Die Protestbewegung der Ostukraine

  • Man sagt, das erste Opfer eines Krieges sei die Wahrheit. Falls das zutrifft, herrscht in der Ukraine schon Krieg: Die Protestierenden der einen Seite werden „Terroristen“ und „Separatisten“ genannt; die nennen ihre Gegner „Faschisten“ und „Putschisten“. Beide sehen in ihren Gegnern Handlanger ausländischer Mächte.


    Um für mich selbst einen Überblick über die Ereignisse zu bekommen, habe ich aus westlichen und östlichen Medien (Tass, Radio Moskau) einige Informationen zusammengetragen, die vielleicht ein verständliches Gesamtbild ergeben. Gewähr für jedes Detail kann ich nicht versprechen.


    Die folgende Karte zeigt die Protestbewegungen in der Ostukraine in diesem Monat gegen die Übergangsregierung in Kiew.



    Die Protestbewegung in der Ostukraine speist sich aus einem zahlenmäßig geringen Teil der Bevölkerung. Nur selten erreichen Demonstrationszüge eine Größe von 5000 Teilnehmern. Die Teilnehmer treten aber recht aggressiv auf. Sie sind häufig defensiv oder offensiv bewaffnet. Es kam an vielen Orten zu Schlägereien zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten. In vielen Städten wurden öffentliche Gebäude besetzt, in denen sich die Demonstranten verbarrikadierten. Aber nur eine einzige Stadt, Slawjansk, mit gut 100.000 Einwohner wird vollständig von Aufständischen kontrolliert.


    Meldungen aus einzelnen Orten:
    Kramatorsk:
    Hier ist die Zentrale des ukrainischen Geheimdienstes SBU von Aufständischen besetzt. Der Polizeichef soll sich in der Hand der Aufständischen befinden und nach Slawjansk gebracht worden sein. Als am 17. April ukrainische Schützenpanzer gegen die Aufständischen vorgehen wollen, werden sie von einer empörten Menschenmenge umzingelt und aufgehalten. Sechs ukrainische Schützenpanzer sollen die Seiten gewechselt haben. Die Zufahrtswege zur Stadt werden seitdem von den Aufständischen mit Straßensperren kontrolliert.


    Mariupol: 18. April: Bei der Abwehr eines Angriffs auf die Militärbasis sollen drei Angreifer ums Leben gekommen sein.


    Charkiw, 20. April: Nach einer Demo von einigen tausend Teilnehmern wurde das Gebäude der Gebietsregierung besetzt und russische Fahnen gehisst.
    Inzwischen ist das Gebäude wieder in der Hand von Kiew-Anhängern. Die lokalen Polizeikräfte stehen einigermaßen loyal zur Kiewer Regierung. Einer der Protestführer, ein Journalist, wurde von der Polizei festgenommen.


    Luhansk: Das Gebäude des Geheimdienstes SBU ist besetzt. Die Besetzer erbeuteten dabei Waffen. Am 21. April wurde von rund 2000 Aufständischen ein „Volksgouverneur“ gewählt.
    23. April. Streik: In sechs Minen sind die Bergleute in den Streik getreten und fordern rund 25 Prozent mehr Lohn. Politische Forderungen wurden von ihnen nicht gestellt.


    Donezk: Hier sind rund ein Dutzend öffentliche Gebäude besetzt. Hier soll eine Koordinierungsstelle für die Aufständischen der Region eingerichtet werden. Am 11. Mai soll in der ganzen Region Autonomie-Referendum stattfinden.


    Odessa: Es gibt immer wieder kleinere Demonstrationen und Proteste auch mit Zusammenstößen, aber das Alltagsleben ist kaum gestört.


    Slawjansk, 23. April. Am Rande von Slawjansk wurden von ukrainischen Truppen fünf Aufständische erschossen. Auch zwei ukrainische Soldaten starben. Slawjansk ist als einzige Stadt der Ostukraine vollständig in Händen der Aufständischen. Die hatten beim Sturm auf die lokale Polizeiwache rund 400 Gewehre und Pistolen erbeutet.
    25. April. Die Aufständischen in Slawjansk haben in ihrem Stadtgebiet einen Bus mit westlichen Militärbeobachtern in ihre Gewalt gebracht und halten die Insassen als „Kriegsgefangene“ fest.


