Was macht der Brexit mit uns?

  • Die britischen Brexitbefürworter tragen auf ihrem Banner die Losung: „Wir wollen unsere Grenzen kontrollieren!“ Die Kontrolle ihrer Grenzen bekommen sie tatsächlich zurück, aber zu einem hohen Preis.

    Zusätzliche Grenzen machen auch zusätzliche Kosten. Sie machen zusätzliche Kosten in Geld und sie machen zusätzliche Kosten in Arbeitszeit, selbst wenn an der Grenze kein einziger Cent Zollgebühren auf passierende Waren erhoben wird. Das zeigen die folgenden Zahlen:


    Jeden Werktag fahren 11.000 mit Waren beladene LKWs von und nach Großbritannien über Calais. Derzeit werden diese LKWs nur zwei Minuten lang kontrolliert – im wesentlichen deshalb, um versteckte Flüchtlinge zu finden. Falls Großbritannien nicht mehr zur europäischen Zollunion gehört, müsste die Ladung jedes einzelnen LKWs kontrolliert werden, um Schmuggelgüter zu konfiszieren und fällige Exportgebühren zu erheben. Würde die jetzige Abfertigungszeit dieser LKWs nur um zwei Minuten verlängert, dann würden sich auf beiden Seiten des Kanals tägliche Staus von 17 km Länge bilden. Es ist damit zu rechnen, dass zum Beispiel Salate und andere frische Lebensmittel oder Medikamente nicht mehr rechtzeitig ausgeliefert werden können. Vor allem im Winter kommen 95 Prozent des von Briten verzehrten Salates aus Spanien und den Niederlanden.


    Neben dem Verkehr auf der Straße werden jährlich noch knapp 500.000 Tonnen Fracht per Flugzeug und gut 150 Millionen Passagiere zwischen Großbritannien und dem Festland transportiert. Die Abfertigungszeit dieser Flüge wird sich zwangsläufig verlängern und verteuern.


    Die jetzige, europaweite Zollunion erspart jedem der beteiligten Staaten rund 10.000 Beamtenstellen für Zoll, Grenzkontrollen, Finanzämter, Visa und Führerscheine etc. Rechnet man eine Beamtenstelle nur mit 100.000 Euro pro Jahr, dann erspart die EU den Einzelstaaten 1 Milliarde jährlich an Personalkosten.


    Alle Dokumente, die beim Grenzübertritt von staatlicher Seite kontrolliert und geprüft werden, müssen vorher in den exportierenden und importierenden Unternehmen angelegt und ausgefüllt werden. Unterstellen wir, dass das Ausfüllen dieser neuen Dokumente rund dreimal so viel Zeit kostet wie ihre Überprüfung, dann benötigen die Unternehmen in Europa durch die neue Grenze eine zusätzliche Arbeitszeit von drei mal 100.000 Arbeitskräften. Rechnen wir für jede dieser zusätzlichen Stellen Arbeitskosten von 75.000 Euro, dann ergeben das zusätzliche Kosten von 2,25 Mrd. Euro auf Seiten der Unternehmen.


    Mein Resümee:

    Jede zusätzliche Grenze kostet zusätzliches Geld und zusätzliche Arbeitszeit für die Kontrolle der Grenze. Jede zusätzliche Grenze kostet zusätzliche Transportzeit im Grenzverkehr. Jede zusätzliche Grenze kostet zusätzliche Arbeitszeit und Geld für die Planung und Vorbereitung des Grenzübertritts für Waren, Dienstleistungen und Personen.

    Umgekehrt gilt: Je weniger Grenzen dem Waren- und Personenverkehr im Weg stehen, desto schneller und desto billiger verkehren Waren und Personen in diesem gemeinsamen Raum. Je größer also dieser gemeinsame Marktraum ist und je besser er verkehrstechnisch erschlossen ist, desto besser für das Kapital. Der größere und leicht zugängliche Marktraum vergrößert die Anzahl der Kunden, verkürzt die Zeit, in der das fertig produzierte Warenkapital auf Käufer wartet und verkürzt die gesamte Umschlagszeit, die das Kapital benötigt, um sich von der Warenform wieder zurück in die Geldform zu verwandeln. All das vergrößert die Produktivität und steigert den Profit.


    Anhand der Brexit-Verhandlungen können wir studieren, was Zweck und Nutzen der Europäischen Union ist: Die EU-Behörden sind die politische Verwaltung des gemeinsamen europäischen Marktes. Dieser gemeinsame Markt ohne Binnengrenzen dient und nützt vor allem den Kapitalisten in Europa.


