Jenseits des Islam

  • Für arabische Nationalisten ist der europäische Kolonialismus schuld an allen heutigen Problemen, und dieser Kolonialismus kulminierte in der britisch-französischen Verschwörung von 1916 mit den Grenzziehungen von Sykes-Picot quer durch das zerfallende Osmanische Reich.



    Die arabische Kritik am europäischen Kolonialismus ist jedoch verlogen.
    Die arabische Kritik ist verlogen, weil ein Blick auf die Kolonialkarte von 1916 zeigt, dass die europäischen Kolonialisten ihre Pläne nicht verwirklichen konnten. Weder beherrscht Russland die Dardanellen, noch regieren Frankreich und Italien in Teilen der Türkei oder England im Irak und Iran.
    Die arabische Kritik am europäischen Kolonialismus ist auch verlogen, weil sich diese Kritik aus nationalistischen Quellen speist, dem panarabischen Nationalismus. Die arabischen Nationalisten hofften beim Zusammenbruch des Osmanischen Reiches auf ein zusammenhängendes arabisches Großreich. Was sie bekamen, war ein Flickenteppich von Klein- und Mittelstaaten.


    Aber seit 1956, als die Kolonialmächte England und Frankreich mit Schimpf und Schande aus dem Nahen Osten vertrieben wurden, wäre nun 60 Jahre lang Zeit gewesen, irgendwelche panarabischen Träume zu verwirklichen, wenn sie denn eine materielle Basis gehabt hätten.


    Schauen wir auf die Gegner des Islam:
    Für den modernen europäischen Nationalismus eines Wilders und Le Pens ist der Islam schuld an allen arabischen Problemen – an den Problemen, die Araber untereinander und miteinander haben, und an den Problemen, die Araber uns Europäern machen. Für die Behauptung, dass es sich um religiös verursachte Konflikte handelt, werden wahlweise die Kreuzzüge oder die „Religionskriege“ des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa zum Vergleich herangezogen. Auf vielen heutigen Karte der arabischen Welt wird die Verbreitung der einzelnen islamischen Glaubensrichtungen gezeigt:
    Sunniten, Shia, Wahhabiten, Aleviten, Alawiten, Ibaditen usw.
    Dazu kommen noch Drusen, Juden, Jeziden, Christen und andere.


    Erklärt wird mit der Religionsverteilung nichts. In Europa gibt es auch neben Moslems und Juden viele Schattierungen von christlichen Kirchen und Sekten. Niemand kommt auf die Idee, für Europa eine Karte mit der Verteilung von Kirchen und Religionen anzufertigen.
    Für historisch Gebildete und erst recht für Marxisten, ist Religionszugehörigkeit keine ausreichende Erklärung weder für gesellschaftliche Zustände, noch für tiefgehende Konflikte.
    Wer die arabischen Konfliktzonen analysieren und verstehen will, der muss jenseits des Islam schauen. Wer die arabischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten jenseits des Islam verstehen will, muss die materielle Machtbasis der arabischen Staaten in den Blick nehmen.


    Die materielle Machtbasis der arabischen Staaten verteilt sich ungefähr wie folgt:

    A: Reine Ölstaaten
    viel Öl – wenige Einwohner
    B: Öl- u. Bevölkerungsstaaten
    viel Öl – viele Einwohner
    C: Bevölkerungsstaaten
    kein Öl – viele Einwohner
    Golfstaaten Irak Türkei
    Kuweit Iran Jordanien
    Ver. Arab. Emirate Saudi-Arabien Tunesien
    Libyen Algerien Marokko
    Ägypten
    Syrien
    Jemen
    Palästina


    Aus dieser Dreiteilung der arabischen Welt lassen sich die Konflikte innerhalb der arabischen Welt und zwischen den arabischen Ländern und dem „Westen“ besser und schlüssiger erklären als mit dem Islam und der Religionszugehörigkeit.


