaube aber, dass die Länder der Kernzone in der globalen Konkurrenz stagnieren und zurückfallen werden, während andere Nationen aufsteigen und "uns" überholen werden. Wie innerhalb eines Marktes große Konzerne bankrott gehen, so gehen auch auf dem Weltmarkt "reiche" Nationen bankrott und verlieren ihre Wettbewerbsvorteile. Andere Nationen und Regionen sehen und nehmen das als ihren Vorteil. Das ist in meinem Augen derzeit das plausibelste Szenario. Die marxistische (Rest)Linke glaubt dagegen - anders als ich - an den bevorstehenden "Untergang des Kapitalismus".


    Zum Nachdenken noch ein klassisches Paradox, das durch historische Erfahrungen belegt ist:
    Krise schadet den Linken (und dem Kapital). Boomzeiten nützen den Linken (und dem Kapital).
    Ich meine, das sagt Einiges über die Rolle, die die Linke im Kapitalismus spielt.
    Gruß Wal

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