Immigranten in Deutschland



  • Die Grafik akkumuliert in jeder Altersstufe einheimische und zugewanderte Bevölkerung in Deutschland, getrennt nach Frauen (oben, rosa) und Männern (unten, hellblau) im Jahr 2013.
    Einheimische sind im Allgemeinen die, deren Eltern in Deutschland geboren wurden. Flüchtlinge, die nach 1945 aus den ehemals deutschen Ostgebieten in den Westen geflohen sind, gelten jedoch als Einheimische.
    Bei den Zugewanderten unterscheidet die Grafik zwischen den Immigranten der erster Generation, die im Ausland geboren sind, und Immigranten der zweiten Generation, deren Eltern im Ausland geboren wurden, die selbst aber hier in Deutschland geboren und aufgewachsen sind.
    Die Höhe der Balken zeigt die Anzahl der Bewohner von Deutschland in einem Jahrgang. Der größte Jahrgang im Jahr 2013 waren die 49jährigen mit über 1,5 Millionen.


    Was ich aus den Daten ersehe:
    1. Bevölkerungszahlen sind hochpolitisch. Die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Geschlecht (Frauenüberschuss, Männerüberschuss), nach geografischer Herkunft und nach Alter folgt genauestens den politischen und wirtschaftlichen Katastrophen und Auseinandersetzungen, die die Menschen in Deutschland durch- und mitgemacht haben.


    2. Die absoluten Zahlen der Migrationsbevölkerung ist quer durch die Altersstufen weitgehend gleich.
    Dass trotzdem fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben, liegt nicht an einer Zunahme der Migration, sondern an der Abnahme der einheimischen Bevölkerung (Geburtenrückgang). Dieser Geburtenrückgang ist aber eine direkte Folge der kapitalistischen Lebens- und Arbeitsverhältnisse und vor allem dem Anstieg der Frauenlohnarbeit geschuldet.


    3. Es ist eine Ermessungsfrage der Staatsverwaltung, wen sie als „Ausländer“ oder als „Inländer“ definiert. Menschen, die in Sibirien aufgewachsen sind, aber eine Großmutter haben, die mal „Reichsbürgerin“ war, gelten als „deutsch“. Menschen, die hier in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, gelten als „nicht deutsch“, bloß weil ihre Eltern irgendwo anders in der Welt geboren wurden.
    Eine weitere Verschärfung der bestehenden strengen Zuwanderungsgesetze würde Deutschland nur schneller entvölkern, könnte aber die zunehmend globale Herkunft der in Deutschland lebenden Menschen nicht zurückdrehen.


    4. Der kapitalistische Staat beansprucht über alle Menschen, die innerhalb seiner Staatsgrenzen wohnen ein Macht- und Gehorsamsmonopol. Alle hier lebenden Menschen sind den hier geltenden Gesetzen und den hier mit Staatsmacht ausgerüsteten Personen unterworfen und müssen hier durch Steuern und Abgaben den hiesigen Staat anerkennen und mitfinanzieren.
    Dass die Staatsmacht innerhalb ihrer Untertanen noch einmal rechtliche Unterschiede macht, und bestimmte Menschen als „Ausländer“ ausgrenzt und ihnen alle sonst üblichen Rechte vorenthält (Wahlrecht, Wahl des Wohnortes, Wahl der Arbeit, Stütze etc.) ist ein Skandal.
    Konservative und Rechte klammern sich an die längst unhaltbar gewordene Fiktion von einem „rassisch reinen“ Deutschland und fordern noch härtere Gesetze gegen Ausländer.
    Wir radikale Linke fordern die Abschaffung des Ausländerrechts und die Beseitigung der besonderen Unmündigkeit, in der die „Ausländer“ in Deutschland gehalten werden.


