Tengelmann und der deutsche Lebensmittelmarkt

  • 1.Der Tengelmann-Verkauf
    Das traditionsreichste deutsche Lebensmittelunternehmen, das 1867 gegründete Kaiser’s /Tengelmann, steht vor dem Aus. Als im Jahr 1971 die Firma Tengelmann Kaiser’s Kaffeegeschäft übernahm, stieg sie zum umsatzstärksten Marktführer in Deutschland mit den meisten Filialen auf. Diese Führungsposition konnte Tengelmann nicht halten. Jetzt stehen die verbliebenen 450 Filialen mit noch 16.000 LohnarbeiterInnen vor der Pleite.



    Der Eigentümer und Chef des Unternehmens, Karl-Erivan Haub, steht keineswegs vor dem Aus. Haub zählt mit einem geschätzten Familienvermögen von mehr als 4 Milliarden Euro zu den 50 reichsten Kapitalisten in Deutschland und zu den 200 reichsten Kapitaleignern der Welt. Vielleicht 8.000 der Tengelmann-Verkäuferinnen müssen in ungewollte Arbeitslosigkeit oder in ebenso wenig gewollte vorgezogene Rente. Der Kapitalist Haub muss nicht zum Jobcenter, er besitzt weiterhin bedeutende Anteile von Obi, KiK, Zalando und Uber und wird seinen Verkaufserlös für Tengelmann wohl in den Online-Handel stecken, wo er eine profitablere Zukunft sieht. Da hat der Herr ganz recht.


    Der stationäre Lebensmittelmarkt in Deutschland ist weitgehend aufgeteilt und das Geschäft mit Ernährung und Lebensmitteln wächst nur langsam. Bessere Geschäfte lassen sich da auf Kosten der Konkurrenten erzielen. Darauf hatte vor allem der Marktführer Edeka mit seinen 12.000 Filialen in Deutschland gehofft und ein Kaufangebot für Tengelmann vorgelegt. Aus diesem Verkauf wurde nix, weil Rewe, der nächstgrößere Konkurrent auf dem deutschen Lebensmittelmarkt (5.500 Filialen) sich erfolgreich gegen diese Fusion Edeka-Tengelmann gewehrt hatte. Auch Rewe hätte Tengelmann gerne geschluckt.
    In diesem Konkurrenzkampf der ganz Großen um den weniger großen Tengelmann stand das Bundeskartellamt auf Seiten Rewes, der Bundeswirtschaftsminister und SPD-Engel Gabriel auf Seiten von Edeka.
    Dieser Konkurrenzkampf ist vor Gericht gelandet, und weil sich das lange hinziehen kann, hat Rewe-Chef Alain Caparros diesen Kampf faktisch gewonnen. Je länger Haub mit dem Verkauf seiner 450 Filialen warten muss, desto weniger Verkaufserlös werden die Läden für ihn bringen. Je länger sich die Sache hinzieht, desto geringer wird die Umsatzsteigerung sein, auf die Edeka-Chef Mosa hofft.


    Weder Edeka-Chef Markus Mosa noch Haub geht es um die Arbeitsplätzen. Das zeigte sich schon im Jahr 2000, als Edeka von den damals 1.300 Tengelmann-Filialen nur die profitablen Läden übernehmen wollte. Tengelmann-Chef Haub hatte die „Sanierung“ selbst übernommen und seinen Handelskonzern auf jetzt 450 Filialen herunter geschrumpft. Noch kürzlich hatte Haub die Streichung von 5000 Arbeitsplätzen in seinem Unternehmen angekündigt oder angedroht.


    Zu den laufenden Verlusten von Tengelmann in Deutschland kam noch der verlustreiche Ausstieg aus dem Russlandgeschäft, wo Haub eine Discounter-Kette hatte aufziehen wollen. Diese Expansionspläne haben sich nach der russischen Expansion auf die Halbinsel Krim zwar zerschlagen, aber sie sind ein weiterer Hinweis, dass Haub ein langfristig kalkulierender Kapitalist ist, der darauf aus ist, in neue, expansive Märkte vorzudringen und alte, stagnierende Märkte zu verlassen. Angeblich machte Haub mit Tengelmann bis jetzt 500 Millionen Euro Minus, zu denen weitere 100 Millionen Verlust pro Jahr hinzukommen sollen.
    Genaues weiß man nicht. Von den Konkurrenzbedingungen und von dem Willen des Herrn Haub hängen zwar 16.000 Lohnarbeiter-Existenzen ab, aber wenn es um die finanziellen Zusammenhänge geht, tut die kapitalistische Welt – vom Gesetzgeber übers Finanzamt bis zu den Journalisten - so, als wären Herr Haub, Herr Mosa und Herr Caparros bei einer privaten Partie Skat, bei der ihnen niemand in die Karten schauen darf.


