2018/19 wurden knapp 15 Millionen Grippeimpfungen in D-Land verabreicht und 182.000 Grippeerkrankungen gemeldet. Bei Influenze H1N1 lag die Wirksamkeit dieser Impfungen bei 61 %. Heißt: Bei rund 60 von 100 Geimpften, hat die Impfung eine Ansteckung verhindert. 40 von 100 Geimpften erkrankten trotzdem an Influenza. (Zahlen vom RKI).
Trotz jahrelanger Impfungen gegen Grippe, ist der Grippevirus immer noch virulent, und niemand, der einmal geimpft wurden ist, ist dauerhaft gegen Grippe immun. Von dem Corona-Virus können wir nichts besseres erwarten.
Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat angekündigt, für Covid-19-Impfstoffe „eine Wirksamkeit von mindestens 50 Prozent zu verlangen; das heißt, dass sich von einer größeren Gruppe von Geimpften höchstens halb so viele mit der Krankheit anstecken wie in einer vergleichbaren Gruppe von Ungeimpften. Die europäische EMA hat sich diesbezüglich noch nicht festgelegt.“
Niemand rechnet mit einer vollständigen Wirksamkeit eines Covid-Impfstoffs (90%), und niemand rechnet damit, dass ein Covid-Impfstoff dauerhaft, d.h. länger als ein paar Wochen oder Monate, vor dem Virus schützen wird.
Es gibt sogar bestätigte Fälle, wo sich Leute kurz hintereinander mit dem neuen Corona-Virus angesteckt hatten, nachdem sie wieder negativ getestet waren. Deshalb können wir nicht mit einer langanhaltenden Immunität rechnen, die entweder durch körpereigene Antikörper oder durch gezüchtete Impfstoffe erreicht werden.
Covid-19 bleibt uns auf Dauer erhalten. Wir müssen damit leben lernen. Was wird sich also ändern? Was muss sich also ändern? Aus meiner Sicht lehren uns die Corona-Viren die folgenden sechs Aussagen:
1. Staat und Kapital sind miteinander verwachsen. Das eine funktioniert nicht ohne das andere.
2. Das angegriffene Ansehen der Wissenschaft ist wieder gewachsen
3. Die Produktionsverhältnisse sind durchsichtiger geworden
4. Die kapitalistische Ziele werden zunehmend in Frage gestellt
5. Die Welt schrumpft wieder
6. Die Individuen orientieren sich stärker an der ganzen Gesellschaft
1. Staat und Kapital sind miteinander verwachsen. Das eine funktioniert nicht ohne das andere.
Weil der normale Lohn nur ein Existenzentgelt ist, hat der Staat die Vorsorge für die Unfälle und Risiken des Kapitalismus übernommen: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter. Auch die staatliche Vorsorge reicht nicht für wirkliche Notfälle. Die staatliche Vorsorge reicht nicht für Wirtschaftskrisen, die staatliche Vorsorge reicht nicht für Katastrophenfälle, die staatliche Vorsorge reicht nicht für Epidemien. Deshalb fehlten zu Beginn der Corona-Pandemie Atemschutzmasken, Schutzkleidung, Beatmungsgeräte, Intensivbetten und vor allem das zusätzliche Personal, das damit umgehen kann.
Andererseits können nur Staat und Regierung die Katastrophen ausbügeln und die Katastrophenfolgen mildern, auf die der Kapitalismus nicht vorbereitet ist und die der Kapitalismus verschlimmert. Deshalb sind Länder wie China, in denen die Bürger wenig, der Staat aber viele Rechte hat, in Krisenzeiten möglicherweise erfolgreicher. Kapitalismus und Staat sind ineinander verwachsen. Den Kapitalismus loszuwerden, aber den Staat in der heutigen Gestalt behalten zu wollen, wäre ein Trugschluss.
2. Das angegriffene Ansehen der Wissenschaft ist wieder gewachsen
Mindestens seit dem Umwelt-Gutachten „Global 2000“ aus dem Jahr 1980 und erst recht in der Diskussion um den Klimawandel wurde viel Kapital und viel Hirn eingesetzt, um das Ansehen von Wissenschaftlern zu untergraben, deren Erkenntnisse die Freiheit des kapitalistischen Eigentums indirekt in Frage stellten.