    Gruß Wal Buchenberg

  • Hallo Wal, nachdem ich das Marx-Forum schon eine Weile lese (danke für die vielen Informationen!) will ich mich hier einmal zu Wort melden.
    Gemäß Deiner Interpretation ist der Geburtenrückgang der einheimischen Bevölkerung eine Folge der kapitalistischen Lebens und Arbeitsverhältnisse, speziell des Anstiegs der Frauenlohnarbeit. Dies würde alle Inländer betreffen, also den Fortbestand einer kapitalistischen Wirtschaft in Dtl. von kontinuierlicher Immigration abhängig machen. Dies wiederum würde den Fortbestand von schlechteren Lebensbedingungen im Ausland voraussetzen. Außerdem würden kontinuierlich die reproduktiven Rechte der Inländer eingeschränkt. Offensichtlich weitere Argumente für eine nachkapitalistische Wirtschaft.
    Mein Verständnisproblem ist die Überwindung dieses reproduktiven Missstands durch die nachkapitalistische Wirtschaft. Wenn der Knackpunkt die Lohnarbeit der Frauen ist, müsste die nachkapitalistische Arbeit entweder ganz anders beschaffen sein als die Lohnarbeit oder die Frauenarbeit eingeschränkt werden.
    Ersteres ist mir unvorstellbar, letzteres wäre eine arge Einschränkung der Rechte der Frauen, die mir reichlich unfair erschiene.
    Daher meine Frage: weißt Du ob dieses Problem einer nachkapitalistischen Gesellschaft bereits diskutiert wurde und wenn ja, wo diese Diskussion nachgelesen werden kann?


    mit herzlichem Gruß, Wanderer

  • Hallo Wal, nachdem ich das Marx-Forum schon eine Weile lese (danke für die vielen Informationen!) will ich mich hier einmal zu Wort melden.


    Hallo Wanderer,
    herzlich willkommen auf der Durchreise! :thumbsup:





    Gemäß Deiner Interpretation ist der Geburtenrückgang der einheimischen Bevölkerung eine Folge der kapitalistischen Lebens und Arbeitsverhältnisse, speziell des Anstiegs der Frauenlohnarbeit. Dies würde alle Inländer betreffen, also den Fortbestand einer kapitalistischen Wirtschaft in Dtl. von kontinuierlicher Immigration abhängig machen.


    Der Fortbestand der kapitalistischen Wirtschaft in Deutschland hängt nicht nur und allein von Zuwanderung ab. Aber Zuwanderung ist sicher die "einfachste" und naheliegendste Lösung gegen die Überalterung und die Entvölkerung Deutschlands.


    Dies wiederum würde den Fortbestand von schlechteren Lebensbedingungen im Ausland voraussetzen. Außerdem würden kontinuierlich die reproduktiven Rechte der Inländer eingeschränkt.


    Ja, mit einer weiteren Verschlechterung unserer Lebensbedingungen in Europa müssen wir rechnen. Die "Südländer" zeigen den "Nordländern" den vor allen liegenden Weg. Die reproduktiven Möglichkeiten der Lohnabhängingen (sowohl für sie selbst, wie für ihre Nachkommen) werden zunehmend beschränkt. (Von "reproduktiven Rechten" würde ich nicht sprechen. Ein "Recht auf Reproduktion" hat im Kapitalismus nur der, der Geld besitzt. Wer kein Geld hat, hat kein "Recht auf Reproduktion".)



    Offensichtlich weitere Argumente für eine nachkapitalistische Wirtschaft.


    Ja, das sehe ich auch so!


    Mein Verständnisproblem ist die Überwindung dieses reproduktiven Missstands durch die nachkapitalistische Wirtschaft. Wenn der Knackpunkt die Lohnarbeit der Frauen ist, müsste die nachkapitalistische Arbeit entweder ganz anders beschaffen sein als die Lohnarbeit oder die Frauenarbeit eingeschränkt werden.
    Ersteres ist mir unvorstellbar, letzteres wäre eine arge Einschränkung der Rechte der Frauen, die mir reichlich unfair erschiene.
    Daher meine Frage: weißt Du ob dieses Problem einer nachkapitalistischen Gesellschaft bereits diskutiert wurde und wenn ja, wo diese Diskussion nachgelesen werden kann?
    mit herzlichem Gruß, Wanderer


