Manchmal muss man sich über die Zähigkeit und Fähigkeit wundern, wie die aktuelle Reproduktionsweise, unter der die Mehrzahl der Menschen geknechtet und geschädigt wird, sich trotz Krisen, trotz Armut, trotz weltweitem Elend, trotz Krieg und Terror immer wieder behaupten kann. Aber noch mehr wird diese Tatsache durch die Bereitschaft übertroffen, mit der die Menschen dieses Reproduktionssystem dulden, das doch ganz offenkundig das Wohlergehen der Menschen unmöglich macht oder gleich zerstört. Ich vermute, dass ein Grund für dieses Verhalten darin liegt, dass sich die Menschen mit „Werten“ in dieser Welt einrichten und damit zumindest zum Teil ihrer miserablen Lebensumstände kompensieren, indem sie sie quasi ins Fiktive verfabulieren. Dann legt man aber seinen Verstand beiseite und erklärt sich die (politischen, ökonomischen) Vorgänge auf der Welt halt moralisch: mit gut oder böse und schlecht, anhand von Sittlichkeit und (Un)Tugenden usw..
Werte legen sich Menschen aus allen möglichen Gründen zu. Manchmal aus Zufall, weil eine Wertvorstellung in einem Moment gerade persönlich passend scheint, manchmal, weil einem die Werte die man von den Eltern übernommen und in der Schule gelernt hat, eingeleuchtet haben und mit ihnen bisher recht und schlecht irgendwie im Leben zurecht gekommen ist, sodass sie einem vertraut geworden sind, manchmal auch aus persönlichen Schwächen oder Stärken, wo eine Wertvorstellung schon mal hilfreich sein kann und aus vielen anderen Gründen mehr.
Der wohl allgemeinste Grund, dass sich Menschen Werte aneignen, dürfte in dem Bedürfnis liegen, sich anhand von Wertvorstellungen in diesem Leben zu orientieren. Mit einer Werteordnung im Kopf fühlen sich Menschen in dem ihnen undurchschaubar und widersprüchlich entgegentretenden Leben dann doch irgendwie aufgehoben, mit ihnen glauben und hoffen sie besser – auch materiell - zurecht zu kommen. Dabei werden die Werte von ihren Trägern stets als positiv oder gleich als Wahrheiten angesehen und vertreten. Werden sie kritisiert werden sie unmittelbar als Angriff auf die eigene Person oder gar Existenz aufgefasst und moralisch als Beleidigung oder Herabwürdigung ausgelegt. Werte werden deshalb nie in Frage gestellt, sondern, je nachdem, mehr oder weniger leidenschaftlich behauptet oder verteidigt.
Menschen mit einer aus Werten zusammengesetzten Vorstellung von der Welt ordnen alle Widersprüchlichkeiten und Unannehmlichkeiten, die ihnen so im wirklichen Leben widerfahren, in dieses Weltbild ein und ihm unter. Mit diesem Weltbild richten sie sich in diesem Leben ein, und vernachlässigen oder finden es gleich für gar nicht mehr nötig, sich Gedanken darüber zu machen, was die Ursachen für das Vorhandensein der Dinge und Handlungen sind, die ihnen das Leben oft gar schwer und nicht selten, denkt man an Armut und Krieg, unerträglich machen. Mit Werten findet auch der Ärmste und Bedrohteste noch seinen Platz und kommt irgendwie mit der Wirklichkeit zurecht.
Werte sind Axiome, die sich nicht begründen lassen. Das Dumme daran ist deshalb, dass man sich darüber zwar trefflich streiten, aber leider zu keiner Erkenntnis und damit Einigung gelangen kann. Werden sie kollektiv wahrgenommen, also als Ideologie vertreten, kann man im Streitfall im besten Fall erreichen, einen Kompromiss zu finden, der es bei ausreichend Räumlichkeiten und in einem halbwegs geordneten politischen Rahmen - zumindest für eine Weile – erlaubt, friedlich nebeneinander her zu leben. Aber ein gemeinsames Interesse an der Erkenntnis der Wirklichkeit, also an den menschlichen (vielfach fürchterlichen) Lebensbedingungen, um daraus Entscheidungen und Handlungen im gemeinsamen Interesse ableiten zu können, das nicht möglich.
