Die von wohlhabenden Bürgern selbstverwalteten Städte des Mittelalters waren Glanzpunkte der deutschen Geschichte. München gehörte nicht dazu. München war von Anfang an fürstliche Residenz und seine Bürger verdienten lieber bequemes Geld durch die Hofleute und den Hof, als für städtische Freiheit und Unabhängigkeit zu kämpfen. In der Revolution von 1848 protestierten die Münchner Bürger heftiger gegen die bürgerliche Geliebte des Königs, als gegen den König und seine Herrschaft.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert beherbergte der Universitäts-Vorort Schwabing, der erst 1890 nach München eingemeindet worden war, die avantgardistischste Künstlerszene und die liberalsten Zeitschriften- und Buchverlage in Deutschland. Zensur und politische Überwachung durch die königlichen Behörden war lax, denn Kunst und Künstler waren das Hobby des Prinzregenten Luitpold (1886 – 1912).
Für die Münchner Spießbürger waren die Schwabinger Boheme die Narren des Hofes.
Für wirkliche und eingebildete Genies, für Alternative und Gescheiterte aller Art wurde Schwabing zum Anziehungspunkt. So auch für den Berliner Kurt Eisner, ein marxistischer Sozialdemokrat, der sich zu Kriegsbeginn 1914 noch für die „Verteidigung des Vaterlandes“ ausgesprochen hatte. Im Laufe des Krieges entwickelte er sich jedoch zum Pazifisten und zum Revolutionär. Seit Dezember 1916 organisierte Eisner strömungsübergreifende, wöchentliche Diskussionstreffen im Gasthaus „Zum goldenen Anker“ in der Ludwigs-Vorstadt mit bis zu 150 Teilnehmern. Im Januar 1918 organisierte er den Streik der Münchner Munitionsarbeiter und ging dafür ins Gefängnis.
Nachdem in München die Nachricht vom Kieler Matrosenaufstand (1. - 4. November 1918) angekommen war, organisierte Eisner am 7. November zusammen mit Teilen des „Bauernbundes“ eine große Anti-Kriegs-Kundgebung außerhalb des Stadtgebiets. Im Anschluss an die Kundgebung zog er an der Spitze eines anwachsenden Demonstrationszuges zu den Münchner Kasernen und dann in die Innenstadt.
König Ludwig III. kam an diesem Nachmittag von seinem täglichen Spaziergang zurück und stellte fest, dass der Großteil seiner Wachen und seiner Diener davongelaufen waren. Noch am selben Tag floh König Ludwig III. mit seinen Ministern aus München. Offiziell erklärte er seinen Rücktritt am 13. November.
Als die Demonstranten erfuhren, dass die königliche Regierung geflohen war, rief Kurt Eisner noch am Abend die Republik aus und ließ sich von den Demonstranten zum „Ministerpräsidenten“ wählen.
In den nächsten Tagen wurde folgende Proklamation in den Straßen Münchens verklebt:
Was ist von dieser Proklamation zu halten?
Die Proklamation beginnt mit zwei Lügen. Das Volk hatte nichts und niemanden gestürzt und nichts in die Hand genommen. Die königliche Regierung wurde nicht gestürzt, sondern war in Panik geflohen. Das Volk hatte keine „Regierung in die Hand genommen“, das hatten Kurt Eisner und seine Freunde und Genossen getan.
Das Regierungspersonal war ausgewechselt, die Regierungsmacht bestand aber unverändert weiter. Dass die Regierungsmacht unverändert weiterbestand, mündete in die großmäulige Drohung: „Generalkommando (des Heeres, w.b.) und Polizeidirektion stehen unter unserem Befehl.“
Kurz: Volk und Bürger erfuhren von „ihrer“ Revolution von Plakaten und aus der Zeitung und wurden gleichzeitig mit der Mitteilung, dass notfalls auf sie geschossen würde, unter Generalverdacht gestellt.
Die Münchner Bürger und die Einwohner Bayerns tauschten also in dieser „Revolution“ die Regentschaft eines selbstherrlichen Königs durch die selbstherrliche Herrschaft einer Boheme, die sich selbst als „Avantgarde“ verstand.
Die politische Bewusstwerdung und Selbstbestimmung der Bevölkerung in München konnte und musste also damit beginnen, dass sie sich gegen eine selbstherrliche Regierung von arroganten Außenseitern zur Wehr setzten.
Genau das wurde meines Erachtens zum Keim und Ausgangspunkt des reaktionären Sumpfes, der sich in den Folgejahren in München als „Hauptstadt der (faschistischen) Bewegung“ entwickelt hat.
Gruß Wal Buchenberg
Hinweis zur Diskussion:
Die damalige Konstellation halte ich für unverändert aktuell:
- die Marginalisierung der Linken,
- das Leben der Linken am Rand der Gesellschaft. Was damals Boheme war, ist heute Prekariat,
- die Arroganz der selbsterklärten Avantgarde,
- die gegenseitige Ignorierung bis gegenseitige Verachtung zwischen der (radikalen) Linken und dem Volk.