    Nochmals: Wir können die Reproduktion der Menschen nicht aufs Kinderkriegen beschränken. Die Reproduktion der Menschen umfasst sowohl die gesunde Erhaltung der bestehenden Menschen wie auch die Erhaltung der gesamten Art, also die Nachkommenschaft.
    Ich denke, der Dreh- und Angelpunkt einer nachkapitalistischen Gesellschaft ist die Verteilung der Arbeit auf alle Arbeitsfähigen (und Arbeitswilligen) und gleichzeitig auch die radikale Verkürzung der Arbeitszeit für jeden.
    Wenn jeder von uns am Tag vier Stunden (notwendige) Arbeit erledigen muss, dann ist das die erste Voraussetzung, dass sich jeder von uns um alle öffentlichen Fragen kümmern kann, und über alle gesellschaftlichen Aufgaben und Probleme mitentscheiden kann.
    Zweitens ist das auch eine Voraussetzung, dass sich jeder von uns um die Pflege und Bildung der nächsten Generation kümmern kann, ganz egal ob diese Kinder genetisch von ihm selbst stammen oder nicht. Die Frage, ob ein Kind "Inländer" oder "Ausländer" ist, hat dann wohl keine Wichtigkeit mehr.


    Dargelegt ist die Bedeutung einer radikalen Arbeitszeitverkürzung für all in dem Thema: "Warum Marx".


    Vergleiche auch folgende Bevölkerungs-Daten:


    Heißt: Überall, wo der Kapitalismus die Lohnarbeit allgemein macht, sinken die Geburtenraten.





    Heißt: Im globalen Maßstab ist die Bevölkerungspyramide ganz gesund. Im Weltmaßstab gibt es (noch) keine Überalterung. Allerdings sind die Kinder und alten Leute ungleich über die Welt verteilt.



    Schon in naher Zukunft wird die Menschheit nicht mehr wachsen, sondern abnehmen. Das ist allerdings kein Unglück, sondern vielleicht ein Segen für die Erhaltung der Lebensbedingungen auf der Erde.