Deshalb ist eines klar, mit wissen und verstehen wollen, haben Werte gewiss nichts zu tun. Sie sind das Gegenteil von Wissen; aber nicht als Ausdruck von Nichtwissen im Sinne von dumm sein, sondern im Sinne von dumm sein und dumm bleiben w o l l e n. Während dabei dumm sein nicht weiter schlimm ist, da dieser Zustand heutzutage ja mit ein bisschen Lernbereitschaft und Nachdenken überwunden werden kann, ist es das dumm bleiben wollen allerdings schon, denn damit wird das Bemühen anhand Analysieren, Aufdecken, Wissen und Erklären Lösungen hinsichtlich der menschlichen Lebensbedingungen, insbesondere deren qualitative Verbesserung, zu finden und angemessene Entscheidungen zu treffen grundsätzlich ausgeschaltet. Als solchermaßen durch das dumm bleiben wollen Überzeugte sind sie für Kritik unzugänglich, die den Sinn und Nutzen eines Wertes in Frage stellt. Gegen Werte kommen Kritiker mit Vernunft, Wissen oder Argumenten niemals an.
Solange ein Individuum sein persönliches Leben nach seinen Werten ausrichten will und den andern damit nicht weiter auf die Nerven geht, ist das vielleicht dumm aber nicht weiter schädlich. Wenn allerdings ein Kollektiv, ein Verband von Individuen, eine Gesellschaft, oder gar eine Nation etc., das tut, ist das im Allgemeinen gefährlich. Denn wenn die von einer schädlichen Produktionsweise und/oder einem Gesellschaftssystem hervorgerufenen negativen Erscheinungen nicht mehr auf diese und deren Schädlichkeit selbst sondern auf Werte zurückgeführt werden, so wie wir es gegenwärtig bei den Islamisten oder im umgekehrten Fall bei Pegida sehen, dann prallen Werte, also Nichtwissen bzw. Dummheit, aufeinander. Dann geht es nicht mehr um Erklärung der (politischen, ökonomischen) Wirklichkeit und die gemeinsame Lösung von Problemen zugunsten der Lohnarbeiter, sondern um den (letztlich gewaltsam enden müssenden) Versuch die eigenen Werte durchzusetzen.
Nützlich sind Werte lediglich für die Eliten von Kollektiven, wie z.B. von Leuten, die es in einer kapitalistischen Gesellschaft zu was gebracht haben und im Gegensatz zum Rest materiell und auch sonst recht gut da stehen. Natürlich haben auch sie Probleme, auch sie werden von ihren Konkurrenten geschädigt und verlieren nicht selten Ansehen und Reichtum und brauchen deshalb für ihre unvorhergesehenen Niederlagen und Abstürze genau wie für ihre unergründlichen subjektiven Erfolge ihre Werteordnung, um mit beidem irgendwie zurecht zu kommen. Aber sie richten sich eine Ordnung ein, die ihnen als Elite zukommt, die für sie passend ist und verallgemeinern sie aufgrund ihres herrschenden Einflusses auf die gesamte Gesellschaft (so wie halt die entscheidenden Sitten und Bräuche in der Geschichte eben immer die der herrschenden Klassen waren). Dabei streben sie vielfach nicht einmal diese Werte für sich selbst an, sondern w i s s e n um deren Nützlichkeit für ihre eigenen Interessen. Als besonders vorteilhaft erweist sich insbesondere der pragmatische Umgang mit ihnen, wenn sich manch offensichtlicher Widerspruch oder Missstand, den das kapitalistische Produzieren so mit sich bringt, auf ziemliche dämliche Weise anhand von Werten erklären lässt, was aber die Betroffenen nicht laut auflachen lässt, sondern, wenn vielleicht auch unter Schmerzen, ihnen als hinnehmbar einleuchtet. Unter den Eliten eines Kollektivs verkommen Werte allmählich und schließlich zu einem System von Unwahrheiten und Lügen, einer Ideologie also, die irgendwann nur noch das Interesse am Erhalt des eigenen Privilegs verschleiern helfen.