    Mein Resümee:
    In gewisser Weise sind die jetzigen Proteste in der Ostukraine das Spiegelbild der vorherigen Maidan-Proteste:
    Ein „harter Kern“ von Demonstranten fordert mit passiver Unterstützung breiter Teile der Bevölkerung und mit aktiver Unterstützung des Auslands die Staatsmacht heraus. Die Demonstranten fordern einen Regimewechsel, keinen Systemwechsel. Soziale Forderungen spielen keine Rolle.


    Die Lage in der Ostukraine ist überall angespannt, aber außer in Slawjansk ist das Alltagsleben in der Ostukraine nicht gestört. Die staatlichen Behörden sind verunsichert, aber nicht völlig gelähmt. In vielen Fällen tritt die Polizei zwischen feindliche Demonstrantengruppen, um zu schlichten. Rentner und öffentliche Bedienstete erhalten ihre Gehälter bzw. Renten. Die Leute gehen wie gewohnt zur Arbeit. In Luhansk streiken zwar Bergleute, aber fordern nur mehr Lohn. Die städtischen Lebensverhältnisse sind in der industrialisierten Ostukraine besser als in der landwirtschaftlich geprägten Westukraine.



    Blicken wir zurück: Die Halbinsel Krim konnte so rasch ihren Besitzer wechseln, weil dort die lokale und regionale Staatsmacht in die Hände der Aufständischen fiel. Inzwischen steht fest, dass die Vorgänge auf der Krim zwar das Modell und das Muster abgeben, nach dem die Aufständischen überall in der Ostukraine vorgehen wollen, aber die Verhältnisse entwickeln sich anders als auf der Krim.


    Die Aufständischen wollen am 11. Mai in Donezk und Luhansk ein Autonomie-Referendum durchführen und am 18. Mai soll in einem zweiten Referendum über einen Anschluss an Russland entschieden werden. Beide Termine sind so geplant, dass sie der für 25. Mai geplanten Wahl eines neuen Präsidenten der Ukraine zuvorkommen. Bisher haben die Aufständischen nicht einmal das Geld, um die Abstimmungszettel zu drucken.
    Alle diese Abstimmungen werden nach meiner Meinung die Lage nicht klären. Sie werden nur Teile der Bevölkerung erreichen und allenfalls die Fronten verhärten.


    Mein Eindruck ist, dass die Situation sofort zu einem Bürgerkrieg eskaliert, sobald die Kiewer Regierung versucht, mit militärischer Gewalt „reinen Tisch“ zu machen.
    Einen „offiziellen“ Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine erwarte ich nicht. Russland ist der Geschäftspartner und natürliche „Verbündete“ der Region. Ein militärisches Eingreifen Russlands würde die Protestbewegung in der Ostukraine schwächen, nicht stärken. Aber russische Rat- und Geldgeber werden noch sehr viel zu tun haben – ganz so wie die Rat- und Geldgeber der Kiewer Regierung.


    Im günstigsten Fall wird es in der Ukraine auf Dauer keine klaren Sieger und Verlierer geben. Im schlimmsten Fall zeigt uns die Ukraine unsere eigene Zukunft,
    meint Wal Buchenberg.

  • Was mir ein wenig zu kurz kommt, ist zu erläutern, wer stützt sich auf und finanziert wen? Wer sind die Aufstaendischen, wie setzen sie sich zusammen? Von wem werden sie unterstützt? Welche Rolle spielt Russland? Welche Rolle spielt die EU oder die USA?


    Da hier sicher nicht nur Sozialisten mitlesen sollten wir vielleicht auch ansprechen, was wir denken was das beste aus unserer Sicht für die Ukraine wäre, wofür sie (Ukainer) oder wir uns einsetzen können oder sollten. Es gibt meiner Ansicht nach in der Ukraine keine Trotzkisten, aber ich glaube Anarchisten. Doch was könnte eine sozislistische Partei dort ändern, was eine bürgerliche nicht kann?
    Ich finde man macht oft den Fehler sich nur an die Sozialisten zu wenden. Doch die große Masse ist nicht sozialistisch und muss überzeugt werden, auch wenn die Praxis das ins Reine bringt was die Theorie nicht schafft - muss sie doch richtig geführt werden. Die Misserfolge der sozialistischen Bewegung waren sicher einerseits darauf gegründet, dass sie Marx und Trotzki u. a. nicht verstanden haben, aber auch in der Konsequenz das Handeln der (soz.) Führung (z. B. opportunistisch o. zentristisch). Daher sollten wir uns an ALLE Arbeiter wenden. Ich finde auch schade das so wenige mitdiskutieren, ich denke der Gesprächsbedarf ist groß. Die Wirtschaftstheorie sollte zweitrangig behandelt werden.