    Wal Buchenberg, 20. Oktober 2018


    Dokumentenanhang:

    „Eine stetig wirkende Ursache in der Differenzierung der Verkaufszeit, und daher der Umschlagszeit überhaupt, ist die Entfernung des Markts, wo die Ware verkauft wird, von ihrem Produktionsplatz. Während der ganzen Zeit seiner Reise zum Markt befindet sich das Kapital gebannt in den Zustand des Warenkapitals; wenn auf Bestellung produziert wird, bis zum Moment der Ablieferung; wenn nicht auf Bestellung produziert, kommt zur Zeit der Reise zum Markt noch die Zeit hinzu, wo die Ware sich auf dem Markt zum Verkauf befindet. Verbesserung der Kommunikations- und Transportmittel kürzt die Wanderungsperiode der Waren absolut ab ....“ K. Marx, Kapital II, MEW 24, 252.


    „Gleichzeitig mit der Entwicklung der Transportmittel wird ... die Geschwindigkeit der Raumbewegung beschleunigt und damit die räumliche Entfernung zeitlich verkürzt. Es entwickelt sich ... die Masse der Kommunikationsmittel ... Es verteilt sich daher auch der Rückfluss (des Geldes) über kürzere aufeinander folgende Zeitperioden, so dass beständig ein Teil in Geldkapital verwandelt ist, während der andere als Warenkapital zirkuliert. Durch diese Verteilung des Rückflusses auf mehrere aufeinander folgende Perioden wird die Gesamtumlaufszeit abgekürzt und daher auch der Umschlag.“ K. Marx, Kapital II, MEW 24, 252f.


    „Wenn einerseits mit dem Fortschritt der kapitalistischen Produktion die Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel die Umlaufszeit für ein gegebenes Quantum Waren abkürzt, so führt derselbe Fortschritt ... umgekehrt die Notwendigkeit herbei, für immer entferntere Märkte, mit einem Wort, für den Weltmarkt zu arbeiten.

    Die Masse der auf Reise befindlichen und nach entfernten Punkten reisenden Waren wächst enorm, und daher absolut und relativ auch der Teil des gesellschaftlichen Kapitals, der sich beständig für längere Fristen im Stadium des Warenkapitals, innerhalb der Umlaufszeit befindet.“ K. Marx, Kapital II, MEW 24, 254.


    „Umstände, welche den Durchschnittsumschlag des Kaufmannskapitals verkürzen, z. B. Entwicklung der Transportmittel, ... erhöhen daher die allgemeine Profitrate.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 322.

  • Zum nun vorliegenden Brexit-Vertragsentwurf:

    Was die EU ist und was sie ausmacht, kann exemplarisch an dem nun vorliegenden Brexit-Vertragsentwurf studiert werden.

    Der Vertragstext hat 585 Seiten (= 100 %). Davon betreffen:


    - Grenzverkehr von Arbeitskraft (einschließlich deren Strafverfolgung) = 75 Seiten = 13 %;

    - Grenzverkehr von Waren = 33 Seiten = 6,5 %.

    - Grenzverkehr von Kapital = 57 Seiten = 10 %,

    - Grenzverkehr von Daten = 5 Seiten = 1 %.


    - Kompetenzen und Finanzen der EU-Behörden = 61 Seiten = 10 %.

    - Nordirland u.a. Einzelfragen = 52 Seiten = 9 %.

    - Management des Brexit = 33 Seiten = 5,5 %.

    - Erläuterungen und Kommentare (Vorwort und Anhang) 267 Seiten = 45 %.


    Noch kürzer:

    - Grenzverkehr von Arbeitskraft, Waren und Kapital = 30,5%

    - damit verbundene Bürokratie = 24,5 %

    - Erläuterungen, Kommentare = 45 %


    Wem dieser bürokratische Aufwand übertrieben vorkommt, der sei daran erinnert, dass jedes einzelne EU-Land in der Vergangenheit für sich selbst und seine Staatsgrenzen diesen bürokratischen Aufwand treiben musste. Durch den Gemeinsamen Markt der EU entfallen diese staatlichen Aufwände für die einzelnen Mitgliedsländer. Sie teilen sich nur noch die Kosten für das gemeinsame Grenzregime an den Außengrenzen der EU.

    Die Brexiten wollen aber über "ihre" Grenzen „die Kontrolle zurück“. Viel Spaß dabei!


  • Britische Brexitdebatte:

    Jeder Amtsinhaber widerspricht jedem anderen Amtsinhaber, aber alle verkünden unisono: „Ich erfülle den Willen des Volkes!“. Sie richten damit das allergrößte Chaos an.

    So blamieren die britischen Staatsdiener das Konzept „Volkeswille“ und pflügen den Boden für das Alternativkonzept: Baut nicht auf Volkeswille, sondern auf Elitenvernunft!