Während Werte also für die herrschende Klasse die nützliche Funktion übernehmen, von deren wahren (politischen, ökonomischen) Mitteln und Zwecken abzusehen, liegt es auf der Hand, dass es sich für die Lohnarbeiter, nicht auszahlen kann, wenn sie nach Werten streben. Ob es nun diese der herrschenden Klasse sind, oder ob sie sich selber welche zusammenbasteln, in beiden Fällen unterwerfen sich die Lohnarbeiter, weil sie ihre genuinen materiellen und kulturellen Interessen den Wertvorstellungen unterwerfen oder zumindest nicht mehr in den Mittelpunkt stellen. Aber wie wir wissen, ist das Lohnarbeiterdasein im Allgemeinen eine triste Angelegenheit aus Mühsal und billiger Vergnügung, für das es genügend Gründe gäbe, es zugunsten eines angenehmen und friedlichen Lebens aus dem menschlichen Leben für immer verschwinden zu lassen. Will man das ernsthaft erreichen, müssen Lohnarbeiter oder zumindest ein großer Teil von ihnen allerdings begriffen haben, was die Ursachen für ihre miesen Lebensbedingungen sind, um sie dann auch richtig zu bekämpfen zu können. Lassen sie sich aber auf Werte und nicht auf Wissen ein, sind sie verloren, dann beschränkt sich ihre Kritik vor allem auf das Einfordern der Ideale, die den Werten zugrunde liegen. Damit bleiben ihre (vermeintliche) Kritik und ihr Kampf aber folgenlos, weil, da es sich ja um unerfüllbare Fiktionen handelt, das Einfordern von Werten eben unmöglich ist. Mit der Forderung der Erfüllung von Werten (Demokratie, Nation, Gerechtigkeit etc.) erhält die Politik aber einen Inhalt und eine Verstetigung, in dem die wirkliche Situation, die materiellen Lebensbedingungen der Lohnarbeiter, nicht mehr im Mittelpunkt stehen und Forderungen nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen nur noch als Störfaktoren wahrgenommen werden, die allgemein mit Reformen abzuwickeln sind.
Noch schlimmer, noch schädlicher aber ist die Parteinahme, die auf (nationalen, religiösen, sittlichen usw.) Werten basiert, wenn sie kollektiv zur Abgrenzung von anderen Kollektiven eingenommen werden. Dann nämlich geben die Lohnarbeiter gleich ihre Interessen gegenüber den sie gängelnden Unterdrückern und Nutznießern völlig auf und richten stattdessen ihr Interesse darauf, ihre Werte gegenüber andern Kollektiven zu verteidigen und durchzusetzen, wobei der Witz dabei ist, dass sie sich einbilden damit auch materielle Interessen zu verfolgen. Aber ob ein Lohnarbeiter zum Beispiel abend- oder morgenländisch, europäisch oder asiatisch, christlich oder muslimisch usw. fühlt und denkt, bleibt auf seine Lebensbedingungen bezogen für ihn gleich, denn er bleibt, solange sich das archaische Reproduktionssystem nicht ändert, immer zuerst Lohnarbeiter, der durch den Zwang mit seinesgleichen zu konkurrieren, stets auf dem Reproduktionsniveau (und vielfach darunter) landet und verharren muss und -schlimmer noch –, wenn es sein muss, hin und wieder als Kanonenfutter in Kriegen herhalten muss, die ja offiziell immer zur Verteidigung von Werten (Frieden) geführt werden, aber in Wirklichkeit, was dann leider vergessen wird, den Zwecken von Staat und Kapital dienen . Ob unter dieser oder jener Werteordnung, solange es Lohnarbeiter gibt, und solange die Lohnarbeiter nicht diesen Status los werden wollen, werden sie immer die Angeschmierten bleiben. Lohnarbeiter dürfen in ihrem eigenen Interesse keine Werte haben.
Wer als Lohnarbeiter Werte statt Materialismus bzw. angenehme Lebensbedingungen im Kopf hat, der erklärt sich seine Lage automatisch, also ohne gründlich nachzudenken, falsch. Der bildet sich ein, dass es ihm in der Geborgenheit einer Werteordnung besser ginge, dem gelten Werte als etwas für ihn nützliches. Der kümmert sich nicht oder kaum mehr um seine materiellen Interessen, sondern erklärt seine eigenen Verhältnisse vorrangig unter dem Einfluss seiner Werte. Der gibt sich mit allen Schädigungen zufrieden, solange sie sich in seine Wertvorstellungen einordnen lassen. Der hat sich anhand seiner Werte mit einer Lage abgefunden, wo jede darüber hinausgehende Kopfanstrengung als sinnlos erscheinen muss. Der ist nicht mehr für (wissenschaftliche) Kritik zugänglich und der wird natürlich nie kapieren, dass es die kapitalistische Konkurrenz ist, die auf ewig dafür sorgt, dass Leute wie er immer miserabel leben müssen, solange nicht auf der Grundlage von Wissen in ihrem eigenen Interesse produziert wird.
Kim B.