Deutsches Bewusstsein im Jahr 2019

  • Das Klagen über mangelndes Klassenbewusstsein in der Lohnarbeiterklasse gehört zur Tradition der Linken. Aber noch nie habe ich bei Linken eine Definition von dem gefunden, was sie „Klassenbewusstsein“ nennen. Ich befürchte, jede linke Strömung versteht unter Klassenbewusstsein ihr eigenes politisches Glaubensbekenntnis.

    Und noch nie habe ich bei Linken eine Untersuchung auf breiter Basis gefunden, wie viel oder wie wenig Klassenbewusstsein zur Zeit in ihrem Land zu finden sei. Ich vermute, Umfang und Qualität des vorhandenen Klassenbewusstseins wird einfach am Erfolg der eigenen Partei oder Organisation gemessen. Mit diesem Maßstab sieht es natürlich dunkelschwarz aus mit dem Klassenbewusstsein in Deutschland.


    Karl Marx hatte mal innerhalb der Internationalen Arbeiterassoziation IAA eine Fragebogenaktion unter Arbeitern angeregt. Daraus wurde wohl nicht viel.

    Mangels eigener Fragebogen müssen wir wohl oder übel auf bürgerliche Umfragen zurückgreifen und dort die interessanteren Fragestellungen herauspicken.

    Das habe ich mit der neuesten Allensbach-Umfrage von Prof. Dr. Renate Köcher „Generation Mitte 2019“ gemacht. „Generation Mitte“ befragte die 30 bis 60jährigen in Deutschland. Das sind rund 35 Millionen Menschen, in der großen Mehrzahl die aktiven Lohnarbeiter.

    Ich habe aus den Umfrageergebnissen Fragestellungen ausgewählt, die mir interessant schienen, und ich habe manche Frage etwas umformuliert. Wer meiner Zusammenfassung misstraut, sollte sich auch das Original ansehen.


    1. Wie beurteilt das gemessene Bewusstsein der 30 bis 60jährigen die eigene Lage?


    Ich habe an dieser Lagebeurteilung wenig auszusetzen. Die klare Mehrzahl (51 %) sieht, dass sich Gesamtlage in Deutschland verschlechtert hat. Die Beispiele, an denen die Verschlechterung spürbar werden, ließen sich weiter fortsetzen. Dass sich viele Männer – auch linke Männer - mit der Frauenemanzipation noch schwer tun, ist nichts Neues.

    Allensbach bringt diese Lagebeschreibung auf den Begriff „Ellbogengesellschaft“. Das ist eine verharmlosende Umschreibung für unsere kapitalistische Konkurrenzgesellschaft. Und die "Ellbogengesellschaft" gibt es schon seit Jahrzehnten. Der Begriff bildet die tiefgreifenden Veränderungen nicht ab, die dann entstehen, wenn der Kapitalismus - wie derzeit - in eine Rezession oder gar eine Depression rutscht.


    2. Was liegt dem zugrunde?



    Auch an der Einschätzung, dass die Menschen nicht Religion, nicht Geschlecht, nicht die regionale Herkunft voneinander trennt, sondern vor allem anderen die soziale Schicht und das Einkommen, daran habe ich nichts zu mäkeln.


    3. Was erwarten die 30 bis 60jährigen von der Zukunft?



    Dass Deutschland und Europa gegenüber China und auch gegenüber den USA in der kapitalistischen Konkurrenz zurückfallen, dafür sammelte ich hier im Marx-Forum seit Jahren Belege und Daten.

    Auch das Risiko, spätestens im Alter in Armut leben zu müssen, wird von der großen Mehrheit ziemlich deutlich gesehen.


    Insgesamt sind die Ansichten und Einsichten, die diese Umfrage bei der Generation der 30 bis 60jährigen erbracht hat, ziemlich klar- und weitsichtig.

    Ich finde, es wäre die Aufgabe der radikalen Linken, nicht über mangelndes Klassenbewusstsein zu klagen, sondern die ökonomischen und politischen Zusammenhänge aufzuzeigen, die die vorhandenen Ansichten und Einsichten verbinden und erklären können.

    Wal Buchenberg, 15. September 2019

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