Man sagt, das erste Opfer eines Krieges sei die Wahrheit. Falls das zutrifft, herrscht in der Ukraine schon Krieg: Die Protestierenden der einen Seite werden „Terroristen“ und „Separatisten“ genannt; die nennen ihre Gegner „Faschisten“ und „Putschisten“. Beide sehen in ihren Gegnern Handlanger ausländischer Mächte.
Um für mich selbst einen Überblick über die Ereignisse zu bekommen, habe ich aus westlichen und östlichen Medien (Tass, Radio Moskau) einige Informationen zusammengetragen, die vielleicht ein verständliches Gesamtbild ergeben. Gewähr für jedes Detail kann ich nicht versprechen.
Die folgende Karte zeigt die Protestbewegungen in der Ostukraine in diesem Monat gegen die Übergangsregierung in Kiew.
Die Protestbewegung in der Ostukraine speist sich aus einem zahlenmäßig geringen Teil der Bevölkerung. Nur selten erreichen Demonstrationszüge eine Größe von 5000 Teilnehmern. Die Teilnehmer treten aber recht aggressiv auf. Sie sind häufig defensiv oder offensiv bewaffnet. Es kam an vielen Orten zu Schlägereien zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten. In vielen Städten wurden öffentliche Gebäude besetzt, in denen sich die Demonstranten verbarrikadierten. Aber nur eine einzige Stadt, Slawjansk, mit gut 100.000 Einwohner wird vollständig von Aufständischen kontrolliert.
Meldungen aus einzelnen Orten:
Kramatorsk: Hier ist die Zentrale des ukrainischen Geheimdienstes SBU von Aufständischen besetzt. Der Polizeichef soll sich in der Hand der Aufständischen befinden und nach Slawjansk gebracht worden sein. Als am 17. April ukrainische Schützenpanzer gegen die Aufständischen vorgehen wollen, werden sie von einer empörten Menschenmenge umzingelt und aufgehalten. Sechs ukrainische Schützenpanzer sollen die Seiten gewechselt haben. Die Zufahrtswege zur Stadt werden seitdem von den Aufständischen mit Straßensperren kontrolliert.
Mariupol: 18. April: Bei der Abwehr eines Angriffs auf die Militärbasis sollen drei Angreifer ums Leben gekommen sein.
Charkiw, 20. April: Nach einer Demo von einigen tausend Teilnehmern wurde das Gebäude der Gebietsregierung besetzt und russische Fahnen gehisst.
Inzwischen ist das Gebäude wieder in der Hand von Kiew-Anhängern. Die lokalen Polizeikräfte stehen einigermaßen loyal zur Kiewer Regierung. Einer der Protestführer, ein Journalist, wurde von der Polizei festgenommen.
Luhansk: Das Gebäude des Geheimdienstes SBU ist besetzt. Die Besetzer erbeuteten dabei Waffen. Am 21. April wurde von rund 2000 Aufständischen ein „Volksgouverneur“ gewählt.
23. April. Streik: In sechs Minen sind die Bergleute in den Streik getreten und fordern rund 25 Prozent mehr Lohn. Politische Forderungen wurden von ihnen nicht gestellt.
Donezk: Hier sind rund ein Dutzend öffentliche Gebäude besetzt. Hier soll eine Koordinierungsstelle für die Aufständischen der Region eingerichtet werden. Am 11. Mai soll in der ganzen Region Autonomie-Referendum stattfinden.
Odessa: Es gibt immer wieder kleinere Demonstrationen und Proteste auch mit Zusammenstößen, aber das Alltagsleben ist kaum gestört.
Slawjansk, 23. April. Am Rande von Slawjansk wurden von ukrainischen Truppen fünf Aufständische erschossen. Auch zwei ukrainische Soldaten starben. Slawjansk ist als einzige Stadt der Ostukraine vollständig in Händen der Aufständischen. Die hatten beim Sturm auf die lokale Polizeiwache rund 400 Gewehre und Pistolen erbeutet.
25. April. Die Aufständischen in Slawjansk haben in ihrem Stadtgebiet einen Bus mit westlichen Militärbeobachtern in ihre Gewalt gebracht und halten die Insassen als „Kriegsgefangene“ fest.
Mein Resümee:
In gewisser Weise sind die jetzigen Proteste in der Ostukraine das Spiegelbild der vorherigen Maidan-Proteste:
Ein „harter Kern“ von Demonstranten fordert mit passiver Unterstützung breiter Teile der Bevölkerung und mit aktiver Unterstützung des Auslands die Staatsmacht heraus. Die Demonstranten fordern einen Regimewechsel, keinen Systemwechsel. Soziale Forderungen spielen keine Rolle.
Die Lage in der Ostukraine ist überall angespannt, aber außer in Slawjansk ist das Alltagsleben in der Ostukraine nicht gestört. Die staatlichen Behörden sind verunsichert, aber nicht völlig gelähmt. In vielen Fällen tritt die Polizei zwischen feindliche Demonstrantengruppen, um zu schlichten. Rentner und öffentliche Bedienstete erhalten ihre Gehälter bzw. Renten. Die Leute gehen wie gewohnt zur Arbeit. In Luhansk streiken zwar Bergleute, aber fordern nur mehr Lohn. Die städtischen Lebensverhältnisse sind in der industrialisierten Ostukraine besser als in der landwirtschaftlich geprägten Westukraine.
Blicken wir zurück: Die Halbinsel Krim konnte so rasch ihren Besitzer wechseln, weil dort die lokale und regionale Staatsmacht in die Hände der Aufständischen fiel. Inzwischen steht fest, dass die Vorgänge auf der Krim zwar das Modell und das Muster abgeben, nach dem die Aufständischen überall in der Ostukraine vorgehen wollen, aber die Verhältnisse entwickeln sich anders als auf der Krim.
Die Aufständischen wollen am 11. Mai in Donezk und Luhansk ein Autonomie-Referendum durchführen und am 18. Mai soll in einem zweiten Referendum über einen Anschluss an Russland entschieden werden. Beide Termine sind so geplant, dass sie der für 25. Mai geplanten Wahl eines neuen Präsidenten der Ukraine zuvorkommen. Bisher haben die Aufständischen nicht einmal das Geld, um die Abstimmungszettel zu drucken.
Alle diese Abstimmungen werden nach meiner Meinung die Lage nicht klären. Sie werden nur Teile der Bevölkerung erreichen und allenfalls die Fronten verhärten.
Mein Eindruck ist, dass die Situation sofort zu einem Bürgerkrieg eskaliert, sobald die Kiewer Regierung versucht, mit militärischer Gewalt „reinen Tisch“ zu machen.
Einen „offiziellen“ Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine erwarte ich nicht. Russland ist der Geschäftspartner und natürliche „Verbündete“ der Region. Ein militärisches Eingreifen Russlands würde die Protestbewegung in der Ostukraine schwächen, nicht stärken. Aber russische Rat- und Geldgeber werden noch sehr viel zu tun haben – ganz so wie die Rat- und Geldgeber der Kiewer Regierung.
Im günstigsten Fall wird es in der Ukraine auf Dauer keine klaren Sieger und Verlierer geben. Im schlimmsten Fall zeigt uns die Ukraine unsere eigene Zukunft,
meint Wal Buchenberg.