    Das Chaos entstammt allerdings nicht dem Konzept "Volkswille", sondern dem Konzept "Volksvertreter".

  • Die europäischen Qualitätsmedien werfen den britischen Eliten ständig „Realitätsverlust“ vor, und geben ihnen trotzdem gute Ratschläge, was sie nun Besseres machen sollen.

    Der Realitätsverlust liegt auf beiden Seiten: Die britische herrschende Klasse hatte bis 1914 Europa und die Welt beherrscht und meinte dann, sie könnte mit dem Commonwealth die Welt auch ohne Europa beherrschen. Die französische Elite klammerte sich noch an ihr Kolonialreich, selbst als Paris von den Nazi-Horden besetzt war. Und nach dem verheerenden Weltkrieg glaubten die Mächtigen in Washington, London und Paris, sie könnten in (West)Europa einen Hort der Stabilität und eines „gemäßigten Kapitalismus“ aufbauen und erhalten, während in aller sonstigen Welt der „Raubtierkapitalismus“ losgeschickt wurde. Mit der gebändigten Kapitalkonkurrenz in Europa ist es vorbei. Die Wirtschaftskrise von 2008 hat die EU noch mit Müh und Not gemeistert. Das chronische Chaos im Nahen Osten und in Afrika, der drohende Niedergang in Südamerika und der Handelsstreit zwischen den Großmächten USA und China läuten nun die Sturmglocken für eine durch den Brexit dauerhaft geschwächte Europäische Union.


    In English:

    The European media are constantly throwing "loss of reality" to British elites, and still give them good advice on what to do better.

    The loss of reality lies on both sides: the British ruling class had dominated Europe and the world until 1914 and then thought that it could rule the world with the Commonwealth even without Europe. The French elite clung to their colonial empire, even as Paris was occupied by the Nazi hordes. And after the devastating World War, the powerful in Washington, London and Paris believed that they could build and maintain a haven of stability and "moderate capitalism" in (Western) Europe, while in all other world predatory capitalism was launched. The tamed capital competition in Europe is over. The EU has still overcome the economic crisis of 2008 with great difficulty. The chronic chaos in the Middle East and Africa, the imminent decline in South America and the trade dispute between the major powers USA and China are now ringing the bell for an EU that is permanently weakened by the Brexit.

  • Der französische Präsident Macron hatte seit seinem Amtsantritt versucht, die Rolle Frankreichs in der EU zu stärken. Teils spielte er den Sprecher der europäischen Mittelmeerländer, teils betonte er die Achse Paris – Berlin. Gebracht hat beides nichts. Daran wird auch ein neuer „Vertrag von Aachen“ nichts ändern.

    Die Wirtschaftskrise von 2008 und auch der Flüchtlingszustrom des Jahres 2015 haben das Vertrauen in die EU-Organe erschüttert. Der Austritt Großbritanniens aus der EU und die kommenden Wahlen zum EU-Parlament werden die Kompromissfindung in Brüssel nicht leichter machen. Mit dem Anwachsen der EU ist der wirtschaftliche und politische Einfluss der beiden Kontinentalmächte in Europa zunehmend geschwunden.




    Bei Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hatten Deutschland und Frankreich fast 70% der kombinierten Wirtschaftskraft (BIP) gestellt. Dieser Anteil sank mit jeder EU-Erweiterung bis auf heute 36 Prozent. Durch den Austritt Großbritanniens wird die Wirtschaftsleistung der EU um 16 % sinken, und das gemeinsame Gewicht von Frankreich und Deutschland in der EU wird wieder auf 43 % steigen.


    In der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hatten Frankreich und Deutschland zusammen 8 von 17 Stimmen. 12 Stimmen genügten damals, um Gesetzesvorhaben im Europäischen Rat durchzubringen. Damals besaßen Frankreich und Deutschland zwei Drittel dieser qualifizierten Mehrheit. In der heutigen EU gilt eine „doppelte Mehrheit“: Gesetzeskraft erhält eine Initiative nur durch 16 Länderstimmen, die außerdem noch 65% der EU-Bevölkerung stellen müssen. Frankreich und Deutschland repräsentieren aber nur rund 30% der EU-Einwohner. Der Beitritt von Serbien und (Nord)Mazedonien wird die Mehrheitsverhältnisse für die Achse Paris-Berlin weiter verschlechtern und noch weiter nach Osten verschieben.


    Die FAZ kommentiert voll Bedauern: „Deutschland und Frankreich sind zwei Mittelmächte, deren Kräfte kaum noch ausreichen, den eigenen Kontinent zu ordnen, von der Weltbühne ganz zu schweigen.“

  • Mehr als 300 Euro kostet in London eine „Brexit-Box“, eine 15 kg schwere Kiste mit gefriergetrockneten Lebensmittel, die einen Briten für 30 Chaos-Tage nach einem ungeordneten Brexit vor Hunger schützen sollen.