    Gruß Wal

  • Hallo Wal, Danke für die prompte Antwort!
    Ich halte Reproduktion (im Sinne der Fortpflanzung und dem angemessenen Großziehen von Kindern) für ein Menschenrecht, da Kinder ein klein wenig Unsterblichkeit darstellen. Dies folgt sowohl aus der Fortexistenz von Eigenschaften der Eltern durch die genetische Verwandtschaft mit dem eigenen Kind als auch die Prägung des Kindes durch die Erziehung und somit Vermittlung der Lebenserfahrungen der Eltern/Erziehenden. Du hast sicherlich recht, dass de facto im Kapitalismus kein universales Recht auf Reproduktion besteht. Ich stimme dir zu, dass die nachkapitalistische Wirtschaft u.a. durch die Verringerung der notwendigen Arbeitszeit die notwendigen Freiräume für die Reproduktion aller Gesellschaftsmitglieder erzeugen wird. Da allerdings der Weg zur Herbeiführung einer solchen Wirtschaft lang sein könnte, sollte das Recht auf Reproduktion bereits jetzt durch Lohnarbeiter eingefordert werden. Mir ist klar, dass dies im Kapitalismus nicht im vollen Maße erreicht werden kann. Trotzdem lohnt es sich hier Verbesserungen einzufordern. Meines Erachtens gibt es dazu durchaus Spielraum.
    1. Ich fürchte, dass Du mit deiner Prognose einer weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen in Deutschland und anderen „nördlichen“ Ländern recht hast. Mit einer weiteren Einschränkung der Reproduktionschancen muss somit gerechnet werden. Allerdings werden die Kapitalisten dies dann nicht mehr über die Ausbeutung fremder Gesellschaften mittels Immigration ausgleichen können, da ja der Anreiz für den Zuzug ausländischer Lohnarbeiter wegfällt. In dieser Situation dürften Kapitalisten und Staatsdiener eher bereit sein Lohnarbeiterforderungen nach dem Recht auf Reproduktion entgegen zu kommen
    2. Der weltweite Umfang des demographischen Wandels war mir neu. Du schriebst, dass die Verallgemeinerung der Lohnarbeit durch den Kapitalismus die Geburtenrate senkt. Die für den Erhalt der Lebensbedingungen segensreiche Verringerung der weltweiten Fertilität wäre dann ja wohl eine positive Leistung des Kapitalismus! Jedenfalls wird die Verringerung der weltweiten Fertilität dann weltweit die unter Punkt 1 genannte Situation erzeugen.
    3. Die Abnahme der Fertilität betrifft v.a. entwickelte Länder, wie deine Grafik zu BSP und Reproduktionsrate zeigt. Die derzeit weltweit verfügbaren jungen Menschen konzentrieren sich also in weniger entwickelten Ländern, die diese nur unzureichend zu leistungsfähigen Lohnarbeitern ausbilden können. Die Kapitalisten sind somit weiterhin auf die Reproduktion in den entwickelten Ländern angewiesen, da Lohnarbeiter für komplexere Aufgaben nur dort herangezogen/ausgebildet werden können.
    4. Die Angst der Staatsdiener vor illoyalen Untertanen könnte den Staatsapparat dazu bringen Forderungen nach reproduktiven Rechten gegenüber aufgeschlossen zu sein. Im Inland aufgewachsene Bürger/Untertanen können einfacher kontrolliert werden. Zugegebenermaßen ein unschöner „Vorteil“ der Argumentation für reproduktive Richte. Nichtsdestotrotz erhöht er die Chancen von Forderungen nach reproduktiven Rechten.
    Wie könnten konkrete Forderungen der Lohnarbeiter an Kapitalisten und Staatsdiener aussehen? Ich denke es müssen hierbei drei Probleme adressiert werden:
    Erstens ist die Reproduktion teuer. Legt man den Mindestunterhaltssatz zugrunde, den geschiedene Väter zahlen müssen, kostet ein Kind von der Geburt bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr 93468€. Dieser „Preis“ ist vermutlich sogar noch zu niedrig. Real wird das Großziehen von Kindern noch teurer sein.
    Zweitens kostet ein Kind v.a. die Mutter Lebenschancen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man sich erst nach dem Erlangen umfangreicher Lebenserfahrungen auf unabsehbare Zeit an einen Partner binden will. In jungen Jahren steht zunächst der Erwerb von Bildung im Vordergrund der durch den zeitlichen Aufwand der Kinderpflege eingeschränkt wird. Ferner ist es von Vorteil, wenn die Etablierung in einem kapitalistischen Betrieb in jungen Jahren geschieht und nicht durch eine längere Schwangerschaftsabwesenheit unterbrochen wird. Die weibliche Fertilität ist angeblich zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr am höchsten und nimmt ab dem 35. Lebensjahr rapide ab. Die Fortpflanzung sollte also zu einem Zeitpunkt geschehen, an dem sie die Chance der Mutter auf Bildung, stabile Partnerschaft und beruflichen Erfolg verringert.
    Drittens ist die Ökonomie der Reproduktion im Kapitalismus ungerecht. Die Eltern profitieren meist nicht ökonomisch von ihrem Kind. Wenn es erwachsen ist wird es als Lohnarbeiter ausgebeutet. Da das Kind dann via Umlage die Versorgung aller nicht mehr arbeitsfähigen Alten finanziert und den Mehrwert eines Kapitalisten generiert, haben die Eltern de facto durch ihre Mühen Fremde subventioniert.
    In einer nachkapitalistischen Wirtschaft wären das erste und das dritte Problem aufgehoben. Wenn Konsumgüter nicht mehr als Waren gehandelt werden, wird der materielle Aufwand für das Großziehen der Kinder auch von allen Gesellschaftsmitgliedern getragen. Wenn die notwendige Arbeitszeit radikal verringert wird und alle Gesellschaftsmitglieder sich somit im Stande sehen an der Betreuung der Kinder teilzunehmen, bleiben die Mühen des Kindergroßziehens nicht mehr exklusiv an den Eltern hängen (lediglich die Lasten der Schwangerschaft und Geburt verblieben bei der Mutter). Das zweite Problem wäre nur teilweise aufgehoben. Die Etablierung in einem Betrieb wäre nicht mehr nötig. Der Erwerb von Bildung wäre nicht mehr Grundlage eines Arbeitsplatzes und müsste somit nicht mehr unmittelbar nach dem Schulabschluss erfolgen. Das Problem der Partnerwahl bliebe hingegen erhalten. Daher müsste auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft mit einer Fortpflanzung gegen Ende des Fruchtbarkeitsfensters für viele Mütter gerechnet werden. Somit müssten Fertilitätsmedizinische Maßnahmen als notwendige Dienstleistungen mit in den Konsumptionsfonds eingehen.
    Die konkreten Forderungen nach Verbesserungen reproduktiver Rechte in der gegenwärtigen Situation müssten diese Bedingungen einer nachkapitalistischen Gesellschaft simulieren. Also eine Anhebung des Kindergeldes in Richtung Mindestunterhalt, Schutz von Müttern auf dem Arbeitsmarkt, Anspruch auf kostenlose Kitaplätze und Übernahme der Kosten fertilitätsmedizinischer Maßnahmen (inklusive Leihmutterschaft).