    1.Die arabische Gemeinsamkeit
    Gemeinsam ist der arabischen Welt, dass der Rohstoff Öl eine bedeutsame wirtschaftliche Rolle spielt. Die arabischen Ölstaaten besitzen mit der Ölförderung einen profitablen Zugang zum kapitalistischen Weltmarkt. Ölförderung begünstigte eine wirtschaftliche Monokultur. Neben der Ölförderung und Ölverarbeitung blieb die Landwirtschaft rückständig. Die arabischen Staaten besitzen keine breiter aufgestellten Industrien und Technologien.
    In dieser Monokultur konnte sich auch keine breitere und diversifizierte Lohnarbeiterklasse entwickeln. Wer in diesen Staaten lohnabhängig ist, ist es meist im Dienst des Staates und erwartet ein Einkommen ohne Anstrengung.
    Da die Ölförderung und noch mehr die Ölverarbeitung einen vergleichsweise hohen Kapitaleinsatz erfordert, blieben die Ölstaaten weitgehend monopolistisch strukturiert mit dem Staat als Besitzer und Verwalter des gesellschaftlichen Reichtums. Die arabischen Ölstaaten entwickelten einen Staatsmonopolismus in einem noch engeren Sinn als die ehemalige Sowjetunion.
    Die staatsmonopolistischen Gemeinsamkeiten mit der Sowjetunion begünstigten die politische Annäherung an die UdSSR – einschließlich des staatlich hoch subventionierten Konsums der Bevölkerung. Der arabische „Sozialstaat“ und die politische Annäherung an die Sowjetunion schufen die Vorstellung, die arabischen Staaten seien irgendwie „fortschrittlich“ und „links“. Der arabische „Ölsozialismus“ wurde zum Vorbild auch in Südamerika (Venezuela). Der arabische Ölsozialismus gibt auch das Modell ab für die Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens.
    In all diesen Ansichten von und über Arabien spielte der Islam lange Zeit keine Rolle.


    2.Die Unterschiede in der arabischen Welt
    2.1. Arabische Bevölkerungsstaaten
    Betrachten wir zunächst die arabischen Bevölkerungsstaaten, deren Machtbasis nur „Manpower“ ohne bedeutsame Ölvorkommen sind. Das sind Ägypten, Tunesien, Marokko, Algerien, Libanon, Syrien und Palästina. Sie bilden das Armenhaus, das voller Neid auf die arabischen Nachbarn blickt. Sie exportierten weniger Ware als vielmehr Arbeitskräfte. Diese Regierungen kommen als Bittsteller zu ihren arabischen Nachbarn oder nach Europa.
    Europäisches Kapital kam in Form von Hotelanlagen, aber auch als Industriekapital ins Land. Französische Autofirmen haben Montagewerke in Marokko.
    In den nordafrikanischen Bevölkerungsstaaten rief die allgemeine kapitalistische Krise den „arabischen Frühling“ hervor: Eine Revolte der städtischen „Mittelschichten“, der Gebildeten und Bessergestellten ohne Zukunftsperspektive. Eine Revolte, die gegen eine autokratische und überalterte Führungsschicht ohne zukunftsweisende Konzepte aufbegehrte. Der steigende Brotpreis lieferte die Fieberkurve für die Empörung.
    Libyen wurde trotz funktionierender Ölförderung in diesen arabischen Aufstand einbezogen. Für Libyen und nur für Libyen kann man dafür ausländische Einmischung geltend machen.
    Der arabische Aufstand ist weitgehend gescheitert, aber die Probleme, die ihn ausgelöst hatten, bestehen weiter. Mit verstärkter Repression werden sich die Machthaber nicht lange durchsetzen können. Das arabische Staatsmodell basiert weniger auf Unterdrückung als auf „sozialstaatlicher“ Umverteilung des vorhandenen Reichtums. Es bleibt aber im Staatssäckel immer weniger umzuverteilen. Die arabischen Bevölkerungsstaaten werden dauerhaft und chronisch Krisengebiete und Krisenherde bleiben. Ihre Regierungen müssen anderswo um Subventionen und Unterstützung betteln gehen.


    2.2. Kleinere Ölstaaten
    Diese Golfstaaten, Kuweit, Oman, die Vereinigten arabischen Emirate, aber auch Libyen, „schwimmen“ im Öl-Reichtum. Katar hat mit 80.000 US-Dollar ein Bruttosozialprodukt pro Kopf, von dem die kapitalistische Kernzone nur träumt. Die kleinen Ölstaaten sind nicht auf westliches Kapital angewiesen, ganz im Gegenteil, sie investieren Kapital in Europa. Den Kataris gehören Teile der Londoner Börse und der Schweizer Bank Credit Suisse.
    Die kleinen Ölstaaten wurden zum bewunderten Vorbild der arabischen Welt. Bis auf ein kurzes Intermezzo blieben diese Staaten vom „arabischen Frühling“ verschont.
    Außenpolitisch fühlten sich die kleinen Ölstaaten unabhängig und können auch leicht ihre Partner wechseln.
    Von der europäischen Linken werden diese Staaten und ihre Regierungen gerne als Inbegriff korrupter Rentenbezieher kritisiert. Diese Staaten und Regierungen sind reich und müssen Kritik von europäischen Linken nicht fürchten.
    Für Araber bleiben diese Staaten vorbildlich, weil sie in der Lage sind, für ihre Bürger eine „sozialstaatliche“ Umverteilung zu verwirklichen, die alle sozialdemokratischen und sozialistischen Träume übertrifft.


