• Der Linken ging das Proletariat verloren, seitdem leidet die Linke an einem Verlusttrauma.
    Proletarier waren für frühere Linke ebenso Ansprechpartner wie Kunden, ebenso Hoffnungsträger wie verachteter Pöbel.


    Gehen wir trotzdem davon aus, dass das Proletariat existiert – wo sind dann die Gegenspieler des Proletariats, die Kapitalisten?
    Es gibt kaum noch Karikaturen, die als Kapitalisten fette Anzugträger mit Zigarre zeigen. Wenn man nachfragt, wie viele Kapitalisten jemand mit Namen benennen kann, bringt man die Leute zum Grübeln. Außer vielleicht die Brüder Albrecht, die Familie Quandt und Warren Buffet sind Kapitalisten eine vom Aussterben bedrohte Art.
    Die Linken haben ihr Proletariat verloren. Die modernen Lohnarbeiter – das heutige Proletariat – haben die Kapitalisten verloren. Das ist vielleicht der größere Verlust.


    Dass ein Kapitalist selbst sein Unternehmen persönlich führt, ist zur Seltenheit geworden. Diese beschwerliche Aufgabe delegieren die Unternehmenseigner meist an bezahlte Manager. Längst wird der Kapitalismus nicht mehr von den Kapitaleignern regiert, sondern von hochbezahlten Lohnarbeitern. Der Kapitalismus ist anonym und unsichtbar geworden.
    Die Unsichtbarkeit des Kapitalismus geht noch weiter.


    Wo es um Kapitalismuskritik geht, können wir die 3% Kapitaleigner in Deutschland sowie die 7 % kleinen Selbständigen („Kleinbürger“) ganz beiseite lassen. Neben diesen – fast unsichtbaren Kapitaleignern - bleiben noch 3% leitende Angestellte, deren Kapitalismusblindheit gut bezahlt wird und außerdem 7% Staatsangestellte, die ganz außerhalb des Kapitalverhältnisses leben und den Kapitalismus höchstens aus der Statistik kennen.
    Das macht ganze 20% der Erwerbsbevölkerung, die entweder ein durchaus positives oder ein ganz fehlendes Verständnis vom Kapitalismus haben MÜSSEN. Ihre Kapitalismusblindheit ist durch ihre Lebensweise vorgegeben.


    Die restlichen 80% der Erwerbsbevölkerung sind aktive Lohnarbeiter, was man früher Proletariat nannte.


    Diese Lohnarbeiter sehen jedoch nicht „den Kapitalismus“.
    Sie sehen ihre Firma. Sie sehen: Meine Firma gibt mir den Arbeitsplatz. Meine Firma zahlt mir Lohn. In meiner Firma sind meine Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich täglich rede und manchmal einen Kaffee oder ein Bier trinke. Meine Firma ist mindestens so wichtig wie mein Ehepartner oder meine Kinder. Für gutbezahle Lohnarbeiter ist die Firma meist wichtiger als die Familie. Meine Firma ist für die meiste Zeit des Tages und für die längste Zeit meines Lohnarbeitslebens Dreh- und Angelpunkt.


    Die Existenzweise des noch rüstigen Lohnarbeiters mit fester Anstellung in einer Großstadt Nordeuropas drängt nicht zur Abschaffung des Kapitalismus, sondern zu seiner Verbesserung:
    Die Unternehmensführungen sollen mehr Rücksicht auf uns nehmen, sie sollen ihre Gewinne nicht im Ausland anlegen, sie sollen mehr Arbeitsplätze schaffen, sie sollen mehr Steuern zahlen. Das ist die ganze Kapitalismuskritik des „normalen“ Lohnarbeiters.