  • Hallo liebes Forum,


    dies ist mein erster Beitrag in diesem Forum und ich bin froh, dass ich so ein Forum endlich finden konnte.


    Zum Thema:


    Ich beschäftige mich schon länger mit diesem Thema und bin einfach mal auf die Straße gegangen und habe Jugendliche gefragt, zu welchem Anteil sie deutsch sind.


    - 11 % sind seit mehr als 2 Generationen komplett deutsch
    - 53% der Eltern kommen aus dem Ausland
    - bei 30% kommen die Großeltern aus dem Ausland
    - 6% aller Befragten wussten es nicht


    Alle Angaben sind gerundet und wurden Mitte November 2014 in der Münchner Innenstadt ermittelt.


    Ich hoffe dies ist ein gelungener, erster Beitrag in diesem herrlichen Forum!


    Gruß,
    Brianroloff

  • Hallo Wanderer,


    auch meinerseits willkommen im Max-Forum. Ich hoffe, es ergeben sich fruchtbare Diskussionen.


    Du wendest häufig den Begriff „Reproduktion“ an. In deinem Text bezieht sich Reproduktion auf die Erhaltung der Menschen durch Nachkommenszeugung. Zuvor müssen sie sich aber selbst erst mal durch Arbeit und wissenschaftliche Anwendung natürlicher Ressourcen reproduzieren. Ich meine, dass der Begriff in dem von die vorgebrachten Zusammenhang fehl am Platz ist, aber auf jeden Fall für Begriffsverwirrung sorgt. Oder wie siehst du das?


    Außerdem: Ich halte die Demografiefrage für außerordentlich wichtig im Hinblick auf eine emanzipierte Gesellschaft. Aber so wie du das darstellst, so ganz ohne Inhalt für wen, was und warum überhaupt „Reproduktion“ gut, außer dass sie ein Menschenrecht sein soll, kann ich damit nicht viel anfangen.


    Beste Grüße
    Kim

  • Hallo Kim B, danke für die konstruktive Kritik.


    Die Wortwahl „Reproduktion“ war in der Tat etwas ungeschickt. Ich meinte die Kombination aus Fortpflanzung und Aufzucht der Nachkommen, wobei zu letzterem auch die Erziehung zählt. Mir fällt leider kein passenderes Wort ein. Evtl. kann die Erweiterung zu generationelle Reproduktion als Behelf dienen.


    Die Demografie ist natürlich ein wesentlicher Faktor für jede Gesellschaft. Ich denke die generationelle Reproduktion hat in dreierlei Hinsicht Auswirkungen auf die Mitglieder einer Gesellschaft. 1. Sichert sie die Versorgung der Gesellschaftsmitglieder im Alter, wirkt also innerhalb deren Lebenszeit positiv. 2. Perpetuiert sie die Gesellschaft und ihre Errungenschaften in die Zukunft. 3. Reguliert sie die Menge von Ressourcen die auf der Erde pro Kopf bei einer gegebenen Entwicklung der Produktionsmethoden nutzbar gemacht werden können und im mindestens nutzbar gemacht werden müssen.


    Die ersten beiden Auswirkungen würde ich generell für alle Mitglieder einer Gesellschaft als positiv und die Mitglieder anderer Gesellschaften als neutral bewerten. Die dritte Auswirkung lässt, wie von Wal angemerkt, eine Reduktion der generationellen Reproduktion als wünschenswert erscheinen. Es sieht so aus, dass wir bereits mehr Ressourcen der Erde ausbeuten würden, als ohne die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen möglich ist.