In der Corona-Krise folgen mittlerweile alle Regierungen mehr und minder dem Rat der Mediziner, Virologen und Epidemiologen. Auch die Entwicklung eines Impfstoffes gegen den Corona-Virus beweist die zunehmend wichtige Rolle, die Wissenschaftler bei der Bewältigung unserer globalen Probleme haben. Die wichtige Rolle der Wissenschaft reicht vom Klimawandel über die Artenvielfalt und den Folgen von Naturkatastrophen bis zu der wachsenden Bedrohung unserer Gesundheit und dem hohen Ressourcenverbrauch.
3. Die Produktionsverhältnisse sind durchsichtiger geworden
Das Kapital beherrscht weitgehend unsere
Produktionsverhältnisse: Was profitabel ist, wird produziert, und es wird in
der Menge und Qualität produziert, die profitabel erscheint. Wo Profit winkt, werden Arbeitsplätze geschaffen. Ohne Profit für das Unternehmen, keine Arbeit für uns.
Die Krise des
Gesundheitswesens kommt nicht von „Privatisierungen“. Egal ob die Krankenhäuser
private oder öffentliche Träger haben, sobald sie der kapitalistischen Effektivität
und Profitlogik unterworfen werden, bleiben für Notfälle kein Geld und keine
Kapazitäten.
In der jetzigen Krise stellen sich mehr Leute die Frage, welche Produktion und welche Dienstleistungen wichtig, weniger wichtig oder sogar überflüssig bis schädlich sind. Diese Fragestellung ist im Kern kommunistisch.
Sind Urlaubsreisen in exotische Gegenden wichtiger als Krankenbetten? Sind Musiker und Künstler so "systemrelevant" wie die Krankenschwestern? Bisher waren Bankmanager „systemrelevant“, nun sind es eher die Billiglöhner, die bei Tönnies Schweine zerlegen. Die Region rund um das explodierte Atomkraftwerk Tschernobyl zeigt: Die Anwesenheit radioaktiver Strahlung zerstört weniger Natur als die Anwesenheit einer kapitalistisch geprägten Menschengesellschaft.
Die künftige Fragestellung heißt: Was soll produziert werden und in welcher Menge? Brauchen wir mehr private PKW oder mehr öffentliche Verkehrsmittel? Brauchen wir mehr Flugverkehr oder lieber Land- und Seeverkehr? Dass solche Fragen nun öffentlich diskutiert werden, ist eine gute Sache.
4. Kapitalistische Ziele werden zunehmend in Frage gestellt
Der Kapitalismus dreht sich um Wertproduktion - Kapital muss wachsen. Die Menschen sind an Gebrauchsproduktion interessiert, sie wollen besser leben und weniger arbeiten. Dieser Konflikt, der ein Klassenkonflikt ist, wird sich weiter verschärfen. Durch die Corona-Krise wird unser Lebensunterhalt, das heißt unsere Reproduktion, weiter gefährdet und verschlechtert. Unser Leben wird nicht besser, sondern schwieriger.
Zu befürchten ist:
- Verlust von Arbeitsplätzen und von Einkommen durch Pleite vieler kleiner und mittlerer Unternehmen. In Deutschland stehen 50.000 Einzelhandelsgeschäfte vor der Pleite.
- Verlust von Arbeitsplätzen und von Einkommen durch das beschleunigte Erstarken der effizient wirtschaftenden Großunternehmen z.B. Amazon & Co. auf Kosten von Karstadt & Co.
- Verlust von Einkommen durch Inflation, weil in der Krise die Staatsverschuldung weiter steigt und irgendwann nicht mehr ausbalanciert werden kann;
- Verlust von Einkommen, weil die Staatsverschuldung weiter zunimmt und die Regierungen die Steuerschraube anziehen und soziale Leistungen streichen müssen;
- Verlust von Lebensqualität, weil überschuldete Kommunen stärker sparen müssen (Schließung von Bädern, Theatern etc.)