    Damit ist auch der (Haupt)Gegner dieser Kapitalismuskritik gefunden:
    1. Die neoliberale Firma
    Die neoliberale Firma arbeitet für den Profit. Die neoliberale Firma investiert ihr Geld im Ausland. Die neoliberale Firma hintergeht das Finanzamt. Die neoliberale Firma entlässt Leute. Die neoliberale Firma ruiniert die Umwelt – vor allem im Ausland. Die neoliberale Firma kennt jeder aber nur von außen und aus den Medien. Kaum einer, der gegen die neoliberale Firma auftritt, arbeitet dort. Die neoliberale Firma ist die Verkörperung des Kapitalismus und vielleicht sogar ein Fremdkörper im Kapitalismus.


    Weniger schlimm als die neoliberale Firma ist:
    2. Die ehemals neoliberale Firma
    Das sind Firmen, die in der Vergangenheit Übles getan haben, die Umwelt zerstört haben, Kinderarbeit ausgebeutet oder Giftstoffe in ihren Produkten verkauft haben und Schummelsoftware in ihre Motoren eingebaut hat. Diese Firmen investieren jetzt „nachhaltig“, bezahlen für Brunnenbohrungen im Sahelgürtel und für Lesebücher für muslimische Mädchen. Die ehemals neoliberale Firma will jetzt alles besser machen. Leider ist sie durch die früheren Fehler gezwungen, einige tausend Leute zu entlassen und die Löhne einzufrieren. Aber dann, irgendwann, wird alles besser! Versprochen.


    Weniger schlimm als die ehemals neoliberale Firma ist:
    3. Die mitfühlende Firma
    Mitfühlende Firmen haben Kinderkrippen und Spielplätze auf ihrem Firmengelände. Sie bieten veganes und koscheres Essen in der Kantine und Yogakurse für die Mittagspause. Sie haben Sonnenkollektoren auf dem Dach. Sie zahlen gute Löhne, wenn auch nur für Führungskräfte und schaffen Rücklagen für eine Betriebsrente.
    Die mitfühlende Firma ist der Star unter den Firmen und jeder kennt jemanden, der einen kennt, der in einer mitfühlenden Firma arbeitet oder gearbeitet hat oder kennt mindestens einen Bericht über eine mitfühlende Firma.


    Das Problem für uns Kapitalismuskritiker ist, dass der Kapitalismus nicht in der Einzahl existiert, sondern in der Vielzahl. Der Kapitalismus kommt nicht in einer einzigen Schwarz-Weiß-Version vor, sondern als bunte Unternehmenspalette.
    Die Konkurrenz schafft auf Seiten der Lohnarbeiter ebenso vielfältige Lebenslagen wie auf Seiten der Unternehmen eine weite Skala von boomenden Erfolgsfirmen bis zu verschuldeten Elendsklitschen.
    Kapitalismus ist der Gesamtzusammenhang, nicht das Einzelunternehmen. "Das bürgerliche Eigentum definieren heißt somit nichts anderes, als ALLE (Hervorhebung von w.b.) gesellschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Produktion darstellen.“ K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 165.
    Den Kapitalismus als gesellschaftlicher Gesamtzusammenhang darstellen ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach, aber ohne diesen Gesamtzusammenhang ist eine Kapitalismuskritik nichts wert.


    Die gesellschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen (d.h. kapitalistischen) Produktion bestehen wesentlich darin, "dass die eine Gruppe ständig (Arbeitskraft, w.b.) kauft, um Profit zu machen und sich zu bereichern, während die andere ständig (Arbeitskraft, w.b.) verkauft, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. ... Sobald einmal die Trennung zwischen dem Mann der Arbeit und den Mitteln der Arbeit vollzogen ist, wird sich dieser Zustand erhalten und auf ständig wachsender Stufenleiter reproduzieren, bis eine neue und gründliche Umwälzung der Produktionsweise ihn wieder umstürzt und die ursprüngliche Einheit (von Produzenten und Produktionsmitteln, w.b.) in neuer historischer Form wieder herstellt." Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, 131.


    Wal Buchenberg, 29. Januar 2017

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