    2. Lebensmittelhandel in Deutschland
    Ein alter, stagnierender Markt ist der Lebensmittelmarkt in Deutschland tatsächlich. Im Jahr 2005 betrug der Gesamtumsatz des Lebensmittelhandels in Deutschland 140 Mrd. Euro. 10 Jahre später, 2015, war dieser Umsatz nur auf 150 Mrd. Euro gestiegen. Das ist eine jährliche Steigerungsrate von weniger als einem Prozent.
    Wenn der Marktführer Edeka in dem wenig wachsenden Gesamtmarkt dennoch Gewinnsteigerungen von über 20 % im Jahr erreicht, dann durch den Umbau seines Sortiments – weg von Herstellermarken, hin zu Eigenmarken, die in eigenen Betrieben hergestellt werden. Ansonsten lassen sich Gewinnsteigerungen nur auf Kosten der Konkurrenz erreichen.
    Ein erfolgreicher Kapitalist schlägt viele Kapitalisten tot und fleddert die Leichen. In den letzten Jahren wurden viele große Lebensmittelhändler totgeschlagen: Allkauf, Deutscher Supermarkt, Leibbrand, Massa, Scharper, Stüssgen und Wertkauf. Aber noch mehr kleine Händler mussten ihre Ladentür für immer schließen. Siehe dazu die folgende Grafik:



    Die Zahlen beweisen: Große Kapitalisten verdrängen die kleinen. Zwischen 1990 und 2010 sind über 55.000 kleine Lebensmittelläden platt gemacht worden. Die billigen Discounter (plus 8.500) und die riesigen Lebensmittelkaufhäuser (plus 1.800) haben dadurch und deshalb ihre Zahl und ihren Umsatz vergrößert.
    Wir können – vorsichtig gerechnet – davon ausgehen, dass bei den 55.000 platt gemachten Lebensmittelläden pro Laden wenigstens 1,5 Leute beschäftigt waren – ein kleiner Ladenbesitzer und eine halbe Lohnarbeitskraft. Seit 1990 haben durch das Geschäftssterben auf dem Lebensmittelmarkt gut 80.000 Menschen Arbeit und Brot verloren, ohne dass irgend ein „Qualitätsmedium“, ein SPD-Hahn oder eine Nahles-Henne gekräht hätte. Krokodilstränen werden nur vergossen, wenn so ein Nichtkümmerer die Chance hat, sich öffentlich als Arbeitervertreter zu profilieren, indem er erst den Mund vollnimmt, und schließlich sich mit der Entschuldigung verdrückt, er habe nicht mehr erreichen können.
    Die seit 1990 verlorenen 80.000 Arbeitsplätze im Einzelhandel sind auch 80.000 Ohrfeigen für die wohlmeinenden Linken, die glauben machen wollen, die Arbeiterbewegung könne (mit ihrer Mithilfe) Arbeitsplätze retten, die den Kapitalisten nicht profitabel genug sind.


    Nach jedem „Großreinemachen“ bleiben zufriedenere und größere Kapitalisten auf dem Lebensmittelmarkt übrig. Gut zwei Drittel des gesamten Lebensmittelumsatzes konzentrieren sich auf die vier führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) und Aldi. Siehe die folgende Grafik:



    Was die Mengen an Lebensmitteln betrifft, die von einzelnen Handelsketten nachgefragt und verkauft werden, so liegt der Anteil der fünf größten Ketten (Edeka, Rewe, Kaufland, Lidl und Aldi) bei rund 85%. Stellvertretend für alle anderen Lebensmittelarten betrachtet die folgende Grafik den Milchmarkt. Links stehen die Milchproduzenten als Anbieter, rechts die Lebensmittelmärkte als Nachfrager.



    Die Grafik beweist, dass der Lebensmittelmarkt auf allen Seiten – auf Seiten der Produktion wie auf Seiten des Handels – längst unter Großunternehmen aufgeteilt ist. Das ist der normale Gang des Kapitalismus. Sowohl bei den Milchproduzenten wie bei den Milchhändlern sind 85 % der Marktes unter die wenigen Großen aufgeteilt. Nur 15 % des Marktes bleibt für alle anderen. Trotzdem soll es noch Linke geben, die jeden Markt als "Reich der Freiheit" sehen.
    Wir sollten nicht vergessen, dass auch Tengelmann einst der Größte auf diesem Markt gewesen ist. Eine starke Marktposition heißt keineswegs, dass ein Kapitalist nun nach Gutdünken schalten und walten, die Preise höher oder niedriger setzen könne. Der große Kapitalist bleibt nicht weniger den Konkurrenzgesetzen unterworfen als die Kleinen. Wenn er die Regeln des Geschäfts und des Marktes missachtet, verliert er seine Führungsposition und wird irgendwann vom Marktgeschehen vertrieben – wie in diesen Tagen Tengelmann.