    Um nochmal auf die Ukraine zurück zu kommen, ich denke im schlimmsten Fall -sicher, es würde die Protestbewegung schwächen - würde es auf jeden Fall zum Krieg kommen, da alle beteiligten Parteien (USA, EU, Russland, Faschisten) das Land für ihre Zwecke ausbeuten müssen/ wollen. Russland ist sicher mehr daran interessiert, das seine Schulden bezahlt werden (Milliardeninvestitionen in die Staatsanleihen), abgesehen von den strategischen Interessen.

  • Was mir ein wenig zu kurz kommt, ist zu erläutern, wer stützt sich auf und finanziert wen? Wer sind die Aufstaendischen, wie setzen sie sich zusammen? Von wem werden sie unterstützt? Welche Rolle spielt Russland? Welche Rolle spielt die EU oder die USA?


    All diese Dinge kannst du überall in linken Statements und Publikationen nachlesen. Was mir dabei zu kurz kommt, sind Fakten und Details. Deshalb habe ich versucht hier Fakten und Details zusammenzutragen und diese zu bewerten. Im übrigen halte ich nichts von der linken Verschwörungstheorie, in der alles Tun von den Mächtigen der Welt herrührt. Erdogan denunzierte den Protest im Gezi-Park als vom Ausland gesteuert. Die Linken hier denunzierten die Maidan-Proteste als vom Westen gesteuert. Die Nato-Regierungen denunzieren jetzt die Proteste in der Ostukraine als von Russland gesteuert. Damit erklärt man nichts außer seiner Miss- und Verachtung der Protestbewegung, die als bloßes Werkzeug fremder Mächte dastehen. Jede Bewegung irgendwo in der Welt wird heute als "vom Ausland gesteuert" hingestellt. Das ist auch soweit kein Wunder, als mit den modernen Kommunikationsmitteln und dem globalen Netz des Kapitalismus es heute kein Flecken Erde mehr gibt, wo nicht "ausländische Interessen" berührt sind. Das ist so selbstverständlich, dass es kaum noch Erkenntniswert hat, und wir statt dessen schauen sollten: Was ist in dem jeweiligen lokalen Konflikt Besonderes? Was bewegt gerade hier die Menschen?


    Da hier sicher nicht nur Sozialisten mitlesen sollten wir vielleicht auch ansprechen, was wir denken was das beste aus unserer Sicht für die Ukraine wäre, wofür sie (Ukainer) oder wir uns einsetzen können oder sollten.


    Da wäre ein bisschen linke Bescheidenheit angebracht. Wie können wir hier in Westeuropa wissen, was für die Ukrainer im gegenwärtigen Moment oder in den nächsten Jahren gut ist? Wie komisch ist das, wenn Linke gegen ausländische Einmischung protestieren und gleichzeitig ein linkes "Rettungsprogramm" für ein fernes Land präsentieren wollen, von dem sie nicht einmal die Stadtnamen richtig schreiben können? Außerdem geht es in dem Konflikt vorrangig um Formen bürgerlicher Herrschaft: Zentralgewalt oder Föderalismus, EU oder Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft. Da können wir als radikale Linke wenig (be)raten. Was wir aber sehen können: In jeder gesellschaftlichen Krise versagt zuerst die Zentralgewalt. Was dann nicht lokal/kommunal gelöst wird, bleibt ungelöst. Darauf sollten sich die Linken in Westeuropa vorbereiten, und sich mehr um kommunale Probleme kümmern und weniger um "Internationale Büros", und "europaweite Proteste".


    Ich finde auch schade das so wenige mitdiskutieren, ich denke der Gesprächsbedarf ist groß. Die Wirtschaftstheorie sollte zweitrangig behandelt werden.


    Ja, das finde ich auch schade. Aber ich sehe die Diskussionsunfähigkeit der Linken als Teil der linken Pathologie und habe mich damit abgefunden.


    Gruß Wal

  • Die Wirtschaftstheorie sollte zweitrangig behandelt werden.