    Arzneimittelhersteller innerhalb und außerhalb Großbritanniens bereiten sich auf Lieferengpässe vor. Derweil werden Lagerflächen in und um London knapp, weil der Einzelhandel seine Lager ausdehnt, um sich auf Versorgungsengpässe vorzubereiten.

    Vor dem Beitritt Großbritanniens zur EU gab es in Dover 130 Zollkontrollstellen, die täglich rund 5000 LKWs kontrollierten. Heute gibt es nur noch 17 Kontrollstellen, es passieren jedoch täglich 10.000 LKWs die Grenze mit Lebensmitteln, Medikamenten oder mit Einzelteilen für europäische Lieferketten. Dieses Nadelöhr wird die meisten Probleme verursachen.

    In Deutschland wird der Fisch teuer. In der 200-Meilen-Zone rund um die britischen Inseln wird der Hering für den deutschen Markt gefangen. Damit wird mit dem Brexit Schluss sein.

    Ein ungeordneter Brexit wird zur größten internationalen Notfallübung in Friedenszeiten. Es ist ein Drohszenario wie bei einem europaweiten Generalstreik oder einer schweren Wirtschaftskrise – nur mit dem Unterschied, dass man das Eintrittsdatum im Voraus kennt. Üblicherweise wächst aus einer Wirtschaftskrise auch eine politische Krise. Mit einem ungeordneten Brexit entwickeln sich aus einer politischen Krise schwerwiegende wirtschaftliche Folgen.

    Das Ansehen und die Legitimität von Regierungen und Unternehmern hängt in hohem Maße davon ab, wie gut oder schlecht sie die Versorgung von uns Lohnabhängigen mit Nahrung, Kleidung, Energie und Medikamenten händeln. Meistern die EU-Staaten und Großbritannien die kommende Brexit-Krise, dann bleibt der Brexit ohne große Folgen. Kommt es nach dem Brexit zu schwerwiegenden Versorgungsengpässen für erhebliche Teile der Bevölkerung, dann beginnt eine neue Vorkriegs-Epoche mit instabilen politischen Verhältnissen. Darauf sind weder Corbyn, noch die Linken in Europa vorbereitet.


    More than 300 euros will cost a "Brexit box", a 15-kg box of freeze-dried foods to protect a British from hunger for 30 chaos days after a disorderly Brexit.

    Drug manufacturers inside and outside the UK are preparing for delivery bottlenecks. Meanwhile, warehouse space in and around London is running short as retailers expand their warehouses to prepare for supply shortages.

    Prior to Britain's accession to the EU, there were 130 customs checkpoints in Dover, which controlled around 5000 trucks daily. Today, there are only 17 control posts, but every day 10,000 trucks pass the border with food, medicines or individual parts for European supply chains. This bottleneck will cause most problems.

    In Germany, the fish is expensive. In the 200-mile zone around the British Isles, the herring is caught for the German market. This will end with Brexit.

    A disorderly Brexit becomes the largest international emergency exercise in peacetime. It is a threat scenario like a Europe-wide general strike or a major economic crisis - except that you know the date of entry in advance. Usually a political crisis grows out of an economic crisis. With a disorderly Brexit serious economic consequences will develop out of a political crisis.

    The prestige and legitimacy of governments and capitalists depends to a large extent on how well or poorly they manage the supply of food, clothing, energy and medicines to us wage earners. If the EU states and Great Britain master the coming Brexit crisis, then Brexit will have no major consequences. If there are serious supply shortages for significant parts of the population after Brexit, then a new pre-war era begins with unstable political conditions. Neither Corbyn nor the left in Europe are prepared for this.

  • Wie sollte man sich denn als Linke/r vorbereiten?


    Hallo Annette,

    ich glaube, wir sollten zunächst unsere Köpfe soweit vorbereiten, dass wir nicht davon ausgehen können, dass unsere Machthaber/Vorgesetzten alles im Griff haben.

    Wenn es zu Problemen kommt, dann vor allem in Großbritannien. Aber auch in Deutschland kann es (laut Handelsblatt) zu Lieferschwierigkeiten in der (Auto)Industrie mit folgender Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit kommen.

    Auch da gilt es erst mal unsere Köpfe zusammenzustecken, um zu sehen, was wir tun können.

    Im Jahr 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise, haben die Leute auch nicht auf die Behörden vertraut, sondern sind selbst aktiv geworden. Die Brexit-Krise könnte ähnliche Ausmaße wie die Flüchtlingskrise erreichen.


    Gruß Wal

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