    Dieser letzte Punkt legt natürlich nahe, dass das von mir postulierte Menschenrecht auf generationelle Reproduktion nicht universal gilt bzw. eingeschränkt werden müsste. Ich denke es muss zugegeben werden, dass ein solches Menschenrecht nicht als Recht auf unbegrenzte generationelle Reproduktion verstanden werden soll. Dieses Menschenrecht wurde von mir durch die Chance auf (teilweise) Unsterblichkeit des Individuums begründet. Hierzu reicht ein Kind. Will man eine Gesellschaft perpetuieren, so genügen im Regelfalle 2 Kinder. (durchschnittlich 2,3 Kinder pro Frau) Ich denke daher, dass man diese Kinderzahl anstreben sollte und von den Kapitalisten Lebensbedingungen erstreiten sollte die sie ermöglichen.


    Grüße Wanderer


  • ... dass das von mir postulierte Menschenrecht auf generationelle Reproduktion ....
    Dieses Menschenrecht wurde von mir durch die Chance auf (teilweise) Unsterblichkeit des Individuums begründet.
    Grüße Wanderer



    Hallo Wanderer,
    meinst du wirklich, uns fehlt in Europa das „Menschenrecht auf Kinder“?
    In China mischt sich die Regierung ins Kinderkriegen ein und schreibt den Untertanen vor, wie viel Kinder sie haben dürfen. Gibt es aber in Deutschland irgend ein Paragraf, der dir und mir das Kinderkriegen verbietet? Ich kenne keinen.


    Ich denke, im Kapitalismus sind wir Lohnabhängige ganz üppig mit Menschenrechten ausgestattet. Jeder hat hier das Recht, Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Jeder (ab 18) hat hier das Recht, einen Ferrari zu kaufen und zu fahren. Jeder hat hier das Recht, eine Acht-Zimmer-Villa zu mieten oder zu kaufen. Jeder hat das Recht auf Faulheit und Nichtstun.
    Ich meine, die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen im Kapitalismus werden nicht durch fehlende Rechte beschränkt, sondern durch fehlende Mittel (Geld und freie Zeit).
    Gruß Wal

  • Hallo Wal,
    Recht haben und Recht kriegen sind bekanntermaßen zweierlei. Wie du (scherzhaft) mit deinen Beispielen zeigst, kriegt man in Deutschland das Recht auf Kinder nur schwer. Mir geht es um das Recht haben und kriegen wenn ich ein Recht postuliere. Wenn nicht beides zutrifft hat man de facto das Recht nicht. Eben das habe ich bedauert und daraus abgeleitet, dass die Lohnabhängigen bereits jetzt de facto dieses Recht einfordern sollten und untersucht wie hierzu die Chancen stehen.


    Grüße Wanderer

  • Hallo Wanderer,


    Ich würde vorschlagen, es bei dem (biologischen Begriff) „Fortpflanzung“ zu lassen. Ich denke, da weiß doch jeder, worum es geht. Der Begriff „Reproduktion“ wird insbesondere in diesem Forum im Rahmen der marxistischen - und auf ihr aufbauenden - Theorien verwendet.


    Falls Eltern ein Kind in die Welt setzen, weil sie darin den quasi religiösen Sinn sehen, dass sie mit ihren Genen weiterleben oder aus was für Gründen auch immer, ist das eine individuelle Entscheidung.