    Tja, Matou_San, du weisst offenbar schon sehr genau, was "wir" den andern "allen" (Arbeitern) sagen sollten.
    Ich bin mir da nicht so sicher.
    Nur in einem: Dass sies derzeit zu allergrössten Teilen nicht werden hören wollen, wie eingängig (selbst wenn das möglich wäre) mans ihnen aufbereiten täte. Aber von solchen blossen Darstellungs- und Präsentations-Problemen sind wir weit entfernt. "Wir" sind uns ja nichtmal unter uns einig über wichtig und unwichtig, falsch und richtig.
    Beinah möcht ich sagen: Nicht mal ich bin mit mir einig...
    Da besteht offensichtlich Klärungsbedarf...

  • Solange sich Rechte und Linke auf der Straße als „Faschisten“ oder „Zecken“ prügeln, scheint unsere Welt heil und in Ordnung, weil dieser Streit gesellschaftlich ganz „Unten in der Horizontalen“ stattfindet und die wirtschaftliche und politische Hierarchie zwischen Oben und Unten nicht berührt und nicht erschüttert.


    Durch einen historischen Zufall ist dieser Streit zwischen Rechts und Links in der Ukraine von der Horizontalen in die Vertikale gekippt:
    Aus Sicht der Einen stellen plötzlich „Faschisten“ und „Putschisten“ die Regierung. Die angeblichen Faschisten und Putschisten sehen sich selbst als westlich orientierte Modernisierer und als legitime Regierung, die von "Separatisten" und "Terroristen" bekämpft wird.


    In der Ukraine kämpfen „Zecken“ und „Faschisten“ nicht nur in der „Horizontalen“, sondern auch in der „Vertikalen“ miteinander: Es ist ein Kampf zwischen Rechts und Links und zwischen Oben und Unten. Die Parolen "Nazis raus!" und "Zecken weg!" sowie "Ausländer raus!" werden in der Ukraine in großem Maßstab durchexerziert. Wobei die Ausländer wahlweise "Russen" oder "Imperialisten" sind.
    Aber es ist ein Minderheiten-Kampf. Es handelt sich um einen Streit zwischen Personen(gruppen), die miteinander um die Kontrolle des Staatsapparates konkurrieren. Dieser Kampf um Einfluss im Staatsapparat und durch den Staatsapparat ist kein emanzipatorisches Ziel, und deshalb verbietet sich für radikale Linke für eine Seite Partei zu ergreifen - es sei denn, dass wir Bestrebungen für Dezentralisierung und Kommunalisierung begrüßen. Solche Bestrebungen gibt es, aber sie werden schnell in der Konkurrenz zwischen den "Vormundstaaten" (EU im Westen - Russland im Osten) zerrieben.


    Ich glaube nicht, dass die Ukraine als Gesamtstaat diesen Konflikt überleben kann – jedenfalls nicht, solange die Zentralregierung in Kiew versucht die Zentralstaatlichkeit mit militärischer Gewalt durchzusetzen,
    meint Wal Buchenberg

  • Ich frage mich oft was sind eigentlich die Kern-Forderungen der Separatisten? Findet ein wirklicher Kampf um die politische Macht statt, haben sie ein Programm?
    Die groeßten Fehler der Sozialisten beim Kampf um die politische Macht war stets die politische Fuehrung, So war es in Spanien (Zugeständnis eines Stimmenübergwichts zugunsten der Reformer auf den gemeinsamen Wahllisten oder der Unterlass die kommunalen Räte national zusammenzufassen uvm.); so in Deutschland wo sie zwar auf nationaler Ebene organisiert waren, jedoch nicht um die Mehrheit gekämpft wurde, unter einer veräterischen Führung (Ebert; Scheidemann) oder auch in Frankreich, wo die Diktatur des Proletariats schon bestand (1871), jedoch noch durch die Spaltungen in Blanquisten und Proudhonisten u. a. den weiteten Weg blockierten (überall gab es wenige wissenschaftliche Sozialisten).


    Und nein, ich weiß oft nicht was ich den Arbeitern sagen soll. Oft frage ich zu einem bestimmten Thema nach der Meinung und sage was ich darüber denke. Die Menschen werden natürlich alle Möglichkeiten für sich ausschöpfen, sie gehen immer den Weg des geringsten Widerstandes. Wir sollten uns aber auch fragen was 'sie' wollen. Wir können keine Mammutschritte erwarten.


