Kobane und der endlose Krieg in Nahost

  • 1. Die Kurden
    Die Kurden kämpfen seit 1923 für einen eigenen Staat. Allein in der Türkei hat der innere Krieg mit der PKK fast 40.000 Menschenleben gekostet.
    Die aktuelle Entwicklung läuft aber darauf hin, dass nicht nur ein einziger Kurdenstaat entsteht, sondern vielleicht drei und mehr.
    Im Norden Iraks sind die Kurden faktisch schon unabhängig und werden in einer zerbrechlichen Allianz von zwei kurdischen Politik-Fraktionen beherrscht.
    In Syrien entstanden in Rojawa kurdisch verwaltete Regionen, darunter auch Kobane.
    Dass die Kurden in Syrien sich nun als Speerspitze einer US-geführten Koalition gegen den Islamischen Staat präsentieren, dient ihrem kurzsichtigen Interesse an einem eigenen Staatsterritorium. Langfristig zerstören sie damit ihre Chancen für ein friedliches Zusammenleben mit anderen Ethnien und Religionsgemeinschaften der Region – vor allem mit den Sunniten.


    Der lange behinderte Staatsbildungsprozess der Kurden nimmt zwar nun Fahrt auf, aber die Fahrt mündet nicht in ruhige Wasser. Es ist abzusehen, dass bis zu einer dauerhaften Grenzziehung des künftigen Kurdenstaates noch viel geschossen und viel gestorben wird.


    2. Syrien
    Noch im letzten Jahr verhinderten weltweiter Protest und ablehnende Mehrheiten im amerikanischen Senat und im britischen Parlament ein direktes Eingreifen der USA in den Bürgerkrieg in Syrien, als dort chemische Kampfstoffe zum Einsatz kamen. Heute werden die USA quasi von der Weltöffentlichkeit einschließlich einer rat- und orientierungslosen Linken in Europa zum militärischen Eingreifen in Syrien gedrängt und gebeten.
    Und nicht nur die USA haben eine von der UNO „genehmigte“ Eintrittskarte in den syrisch-irakischen Bürgerkrieg, sondern auch weitere zehn nähere und fernere Staaten.
    Im Sicherheitsrat der UNO ließen sich die USA absegnen: „Der IS muss besiegt werden und Intoleranz, Gewalt und Hass, den er hervorruft, müssen beseitigt werden.“ Da wird Hass, Gewalt und Intoleranz mit noch mehr Gewalt, Intoleranz und Hass bekämpft.


    Wer nun meint, es sei ein „humanitärer“ Vorteil, dass die US-Regierung (bislang!) keine Bodentruppen in Syrien und im Irak einsetzen will, der kennt nicht die Gesetze des Kampf-Dschungels in dieser vom Krieg zerfressenen Region. In Syrien allein gibt es neun verschiedene Milizen, die jeweils von anderen umliegenden Regionalmächten unterstützt und gefördert werden.
    Siehe die folgende Grafik:



    3. Israel
    Kürzlich griffen syrische Milizen die UNO-Soldaten auf den Golanhöhen an, die dort die Waffenstillstandslinie zu Israel bewachten. Die UNO-Truppen sind daraufhin abgezogen. Der Staat Israel befand sich vorher schon de facto mit jedem anderen Staat der Region im Kriegszustand. Und die Regierung in Tel Aviv ist mit dem Einsatz militärischer Mittel nicht zimperlich. Wo immer diese Regierung ihre Interessen bedroht sieht, wird Israel schnell zur aktiven Kriegspartei.


    4. Iran
    Der „Gottesstaat“ Iran ist Modell und Vorbild aller islamischen „Gotteskrieger“.
    Oberste Machtinstanz des Iran ist ein Geistlicher, der in seiner Hand die höchste religiöse, richterliche und staatliche Macht vereint. Ihm zu Seite steht ein „Wächterrat“ von 86 geistlichen Führern, die jedes Gesetz auf die Übereinstimmung mit der islamischen Lehre überprüfen und die auch das Militär und besondere Milizen befehligen.
    All die theokratischen Keime und Auswüchse, die beim Islamischen Staat gerne als „terroristisch“ oder gar als „faschistisch“ denunziert werden, finden wir beim Iran voll ausgebildet und entwickelt.
    Trotzdem gibt es ernstzunehmende Meinungen, die den Iran als einen der am wenigsten religiösen Staaten in der arabischen Welt bezeichnen. Der Economist zitiert die Tochter eines hohen iranischen Klerikers mit den Worten: „Religiöse Vorstellungen sind im Iran weitgehend verschwunden. Glaube wurde ersetzt durch Ablehnung.“