Bisherige kapitalistische Krisen trafen vor allem die unteren 30% der Lohnabhängigen durch (zeitweilige) Arbeitslosigkeit, Lohnverlust, prekäre Jobs, Scheidungen, Wohnungsverlust, erhöhte Schuldenlast. Die werden jetzt wieder getroffen. Aber zusätzlich trifft die aktuelle Krise die 30-40% Mittelverdiener durch drohenden Jobverlust, und durch Verlust vieler Annehmlichkeiten, die sich mit Geld kaufen lassen: Theater, Restaurants, exotische Küche, Kino, Live-Musik, Reisen, Urlaub etc. Und es trifft alle privaten Dienstleister und Solo-Selbständige, die diese Annehmlichkeiten für die „Mittelschicht“ gegen Geld zur Verfügung gestellt haben.
Der britische Finanzminister Rishi Sunak hat kürzlich Musikern, Künstlern, Schauspielern und Kreativen empfohlen, sich andere Arbeit zu suchen. Damit trifft er einen heißen Punkt. Abschaffung aller Klassen heißt auch Abschaffung von Luxus-Dienstleistern (professionelle Künstlerinnen und Musikerinnen). Je kürzer die allgemeine Arbeitszeit für alle wird, desto mehr Menschen könnten neben ihrer "Brotarbeit" sich auch mit Kunst und Kultur befassen.
5. Unsere Welt schrumpft wieder
Viele Fluglinien liegen am Boden, viele Kreuzfahrt- und Containerschiffe liegen an Land. Die Welt wird wieder kleiner, weil sich die Menschen, aber auch die Unternehmer wieder stärker an regionalen und lokalen Zusammenhängen orientieren. Die Gefahr ist groß, dass nationalistische Strömungen, die auf Krieg und Konflikt setzen, in einigen Ländern die Oberhand gewinnen. Andererseits zwingt uns die Krise, viel sorgsamer mit unseren Ressourcen umzugehen. Das große Kapital ist auf den Weltmarkt orientiert, die kleinen Kapitalisten und Unternehmer beschränken sich auf den regionalen oder nationalen Markt. Das nationalistische Gedankengut verbündet sich mit den kleinen und mittleren Kapitalisten. Wer am Gebrauchswert (Nutzen) der Wirtschaft interessiert ist, hat ALLE Kapitalisten gegen sich, nicht nur das große Kapital.
6. Die Individuen orientieren sich stärker an der ganzen Gesellschaft
Der gesellschaftliche Zusammenhang ist durch die Corona-Krise übersichtlicher geworden. Es wurde deutlicher, wie alles und alle miteinander zusammenhängen. Es wurde deutlich, dass die Wohnverhältnisse von Tönniesarbeitern, die Arbeitszeiten von Krankenschwestern und die Schutzkleidung von Altenpflegern oder Lehrern uns alle angehen, weil wir alle in diese Arbeitsteilung wie in einen Organismus eingebunden sind, so dass alle Teile der Gesellschaft Schaden erleiden, wenn irgend ein Teil der Gesellschaft leidet.
Andererseits ist das Private gewachsen und stärker geworden. Während des Lockdowns verbrachten wir viel mehr Zeit mit unserer Familie als früher. Wer ohne Familie lebt, war noch stärker auf sich selbst bezogen als früher. Der normale Kontakt in der Firma und mit Freunden wurde geschwächt. Durch die unsichtbare Drohung der Corona-Viren wächst wieder das Bewusstsein vom eigenen Tod. Das alles ist für jeden von uns eine Belastung, aber gleichzeitig eine Aufforderung, die eigene Rolle nicht nur in den engen privaten Grenzen als Partner, Eltern oder Geschwister zu sehen, sondern die eigenen Aufgaben für die Gesamtgesellschaft besser zu begreifen, und sich stärker um Wohl und Wehe aller anderen Gesellschaftsmitglieder zu kümmern. Das hat Auswirkungen, nicht nur, wie wir unsere Jobs erledigen, sondern auch, wie wir unseren Konsum und unsere Freizeit gestalten.
Wal Buchenberg, 20.10.2020
Frühere Texte und Diskussionen zu Corona:
Was uns die Corona-Krise bisher gebracht hat
Corona-Pandemie und Solo-Selbständigkeit