    Die sozialistische Bewegung ist sehr zersplittert und legt hier und dort auf einen internationalen Zusammenschluss (PSG) eine höhere Priorität, obwohl sie nicht einmal auf nationaler Ebene um die Mehrheit (z. B. in den Betrieben) kämpfen und nicht anerkannt sind (von den Arbeitern). Es ist m. E. nicht so wichtig ob wir uns einig sind. Die Menschen werden aus der Praxis mehr Erfahrung sammeln wie aus der Theorie. Erst eine rev. Situation macht es möglich große Menschenmassen um sich zu scharen. Dazu braucht es eine soz. Partei und deren Aktivität in Gewerkschaften und Betrieben.
    Lenin sagte, gebt mir 100 Leute und ich werde die Welt aus den Angeln heben. Das bezog sich auf revolutionäre Betriebsarbeit. 1 Revolutionär pro Betrieb kann mehr erreichen als 90% linker Aktivisten.
    Der Kampf kann in einem kleinen Streikkomitee beginnen und in einer Rätestruktur seinen Abschluss finden. Die Menschen werden ihren Weg finden, dieser erfordert jedoch einen hohen Organisationsgrad, er erfordert die Erziehung politischer Kader (Bildung), praktischer Erfolge, aber vor allem den Aufbau von Strukturen.


    Noch eins, wenn ich mich entscheide einen Beitrag als schlecht (gefällt mir nicht) einzustufen, dann heißt das noch lange nicht das er schlecht ist, sondern lediglich das ich mit einigen Punkten nicht zufrieden bin. Entschuldigt bitte wenn's manchmal mit dem Antworten etwas länger dauert, hab meist 10-12h-Schichten. Der Kapitalismus gehört langsam aber sicher auf den Scheiterhaufen der Geschichte.^^
    Matou

  • Ich frage mich oft was sind eigentlich die Kern-Forderungen der Separatisten? Findet ein wirklicher Kampf um die politische Macht statt, haben sie ein Programm?


    Hallo Matou,
    Welches Programm hat die Protestbewegung in der Ostukraine? Das halte ich ebenfalls für die alles entscheidende Frage. Ich denke, wer immer eine Bewegung direkt oder indirekt unterstützt (und die Linke in Deutschland unterstützt faktisch die Protestbewegung der Ostukraine), der hat meiner Meinung nach die Verantwortung und die Pflicht, seine Unterstützung durch die Offenlegung der Ziele dieser Bewegung zu begründen und zu erläutern. Um Unterstützung zu gewinnen, reicht es nicht, die "Unsrigen" als Opfer zu präsentieren. Opfer gibt es im Ukraine-Konflikt auf allen Seiten.
    Ich denke, ohne Offenlegung ihrer Ziele kann man nicht und darf man nicht eine Bewegung unterstützen.
    Ich habe da leider nur Vermutungen, und meine Vermutungen gehen in die Richtung, dass der Kern der Protestbewegung im Osten der Ukraine aus (Partei)Anhängern des vertriebenen Präsidenten Janukowitsch besteht. Diese Leute kämpfen um die neu zu verteilenden Machtpositionen im Staat. Sie benutzen den Anschluss an Russland als Drohung, aber in Wahrheit wollen sie selber die Schalthebeln des künftigen (Teil)Staates bedienen. Das macht sie nicht besser und nicht schlechter als die Anhänger der Kiewer Regierung. Aber es ist ein innerstaatlicher Machtkampf, der für die Emanzipation der Untertanen-Ukrainer geringe oder keine Bedeutung hat.


    Was deine Ausführungen über die Rolle von Revolutionären angeht, so will ich das nicht im Einzelnen kommentieren. Ich habe vor 40 Jahren genau so gedacht wie du heute. Im Laufe der Jahre hat mein Vertrauen in Revolutionäre (nicht in Revolution) arg gelitten.
    Das Wichtigste bei allen unseren Gedankengebäuden ist aber, dass sie die "Bodenhaftung" behalten. Mit "Bodenhaftung" meine ich den Bezug zur Erfahrungswelt der anderen Menschen und den Respekt vor den Lohnabhängigen. Solange du in reguläre Lohnarbeit eingespannt bist, muss man sich um deine "Bodenhaftung" aber keine Sorgen machen.
    Mach weiter so!
    Gruß Wal

  • Das Autonomie-Referendum von Sonntag war ein deutlicher Erfolg für die Protestbewegung der Ostukraine.
    Es war ein deutlicher Erfolg, weil es der Protestbewegung gelungen ist, über die wenigen 1000 Aktiven hinaus große Teile der Bevölkerung für das Referendum zu gewinnen. Ob nun 20%, 30% oder 40% der Bevölkerung an dem Referendum teilgenommen haben, spielt nur für Beamtenseelen eine Rolle. Die Aktivisten der Bewegung können nun – bis zum Beweis des Gegenteils – mit Recht behaupten, dass sie die Mehrheitsmeinung der Menschen im Donezbecken vertreten.