    Wenn man sich als kritischer Mensch mit der Fortpflanzung gesellschaftlich/demografisch beschäftigt, muss man, meine ich, sich doch erst mal die gesellschaftlichen Bedingungen anschauen und sich fragen, welchen Zweck erfüllt Fortpflanzung unter diesen Bedingungen. Jedem Menschen mit etwas Verstand ist zumindest annähernd klar, dass auf der ganzen Welt Menschen von der gleichen Produktionsweise geknechtet und von Staaten beherrscht, gegängelt und bevormundet werden. Wenn ein Kind unter solchen Verhältnissen auf die Welt kommt, ist es vor allem für den zukünftigen Nutzen von Kapitalisten und die Berechnungen der Staaten vorgesehen (weshalb Kinder mit ihrer Geburt auch gleich zum Inventar der Nation zählen, in der sie geboren sind). Für die Kapitalistenklasse und den Staat haben diese Kinder nach entsprechender Ausbildung später zu buckeln und, wenn notwendig, Krieg zu führen. Unter solchen Verhältnissen hat das Kinderkriegen einen so brutalen Zweck, dass es aus meiner Sicht ein Unding ist, für Fortpflanzung einzutreten bzw. Bedingungen von den herrschenden Kapitalisten und Politikern zu fordern, die sie besser oder bequemer ermöglichen soll. Zuerst gilt es doch zu fordern, dass das Leben der Menschen sicher und robust sein und die Anstrengung zu einem guten Leben führen muss bzw. über (Minimal)Forderungen und Aufklärung man vielleicht dorthin gelangt. Dann kann man weiter sehen.


    Grundsätzlich und allgemein meine ich, dass bezüglich der Fortpflanzung die freie Entscheidung der Eltern der Ausgangspunkt für alle anderen demografischen Überlegungen sein muss. Wie man dann alles weitere hinbekommt, das dürfte in einer emanzipierten, kommunalen Gesellschaft wohl keine größeren Probleme bereiten. Allerdings Kostengesichtspunkte, ob man von Kindern profitiert oder den Alten den Lebensabend sichert, solche und ähnliche Berechnungen gehören da nicht dazu.


    Bezüglich der Menschenrechte hat Wal das aus meiner Sicht, sehr schön auf den Punkt gebracht. Ja, auf (Menschen) Rechte können wir pfeifen. Soll ich mir denn eine Selbstverständlichkeit wie mein „Recht auf Leben“ etc. bei den Herrschenden, wegen deren kriegerischen und anderen Kalkulationen es diesen Blödsinn überhaupt gibt, auch noch einklagen? Solche Ideale bringen den Lohnarbeitern nichts, außer, wenn sie nach ihnen streben, dass sie sich genau mit denen solidarisieren, die ihnen das Leben schwer machen und wenns drauf ankommt auch nehmen.


    Beste Grüße
    Kim

  • Hallo Wie du (scherzhaft) mit deinen Beispielen zeigst, kriegt man in Deutschland das Recht auf Kinder nur schwer.


    Hallo Wanderer,
    tut mir leid, aber da werden wir uns nicht einig. Ich denke, es geht beim Nachwuchs nicht um ein "Recht". Rechte sind bloße Worte und stehen immer nur auf dem Papier.
    Wenn es dir nur darum geht, Gründe vorzubringen, warum du fürs Kinderkriegen bist, warum sagst du nicht einfach: Kinderkriegen ist schön/nützlich/notwendig usw. DESHALB will ich Kinder haben.


    Von wem willst du denn dein "Recht auf Kinderkriegen" einfordern? Vom Staat? Was ist dann, wenn dein Partner/deine Partnerin aber sagt: Ich will kein Kind! Kommst du dann auch mit deinem "Recht" um die Ecke und sagst: "Ich habe ein Menschenrecht aufs Kinderkriegen? Gehst du dann vor Gericht? Das wäre töricht.
    Wer Rechte fordert, der setzt Staatsbeamte (Richter) als Herren über sich. Seit der Staat immer weniger Geld zu Verteilen hat, kümmert er sich sowieso um immer mehr Privatdinge: Was wir anziehen dürfen (kein Schleier), wohin wir reisen dürfen (nicht nach Syrien oder Jemen). Welche Websites wir sehen dürfen (keine Kinderbilder) usw. usf. Und du willst dem Staat noch das Sagen geben, wie viele Kinder ein Paar haben soll/darf? Nein, danke!
    Ich denke, es geht beim Kinderkriegen und Kinderaufziehen nicht um Rechte. Wo es mangelt, sind die Bedingungen, sind fehlendes Geld und fehlende Zeit.
    Was wir fordern können sind zum Beispiel:
    KOSTENLOSE Krippen und Kindergarten
    KOSTENLOSE Schulbücher und Schulausbildung
    KOSTENLOSE medizinische Versorgung für den Nachwuchs
    KOSTENLOSER öffentlicher Transport für Eltern mit Kleinkindern
    Billiger und bevorzugter Wohnraum für Familien mit Kindern
    Kündigungsschutz für Eltern mit Kleinkindern bzw. mit Kindern unter 14 Jahren
    und Ähnliches.
    Gruß Wal