    3.Gesamtkapital und Handelskapital
    Der Machtkampf zwischen Edeka, Tengelmann und Rewe findet bei allen Kapitalisten und allen ihren Zeitungsschreibern allerhöchste Aufmerksamkeit. Der Lebensmittelmarkt ist nicht nur von großer Bedeutung für das Kapital der Lebensmittelbranche, sondern für die ganze Kapitalistenklasse und für das Gesamtkapital.
    Alle Arbeitgeber haben ein gemeinsames Interesse, dass ihre Lohnarbeiter Zugang zu möglichst preiswerten Lebensmitteln haben. Das senkt die allgemeinen Lohnkosten, die ja weitgehend mit den Reproduktionskosten der Lohnarbeiter identisch sind.
    Und nicht nur über die allgemeinen Lohnkosten beeinflusst der Lebensmittel- und Konsummarkt die Profite aller Kapitalisten.
    Wie wir im „Kapital“ von Marx nachlesen können, wird der kapitalistische Gesamtprofit vom Industriekapital produziert, um dann auf alle Kapitalfraktionen verteilt zu werden: als Zins an die Bankkapitalisten, als Prämie an die Versicherungen, als Grundrente an die Grundbesitzer, als Handelsprofit an die Händler.
    „Der Kapitalist, der den Mehrwert produziert, d. h. unbezahlte Arbeit unmittelbar aus den Arbeitern auspumpt und in Waren fixiert, ist zwar der erste Aneigner, aber keineswegs der letzte Eigentümer dieses Mehrwerts. Er hat ihn hinterher zu teilen mit Kapitalisten, die andere Funktionen im Großen und Ganzen der gesellschaftlichen Produktion vollziehen ... Der Mehrwert spaltet sich daher in verschiedene Teile. Seine Bruchstücke fallen verschiedenen Kategorien von Personen zu und erhalten verschiedene, gegeneinander selbständige Formen, wie Profit, Zins, Handelsgewinn, Grundrente usw.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 589.


    Auch wenn im Handel und durch den Handel kein zusätzlicher Profit geschaffen wird, so hat der Handel doch einen indirekten Einfluss auf den Gesamtprofit. Je nachdem, wie die Handelskapitalisten agieren, können sie den kapitalistischen Gesamtprofit vergrößern oder auch schmälern.
    „Sofern das im Handel angelegte Zirkulationskapital zur Abkürzung der Zirkulationszeit beiträgt, kann es indirekt den vom industriellen Kapitalisten produzierten Mehrwert vermehren helfen.
    Soweit es den Markt ausdehnen hilft und die Teilung der Arbeit zwischen den Kapitalisten vermittelt, also das gesellschaftliche Kapital befähigt, auf größerer Stufenleiter zu arbeiten, befördert seine Funktion die Produktivität des industriellen Kapitals und dessen Akkumulation.
    Soweit es die Umlaufszeit abkürzt, erhöht es das Verhältnis des Mehrwerts zum vorgeschossenen Kapital, also die Profitrate.
    Soweit es einen geringeren Teil des Kapitals als Geldkapital in die Zirkulationssphäre einbannt, vermehrt es den direkt in der Produktion angewandten Teil des Kapitals.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 291.


    Die Gesamtheit der Kapitalisten hat daher ein gemeinsames Interesse daran, dass die Waren- und Geldzirkulation möglichst schnell, möglichst produktiv und daher mit einem möglichst kleinen Anteil sowohl der Arbeitsbevölkerung wie des nationalen Kapitals von statten geht.
    Vereinfacht gesagt: Je mehr Ladengeschäfte vom Lebensmittelmarkt verschwinden, desto zufriedener sind die Arbeitgeber in allen Branchen der Volkswirtschaft. Sie machen dadurch höheren Gewinn.
    Wer nicht über Zauberkräfte verfügt, kann den von Arbeitslosigkeit bedrohten Verkäuferinnen und Verkäufern bei Tengelmann keine Hoffnung machen.


    Wal Buchenberg, 25.09.2016


    Quellen:
    zu 1) Tengelmann: verschiedene Artikel vor allem aus dem Handelsblatt
    zu 2) Lebensmittelhandel in Deutschland: "Sektorenuntersuchung Lebensmittelhandels" der Bundeskartellamts (siehe angehängtes Dokument)
    zu 3) Handelskapital und Gesamtkapital: Kapital Band III. Insbesondere: Zirkulationsarbeit

  • Rewe-Chef Caparros erklärt nun im Interview:
    „Die Märkte (von Tengelmann) sind quasi die letzte größere Übernahme, die in Deutschland möglich ist. Und das ist auch leider nicht das Geschäft unseres Lebens, schließlich sind da besonders unter den Geschäften in Nordrhein-Westfalen ein paar echte Problemfälle. Aber wer jetzt nicht zum Zuge kommt, der ist auf viele Jahre hin abgehängt.“


    Es geht also um große Beute, um die sich die Platzhirsche Rewe und Edeka streiten.


    http://www.faz.net/aktuell/wir…weinerei-14482731-p2.html

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