    Das Autonomie-Referendum war auch deshalb ein großer Erfolg für die Protestbewegung, weil die Protestbewegung den bisherigen aggressiven und gewalttätigen Entwicklungspfad verlassen und auf zivile Herrschaftsformen umgeschwenkt ist. Das macht es der Regierung in Kiew und ihren Gläubigern in der EU noch schwerer, die Protestbewegung in der Ostukraine als „Terroristen“ zu diffamieren.

    Das Autonomie-Referendum war schließlich auch darum ein Erfolg, weil es gegen den Rat von Putin durchgeführt wurde, und damit die Unabhängigkeit der Autonomiebewegung demonstriert hat. Auch wenn das vielleicht zwischen Putin und den Führern der Bewegung abgesprochen war, war das ein sehr kluger Schachzug.

    Nach wie vor handelt es sich bei dem Konflikt in der Ukraine um einen Streit zwischen Personen(gruppen), die miteinander um die Kontrolle des Staatsapparates konkurrieren. Dieser Kampf um Einfluss im Staatsapparat und durch den Staatsapparat ist kein emanzipatorisches Ziel, deshalb verbietet es sich für uns, Partei für eine Seite zu ergreifen. Für uns EU-Bürger spielt es keinerlei Rolle, wo die Ostgrenze der Ukraine verläuft und ob es nur einen ukrainischen Staat gibt oder zwei. Es mag aber sein, dass sich die Ostukrainer mit einer „eigenen“ regional verankerten Regierung wohler fühlen als mit der Kiewer Zentralregierung, die gegen die eigenen Untertanen Panzer und Soldaten aufmarschieren lässt.
    Das Referendum hat bewiesen: Die Kiewer Regierung verschlimmert und verhärtet durch ihre militärische Intervention – egal ob mit oder ohne amerikanische Beteiligung – die Situation. Das mindeste, was man von der Kiewer Regierung erwarten kann, ist der Rückzug aller ihrer bewaffneten Einheiten in ihre Standorte bzw. in die Kasernen.
    meint Wal Buchenberg

  • Vor ein paar Tagen hatte ich geschrieben: "meine Vermutungen gehen in die Richtung, dass der Kern der Protestbewegung im Osten der Ukraine aus (Partei)Anhängern des vertriebenen Präsidenten Janukowitsch besteht. Diese Leute kämpfen um die neu zu verteilenden Machtpositionen im Staat. Sie benutzen den Anschluss an Russland als Drohung, aber in Wahrheit wollen sie selber die Schalthebeln des künftigen (Teil)Staates bedienen."
    Diese Einschätzung ist durch jüngste Stellungnahmen etwas in Zweifel geraten. Offenbar gibt es zwei Strömungen in der Bewegung, eine für weitgehende oder völlige Selbständigkeit der Ostukraine und eine für den Anschluss an Russland.
    In der FAZ steht dazu mehr: http://www.faz.net/aktuell/pol…enanhaenger-12937503.html
    Gruß Wal

  • Wer sind die Anführer des ostukrainischen Aufstands?


    Denis Pushilin,
    Jahrgang 1981, ist der von den Aufständischen gewählte Vorsitzende des „Volksrats“ der abtrünnigen „Volksrepublik Donezk“. Studierte Wirtschaft und wurde Mitarbeiter eines verurteilten russischen Betrügers, der in den 90er Jahren mit einer „Finanz-Pyramide“ Millionen von Rubeln aus fremden Taschen gezogen hat. Das Logo des Finanzschwindels „MMM“ wurde zu einer politischen Partei erklärt. Derzeit arbeitslos.


    Pavel Gubarev
    Parteimitglied der traditionalistisch-kommunistischen „Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine“ mit einem nostalgisch-sowjetophilen Programm. Unterstützer des geflohenen Präsidenten Janukowischt und der von Putin gegründeten Partei „People’s Front for Russia“. Bei den Parlamentswahlen von 2010 erhielt die Partei knapp 3% der Wahlstimmen.An der Wahl 2012 nahm die Partei nicht teil.
    Militärischer Anführer der bewaffneten „Volkswehre Donbass“.
    Gubarev erklärte sich zum „Gouverneur“ der „Volksrepublik Donezk“, wurde anschließend kurzzeitig verhaftet und im Austausch gegen andere Gefangene freigelassen.


