1) Nationalistische Bewegungen versuchen eine Solidarisierung entlang aller „Mitglieder einer Nation“ zu erreichen. Der angestrebte Zweck und die notwendige Folge ist ein Machtzuwachs der jeweiligen nationalen Führungselite, die sich möglichst als Staatsmacht etabliert.
Rechte Nationalisten definieren die Zugehörigkeit zu einer Nation über rassistische Kriterien. Linke Nationalisten betonen mehr kulturelle und historische Gemeinsamkeiten. Für beide Nationalismen gilt: Sie erwarten und fördern die Loyalität und Unterwerfung „ihrer Volksgenossen“ gegenüber der jeweiligen nationalen Elite. Das macht jeden Nationalismus zu einem Herrschaftsinstrument.
Noch schlimmer ist: Kein Nationalismus kommt ohne Abgrenzung und Ausgrenzung gegenüber anderen Nationen aus. Jeder einzelne Nationalismus schürt also den Nationalismus in den angrenzenden Regionen und Staaten. Der katalanische Nationalismus fördert den spanischen Nationalismus und umgekehrt. Der kurdische oder palästinensische Nationalismus schürt den türkischen bzw. israelischen Nationalismus und umgekehrt. Damit schürt jeder Nationalismus den Hass zwischen den Ethnien, Völkern und Nationalitäten und vertieft die bestehenden Unterschiede und Differenzen.
2) Der Kapitalismus ist in unserer modernen Welt längst zum alles bestimmenden alles dominierenden Basissystem geworden. Der Kapitalismus ist das Meer, in dem sich alle offiziellen politischen Strömungen ihren Weg und ihre Richtung suchen. Längst sind die verschiedenen Nationalismen zu Instrumenten der kapitalistischen Konkurrenz geworden. Ein „antikapitalistischer Nationalismus“ kommt nirgends vor und kann nirgends vorkommen. Antikapitalistische Bewegungen müssen notwendig die Interessen der „eigenen“ Machthaber und Kapitalisten unterminieren. Antikapitalistische Bewegungen sind notwendig antinational. Jede nationalistische Strömung muss daher antikapitalistische Bewegungen im eigenen Land schwächen und bekämpfen. Soziale Emanzipation und Nationalismus sind unvereinbar.
3) Dass zur Zeit in Europa und in den USA nationalistische Strömungen an Einfluss gewinnen, ist der chronischen Krise des Kapitalismus in den Kernzonen geschuldet.
Die aktuellen Nationalismen gewinnen Anhänger und Einfluss in den Wohlstandsinseln des Kapitalismus: In den USA, in Großbritannien, in Nordspanien, Norditalien, Schottland, Wallonien oder Flandern. Diese Wohlstandsinseln wollen sich abgrenzen von den Armen – von den Armen im eigenen Land und den Armen der kapitalistischen Peripherie. Überall werden neue Grenzen errichtet. Die US-Grenze zu Mexiko, die Grenzziehung zwischen Großbritannien und der EU, die neue Grenze zwischen Katalonien und Restspanien und die neuen Grenzzäune im Süden Ungarns und den Balkanländern verbindet ein gemeinsames Ziel: Die herrschenden Eliten sehen ihren Einfluss und ihre Macht bedroht, sobald ihnen die Mittel ausgehen, um ihre lohnabhängigen Untertanen ruhig zu halten. Die zunehmende Staatsverschuldung und niedrige Wachstumsraten machen Transfer- und Steuergeschenke immer schwieriger. Also wird zunehmend ein reaktionärer Kurs gefahren, der den „eigenen Leuten“ verspricht: „Euch geschieht nichts! Wir sparen bei den Anderen, wir bekämpfen die Fremden“!
Europa spielt – unabsichtlich und ungewollt - eine fördernde Rolle in den aktuellen Separationsbewegungen. Die Katalanen, die Schotten, die Flamen und Norditaliener verstehen sich alle als „gute Europäer“. Ihr „linker Nationalismus“ gibt sich international und proeuropäisch, anders als die Brexit-Anhänger und die rechten Nationalisten. Die wirtschaftlichen Unterschiede und Differenzen zwischen einzelnen Regionen in Europa sind durch die Krise gewachsen.
Aber: „Wer in Europa kein Mitgliedsstaat ist, ist ein Nobody“, meinte der katalanische Minister und Nationalist Huguet i Biosca. Steigt eine Region zum EU-Mitglied auf, vervielfältigt sich automatisch ihr politischer und wirtschaftlicher Einfluss.
Auf der anderen Seite reduzierte die EU die wirtschaftlichen und politischen Risiken einer Sezession: Die neue Regierung benötigt keine neue Währung. Kleine wie große Mitgliedsstaaten gehören alle zu einer großen gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftsregion. In dieser Wirtschaftsregion ist die gewohnte kapitalistische Staatenkonkurrenz so weit gedämpft und reglementiert, dass ein kleiner Staat keine Militärintervention seiner großen Nachbarn zu fürchten hat.
Die bloße Existenz der EU hat die Risiken und Kosten einer neuen Staatsgründung gesenkt, und die politischen Überlebenschancen der Kleinstaaten gestärkt. (Umgekehrt erhöhten sich gleichzeitig die Risiken und Kosten eines Austritts aus der Eurozone oder der EU.)
Es gibt für neue Kleinsstaaten in der EU zu gesenkten Kosten und Risiken mehr zu gewinnen als vor der Existenz der EU.
Die Europäische Union wird an den erstarkenden Nationalismen keineswegs zerbrechen. Ganz im Gegenteil: Die EU wird immer deutlicher, was sie immer schon war: Eine Wohlstandsburg, in der sich krisenbedrohte Kapitalnationen verbünden, um in der globalen Konkurrenz stärker auftreten zu können.
4) Emanzipatorische Strömungen können in diesem kapitalistischen Hauen und Stechen nur verlieren. Was die linken Nationalisten in Katalonien hinzugewinnen, verlieren sie dreifach und vierfach in Restspanien.
Früher sagten wir: Arbeiter haben kein Vaterland! Diese Meinung wurde auf tragische Weise von Links (Sozialdemokraten, Bolschewiki) wie von Rechts (Faschisten) seit dem 1. Weltkrieg widerlegt.
Der richtige Kern dieser Meinung gilt jedoch immer noch.
Der richtige Kern heißt: Soziale Emanzipation, die Beseitigung von Ausbeutung und Unterdrückung, kennt keine Grenzen und keine verschiedenen Identitäten. Soziale Emanzipation zielt auf alle Menschen und auf alle Regionen der Welt, vor allem aber auf die breite Masse der Notleidenden und Unterdrückten -egal welcher Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht. Soziale Emanzipation ist unvereinbar mit allen identitären und exklusiven Strömungen, die Schutzmauern um Reichtum und kapitalistisches Eigentum ziehen wollen.
Soziale Emanzipation kann zwar an allen Orten lokal und regional beginnen, sie wird aber nur Wurzeln schlagen, wenn sie andere Menschen, andere Ethnien, das andere Geschlecht etc. nicht ausgrenzt und ausschließt.
Wal Buchenberg, 20. Oktober 2017
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