    2.3. Arabische Öl- und Bevölkerungsstaaten
    Dass Staaten wie der Irak, der Iran und Saudi-Arabien in ständigem Streit und Krieg miteinander liegen, hat wenig mit ihrem islamischen Glauben, aber viel damit zu tun, dass sie über eine breitere Machtbasis verfügen: Öl und Menschen.
    Es ist die Staaten-Konkurrenz um politischen und wirtschaftlichen Einfluss, der diese Staaten gegeneinanderstellt, nicht ihre Glaubensrichtungen. Jeder von diesen Staaten ist mächtig genug, um von einem Großreich zu träumen. Solange es ähnlich mächtige Konkurrenten gibt, wird aus diesen nationalistischen Träumen nichts werden. Das macht diese Staaten untereinander zum Feind.
    Durch ihre Intervention im Irak, hatten die USA und ihre Verbündeten versucht, das arabische Kräftedreieck zugunsten des westlich orientierten Saudi-Arabiens zu verschieben. Die US-Intervention ist ziemlich schief gelaufen – teils durch den Widerstand im Irak, wie auch durch das Eingreifen des Iran.
    Das Scheitern des US-Imperialismus seit 2003 folgt dem und vollendet das Scheitern von 1956, als sich die traditionellen Kolonialmächte Frankreich und England aus dem Nahen Osten zurückziehen mussten. Die arabische Welt ist gründlich „entkolonialisiert“ und mehr oder minder auf sich allein gestellt.


    3.Schluss
    Die entwickelten Kapitalnationen haben in den arabischen Ländern gründlich abgewirtschaftet. Da die kapitalistische Kernzone selbst in einer chronischen Krise steckt, kann sie weder mit Kapital winken, noch hat sie die Ressourcen für eine militärische Beherrschung der arabischen Welt. Der Niedergang der europäischen Mächte macht einen Großteil des gestiegenen arabischen Selbstbewusstseins aus – vor allem wenn dieses Selbstbewusstsein islamisch gekleidet einherstolziert.
    Der „Westen“ ist dekadent, das ist wahr, aber der wirtschaftliche Niedergang des Westens bringt nicht automatisch einen kulturellen und ökonomischen Aufstieg der arabischen Nationen.
    Ganz im Gegenteil: Eigene und zukunftsweisende Konzepte sind in der arabischen Welt nicht zu finden. Der Rückgriff auf überholte religiöse Vorstellungen gepaart mit autoritären Regierungsmethoden ist weder für die Mehrzahl der moslemischen Gläubigen noch für uns „Ungläubige“ attraktiv.
    Die Welt des Nahen Ostens bleibt zerrissen und perspektivlos. Die arabische Krise und die nordafrikanische Völkerwanderung werden bleiben,
    meint Wal Buchenberg.


    Siehe auch:
    http://marx-forum.de/Forum/ind…20-Schlangengrube-Syrien/


    http://marx-forum.de/Forum/ind…/410-Der-Islam-in-Europa/


    http://marx-forum.de/Forum/ind…-endlose-Krieg-in-Nahost/


    http://marx-forum.de/Forum/ind…cher-R%C3%A4uberstaat-IS/

  • Hallo Wal,


    Danke für diese Deine (mir sehr nachvollziehbare) Gedankengänge. Schön wäre es ja, wenn jemand, der die Situation vor Ort aus eigenem Erleben kennt, da noch seine (vielleicht auch ganz anderen) Gesichtspunkte dazu beitragen könnte.


    Eine Bitte habe ich:
    Kannst Du bitte in Deine Grafik noch die heutigen Staaten beschriften? Ich muß nämlich gestehen, daß ich mir einen Atlas nehmen mußte, weil ich da leider nicht fit genug war, mir die Länder sofort aus dem Kopf richtig einzutragen.


    Liebe Grüße - Wat.


    Edit: DONE
    und Grüße!
    Wal

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