    In anderen arabischen Ländern wurde der politische Islam über Jahrzehnte hin unterdrückt und bekämpft. Das führte dazu, dass sich seine Anhänger zunehmend radikalisierten. Der politische Islam hat in der arabischen Welt weder an Einfluss noch an Anhängern verloren. Durch Unterdrückung lässt sich religiöser Glaube nicht zurückdrängen.
    Das zeigt sich im Gegenbeweis auch im Iran, wo der Islam nicht unterdrückt, sondern staatlich gefördert wird.
    „Die große Ironie ist, dass die islamische Revolution im Iran unvermeidlich mehr dazu beigetragen hat, das Land und seine Bewohner zu säkularisieren als die Tyrannei des Schah von Persiens, der sich 1953 an die Macht geputscht hatte und islamische Geistliche verfolgte. Die Ayatollahs zwangen den Menschen im Iran die islamische Religion auf und unterminierten dadurch die Gläubigkeit. Die Menschen des heutigen Iran sind es leid, mit Predigten zugeschüttet zu werden. Sie hören nicht mehr hin.“ (The Economist, Special Report Iran, 5)
    Der Iranische Staat ist immer noch ein vormodernes Monster mit einem drakonischen Strafgesetz und einer allgegenwärtigen politisch-sozialen Unterdrückung vor allem der Frauen. Aber arabische Frauen, die den Iran besuchten, fühlen sich im Iran freier als in ihrer arabischen Heimat, wo Frauenfeindlichkeit weniger offiziell betrieben wird, aber desto tiefer und schmerzlicher im Alltag verwurzelt ist.
    An iranischen Universitäten studieren zweimal so viele Frauen wie Männer. Und feste, aber verbotene Partnerschaften sind unter unverheirateten Jugendlichen und jungen Erwachsenen mittlerweile normal.


    Der Iran war bisher – wie die Kurden – der stille Nutznießer der US-Kriege gegen den Irak.
    Die irakische Shia-Regierung ist mehr oder minder abhängig von iranischem Wohlwollen. Wann immer es der iranischen Regierung nötig scheint, wird sie von der Regierung in Bagdad „eingeladen“, mit eigenen Truppen in den regionalen Konflikt einzugreifen. Abgesehen von einem direkten militärischen Eingreifen steht der Iran hinter den Milizen der Hisbollah im Libanon und der palästinenschichen Hamas.
    Der Iran ist außerdem die wichtigste Stütze des Assad-Regimes in Syrien.


    5. Irak
    Im Irak haben die USA den Krieg gewonnen und den Frieden verloren. Wie die letzten 100 Jahre gezeigt haben, kann eine Siegermacht den Frieden nur gewinnen, wenn sie auf alle Siegprämien verzichtet. Im ersten Weltkrieg wollten die Siegermächte die unterlegenen Gegner Deutschland und Österreich für den Krieg bezahlen lassen, und mussten für ihre Kurzsichtigkeit teuer im zweiten Weltkrieg bezahlen.
    Nach dem zweiten Weltkrieg verzichteten die USA auf alle Siegprämien gegenüber Deutschland. Stalin meinte jedoch, er könne aus Ostdeutschland und Osteuropa eine Siegesdividende ziehen. Das war der Anfang vom Untergang des sowjetischen Imperiums.


    Die US-Regierung hat ihre Ziele und Zwecke in den Irakkriegen von 2003 bis 2011 nicht annähernd erreicht. Jetzt beginnt sie eine weitere Neuauflage des Irak-Krieges unter noch ungünstigeren Bedingungen als zu Zeiten von Saddam Hussein.
    Der Bürgerkrieg hat das Land zerrissen, und auf keine der Bürgerkriegsparteien kann die US-Regierung vertrauen. Umgekehrt traut auch keine der Bürgerkriegsparteien den USA.
    Die unvermeidliche Folge wird sein, dass dieser syrisch-irakische Bürgerkrieg sich noch Jahre und Jahrzehnte hinschleppen wird. Für die ganze Region wird das eine Katastrophe werden wie der 30jährige Krieg in Europa. Und der 30jährige Krieg endete erst nach der völligen Erschöpfung aller Kriegsparteien.