    Wjatscheslaw Ponomarjow,
    Sohn eines Russen und einer Ukrainerin, lernte nach eigenen Angaben das Militärgeschäft in der Sowjetarmee. Beruflich ist er leitender Direkter einer Seidenfabrik in Slawjansk. Politische Ämter hatte er noch nicht inne. Selbsternannter Bürgermeister von Slawjansk.


    Igor Strelkow, alias Girkin, 43, neuer „Verteidigunsminister“ der Donez-Republik; war/ist Angehöriger der russischen Armee mit Wohnsitz in Moskau. Kämpfte in russischen Einheiten im Bosnienkrieg und im zweiten Tschetschenienkrieg und war im Februar diesen Jahres an der Sezession der Krim beteiligt. Von dort ist er nach eigenen Angaben mit seiner Einheit nach Slawjansk gereist. Er soll Mitarbeiter zweier russischer Geheimdienste sein.



    (Angaben aus Wikipedia u.a. Internet-Quellen - ohne Gewähr)
    Gruß Wal Buchenberg

  • In der (Ost)Ukraine ist die Zeit der halb friedlichen und halb gewaltsamen Demonstrationen und Parolen vorbei. Die Zeit der Landkarten mit Frontlinien hat begonnen.
    Spätestens jetzt dürfte klar sein: Es handelt sich in der Ukraine nicht um soziale Reform oder gar soziale Revolution, es geht den dort Handelnden nicht um Interessen der Werktätigen oder des "Volkes". Es geht in der Ukraine um Geländegewinn, um territoriale Herrschaft, um den Grenzverlauf zwischen zwei Imperien.
    Zwischen diesen kriegerischen Fronten ist kein Raum mehr für emanzipatorische Inhalte und Ziele.
    Wer hier meint, in diesem Konflikt mitmischen zu können, wer hier glaubt, Partei ergreifen zu müssen, der beteiligt sich an einem Krieg, der auf beiden Seiten ein Eroberungskrieg ist,
    meint Wal Buchenberg


  • Der Krieg in der Ukraine geht auf das unvermeidliche Ende zu.


    Was hoffnungsvoll als ziviler Protest gegen die Überheblichkeit der wirtschaftlichen und politischen Machthaber auf dem Maidan begann, mündete in einen bewaffneten Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Staatsmächten, die auf ukrainischem Boden einen Stellvertreterkrieg ausfechten.


    Es ist ein bewaffneter Konflikt, der nur Verlierer übrig lässt. Der Konflikt lässt Tausende Tote zurück, Hunderttausende Menschen sind aus der Ostukraine geflohen. Die wirtschaftlichen Schäden erreichen vielleicht eine Milliarde Euro. Wofür das alles?


    Die EU und die Nato haben ihre „Osterweiterung“ erreicht. Aber die Ukraine ist schlimmer verschuldet als Griechenland, die politische Klasse ist marode, die wirtschaftlich Mächtigen sind korrupt. Die kränkelnde EU hat sich um ein Krankenlager eines chronisch Kranken erweitert.
    Der neue Zar Putin hat seine „Westerweiterung“ erreicht. Die Krim ist wieder russisches Staatsgebiet wie zu den „glorreichen“ Zeiten der Sowjetunion und des Zarenreiches. Donesk und Luhansk, die beiden „neurussischen“ Staaten, werden zunehmend mit dem russischen „Altreich“ verwachsen, auch wenn sie vorerst noch im ukrainischen Staatsverband verbleiben.
    Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bleiben auf Dauer gestört.
    Das und die Verschiebung der Grenzen und damit die Verschiebung von staatlichem Einfluss, ist alles, was von dem Konflikt übrig bleibt.
    Militärische Logik und staatliche Macht haben gesiegt und haben damit eine Lage geschaffen, die schlimmer und schlechter ist als alles Vorherige.


    Das ist eine Niederlage für alle Menschen in der Ukraine und anderswo. Es ist erst recht eine Niederlage für uns und alle die Menschen, die mehr und anderes wollen als eine Stärkung und Ausdehnung staatlicher Macht,
    meint Wal Buchenberg.

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