  • Hallo Leute,


    danke für die umfassenden Reaktionen. Wie ich sehe, muss ich im Umgang mit Begriffen etwas vorsichtiger sein. :whistling:


    @Kim B.: Die systematische Betrachtung der Zwecke individuellen Handelns, wie eben der Fortpflanzung, unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen war mir zwar bekannt, aber noch nicht in das eigene Denken eingegangen. Wieder was dazu gelernt! Ich würde nicht so weit gehen, die Frage nach den Bedingungen für das Kinderkriegen erst nach der Verbesserung der Lebensbedingungen der gegenwärtigen Generation zu diskutieren. Aber das ist eine grundsätzliche Differenz der Position die in einer Diskussion wohl akzeptabel ist und nicht wegdiskutiert werden muss.


    @Wal: Ich ging bisher davon aus, dass man konkrete Forderungen nach Veränderungen der Lebensbedingungen (wozu die Umstände für die Fortpflanzung ja mit gehören) in der jetzigen Gesellschaft als Recht formulieren muss. Das man damit dem Staatsapparat erst mal Einfluss in einer Frage der Lebensbedingungen einräumt, der evtl. noch gar nicht gegeben ist, war mir nicht bewusst. Vermutlich bedürfen Forderungen nach Verbesserungen der Lebensbedingungen keiner Begründung (wie eben Rechte sie darstellen). Dein konkreter Forderungskatalog ist hilfreich. An die Wohnraumfrage hatte ich noch gar nicht gedacht.


    Grüße, Wanderer

  • Hi,


    und fast 8 Jahre nach dem Beitrag kommt wieder jemand daher..


    aus den Standpunkten, den Argumenten und der Wortwahl heraus scheint Ihr alle schlaue Menschen zu sein :)


    bin hierher gestolpert, da in den Medien (mal wieder) die Rede von Fachkräftemangel ist, ich mir den aktuellen demographischen Wandel (in allen möglichen Ländern) angesehen habe, wo es noch Hoffnung gibt.


    Ich selbst bin Maschinenbautechniker (ca. 35J) und meine Freundin (ca. 30J) Betriebswirtin, wir sind 10+ Jahren zusammen und haben beide seit unserer Ausbildung (Feinwerkmechaniker und Einzelhandelskauffrau) Job's, waren nie arbeitslos und haben einen Musterlebenslauf.


    Wir wohnen in einer 3- Zimmer Wohnung auf dem Land und sparen seit jeher, zahlen Steuern und natürlich in die Rentenkasse ein.


    Wir haben uns auf Bildung fixiert und uns bewusst gegen ein Kind entschieden, da man im Kapitalismus (in DE) ja brav arbeiten und Steuern zahlen muss.

    -> nix Villa mit 8 Zimmern etc., hätten wir Harz 4 bezogen, oder nächstes Jahr Bürgergeld hätten wir 1:1 den gleichen Lebensumstand, nur weniger Geld auf dem Konto. naja, vielleicht hätten wir dann mehr gemeinsame Zeit gehabt und doch 1- 2 Kinder ;)

    -> und nein, wir sind in unserem Freundeskreis da keine Ausnahme.


    in ca. 10 Jahren finanzieren 1,3 "Arbeiter" einen Rentner in Deutschland und Ihr hängt euch an Begrifflichkeiten auf und verliert die eigentliche Thematik?


    Deutschland war vielleicht mal toll, mittlerweile wird vom "europäischen Mittelstand" geredet und 15% der Deutschen sorgen sich um die Energiekosten, die vielleicht nicht mehr gezahlt werden können.


    alleine schon aus den Grund müssen Leute nach Deutschland kommen dürfen, hier arbeiten und unabhängig Hautfarbe, Religion etc. ein Teil der deutschen Gesellschaft werden! vielleicht bekommen wir dann auch mal Rente, ansonsten wäre aus Deutschland auswandern die bessere Alternative.

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