    Der Nato-geschürte unaufhörliche Krieg in Nahost wird nicht auf die dortige Region beschränkt bleiben, sondern den antiwestlichen Aufruhr in der gesamten islamischen Welt schüren und am Leben halten. Terroristische Attentate können überall in der Welt zum Alltag werden wie die Verkehrstoten auf den Bundesautobahnen,
    meint Wal Buchenberg

  • Frage wäre, was eine progressive Lösung wäre. Sich mit dem IS an den Verhandlungstisch setzen? Fraglich ob die das überhaupt wollen. Rojava nicht unterstützen und dem IS überlassen? Die europäischen Lohnabhängigen mögen zu derlei Überlegungen ohnehin nichts beisteuern können, aber kann Raushalten die Lösung sein?


    Einige vergleichen das quasi-rätedemokratische und kommunalistische Projekt (PKK-Chef Öcalan bezieht sich seit einigen Jahren ja auf die Schriften des US-amerikanischen Kommunalisten Murray Bookchin und strebt einen "Demokratischen Konföderalismus" der kurdischen "Kantone" ohne Übernahme irgendeiner Staatsmacht oder Aufbau solcher an) mit der Situation Barcelonas im Spanischen Bürgerkrieg. Damals hätte es den libertären Kommunisten auch nicht geholfen dass die Westmächte der Sowjetunion und den faschistischen Staaten Italien und Deutschland das Feld überlassen hätten. Ich sehe das alles skeptisch, der Hinweis bringt aber zum Nachdenken.


    Inwiefern mit religiösen Fundamentalisten oder Faschisten überhaupt verhandelt werden sollte, ist eben so eine Frage. Denn letztlich hätten Verhandlungen ja z.B. auch kaum die faschistischen Regime gestoppt.

  • Frage wäre, was eine progressive Lösung wäre.


    Vorher kommt doch wohl erst die Frage: Was ist eigentlich das Problem, das zu lösen ist? Meiner Meinung nach ist der endlose Krieg im Nahen Osten das (Haupt)Problem.

    Sich mit dem IS an den Verhandlungstisch setzen? Fraglich ob die das überhaupt wollen. Rojava nicht unterstützen und dem IS überlassen? Die europäischen Lohnabhängigen mögen zu derlei Überlegungen ohnehin nichts beisteuern können, aber kann Raushalten die Lösung sein?


    Wieder meine Gegenfrage: Was ist deiner Meinung nach das vorrangige Problem?
    Meiner Ansicht nach ist der jahrelange Nahostkrieg ein verbrecherischer Krieg, der von den Hauptkriegsparteien (IS, Nato, Israel, arabische Staaten) aus machtpolitischen und räuberisch-ökonomischen Interessen geführt wird.
    Gibt es da einen besseren Rat an die Lohnabhängigen in Europa, als sich gegen diesen Krieg zu erklären, die kriegführenden Parteien nicht zu unterstützen und sich möglichst aus diesem Krieg rauszuhalten?


    Die Situation wird allerdings durch die verzweifelte Lage in Kobane verkompliziert. Dazu habe ich mich oben schon klar geäußert:
    Wenn die Verteidiger von Kobane die Stadt nicht auf die eigenen Kräfte gestützt halten konnten und vor der Alternative standen: Mit der gesamten Bevölkerung von rund 100.000 Menschen aus Kobane fliehen oder den USA und der Nato einen billigen Grund zu liefern, sich dauerhaft in den syrisch-irakischen Bürgerkrieg einzumischen, - ein Krieg, von dem direkt und indirekt 200 Millionen Menschen in der Region betroffen sind - , dann wäre es dringend angeraten gewesen, sich aus Kobane zurückzuziehen.


    Sorry, was anderes fällt mir dazu nicht ein - und die Analogie zum spanischen Bürgerkrieg halte ich für ebenso an den Haaren herbeigezogen wie der Vergleich mit der Antihitlerkoalition.
    Gruß Wal

  • Jo, Wal, du hast natürlich die Arbeit gehabt. Andererseits fand ich deine Antwort wirklich wertvoll.
    Wir vergessen ziemlich schnell, dass wir gar nicht wissen, was Krieg bedeutet. Wir drehen in jeder Phase des Kampfes die Waffen rum und schon haben wir die korrekte Linie. :|
    Den Nahe Osten als Region des Krieges zu charaktersieren halte ich für richtig und das dürfte die Mehrheit der Bevölkerung ebenso nüchtern sehen. Und die konkurrierenden Nationalismen und religiösen Dogmen sind nicht attraktiv hier und solange in der Region keine Mehrheiten entstehen, die sich davon abgrenzen, können sie bis zur Erschöpfung sich fortsetzen.

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