Imperiale Lebensweise?

  • Die Professoren Ulrich Brand (Uni Wien) und Markus Wissen (HWR Berlin) nennen das „imperiale Lebensweise“: »Insgesamt leben die allermeisten Menschen hierzulande auf Kosten der Natur und der Arbeitskräfte anderer Regionen in Europa und im globalen Süden.«


    Die „imperiale Lebensweise“ macht eine linke „Welle“. Ich denke, das kommt einerseits daher, dass die „imperiale Lebensweise“ tradionelle linke Vorstellungen vom „Imperialismus“ aufgreift, und es kommt wohl andererseits daher, dass die „imperiale Lebensweise“ schön undeutlich und nebulös bleibt. Jeder findet in der Theorie etwas, das sie scheinbar bestätigt.


    Schauen wir zuerst auf die nebelhafte Begriffsbildung:

    1) Wer oder was sind die „allermeisten Menschen hierzulande“? Das ist ein journalistischer Gemeinplatz, aber kein wissenschaftlicher Begriff, der zu irgendeiner Nachprüfung anhand der Tatsachen taugt. Und von diesen „allermeisten Menschen“ wird ausgesagt, dass sie „auf Kosten der Natur und der Arbeitskräfte anderer Regionen“ leben. Das ist so richtig ein Stich ins schlechte linke Gewissen. Ich frage mich aber, welche Menschen, die nicht zu diesen „allermeisten“ gehören, leben denn NICHT auf Kosten der Natur und anderer Arbeitskräfte?

    Schauen wir erst auf die Natur!

    Marx sagte: „Der Mensch lebt von der Natur...“

    Die Natur ist unsere Existenzgrundlage. Nicht nur die „allermeisten Menschen“ leben „auf Kosten der Natur“, sondern ALLE Menschen. Und wir wissen auch längst, dass das Leben „auf Kosten der Natur“ seine zerstörerischen Seiten hat: „Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Landwirtschaft ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. ...

    Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 529f.


    2) Kommen wir zum nächsten Baustein der „imperialen Lebensweise“: dass die „allermeisten Menschen hierzulande auf Kosten ... der Arbeitskräfte anderer Regionen“ leben.

    Auch hier wird eine Binsenweisheit der Politischen Ökonomie zur moralischen Drohgebärde aufgebauscht: Die kapitalistische Wirtschaft treibt schon lange die Arbeitsteilung auf die Spitze und entwickelte gleichzeitig die Kooperation der Arbeitenden. Es gibt so gut wie keine individuelle Arbeit, die von Anfang bis Ende ein fertiges Produkt herstellen kann. Wir Lohnabhängigen sind keine individuellen Produzenten, sondern wir arbeiten arbeitsteilig in einem großen Produktions- und Dienstleistungskörper.
    „Das Produkt verwandelt sich (im Kapitalismus, w.b.) überhaupt aus dem unmittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d. h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehen. ... Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehen.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 531.


    Dieser kapitalistische Gesamtarbeiter ist längst über die nationalen Grenzen hinausgewachsen. Jeder einzelne Lohnabhängige ist nur ein winziges Glied in diesem weltweit kombinierten Gesamtarbeiter. Jeder einzelne Lohnabhängige ist in seiner Arbeit und daher auch in seinem Konsum von allen anderen Arbeitern in der ganzen Welt abhängig. Es ist aber eine schiefe Ausdruckweise, dass jeder Teilarbeiter "auf Kosten der anderen lebt". Als Teilarbeiter sind wir sowohl abhängig von allen anderen Teilarbeitern, wie auch alle anderen Teilarbeiter von uns. Jeder von uns ist ein kleiner Knotenpunkt eines Netzes, das die eigene Firma ebenso umspannt wie den deutschen Wirtschaftsraum, aber auch in alle Welt hinausgreift.

    Fakt ist, dass alle Menschen im Kapitalismus (nicht nur die Lohnabhängigen) „auf Kosten“ anderer Arbeitskräfte „leben“. Aus dieser einfachen Tatsache konstruiert die „imperiale Lebensweise“ einen moralischen Vorwurf. Soweit sich dieser moralische Vorwurf an uns Lohnabhängige richtet, ist er ebenso dumm wie sinnlos. Wir Lohnabhängige haben die kapitalistische Welt nicht so eingerichtet wie sie ist. Wir Lohnabhängige haben nur einen sehr geringen und allenfalls indirekten Einfluss darauf, was produziert wird, wie es produziert wird und wo es produziert wird.


    Fakt ist allerdings, dass der Kapitalismus mittels der Arbeitsteilung ganz unterschiedliche Lohnniveaus und damit ganz unterschiedliche Lebenslagen schafft. Diese Einkommenspyramide von vielen Armen unten und wenigen Reichen oben schafft der Kapitalismus sowohl innerhalb jeden Landes wie auch zwischen den einzelnen Ländern. Armut existiert massenhaft auch „hierzulande“. Die Herren Professoren haben offensichtlich noch nichts von HartzIV, von Langzeitarbeitslosigkeit, von Mindestlohn und von Aufstockern gehört. Die Herren Professoren wissen wohl nicht, dass im Jahr 2018 mehr als die Hälfte der Altersrentner weniger als 900 Euro brutto im Monat zur Verfügung haben. Diese Armutsrentnerinnen und -Rentner sind 9 Millionen Menschen in Deutschland. Diese Armutsrentner leben ganz gewiss auf "Kosten anderer Leute", aber sie leben ziemlich schlecht und mühselig. Armut ist keineswegs das „Privileg“ der kapitalistischen Peripherie.

    Die „imperiale Lebensweise“ vernebelt das Elend im eigenen Land und tut so, als wären "hierzulande" die „allermeisten Menschen“ wohlhabend oder gar reich. Gleichzeitig vernebelt die "imperiale Lebensweise" den krassen Reichtum in der Peripherie und tut so, als wären alle Inder arm.

    Dass Professoren an deutschen Unis wenig Kenntnis von Armut haben, wundert mich wenig. Schlimmer finde ich, dass diese Professorentheorie vom "imperialen Leben" Zustimmung und Anhänger unter Linken findet. Diese Linken haben offenbar nicht mehr Wissen von den kapitalistischen Realitäten in Deutschland als diese Professoren.


    Kurz: die „imperiale Lebensweise“ greift offensichtliche Tatsachen des entwickelten Kapitalismus auf, um daraus den „allermeisten Menschen hierzulande“ einen moralischen Vorwurf zu machen. Die Risiken und die Zerstörungen des Kapitalismus an Mensch und Natur werden den "allermeisten Menschen hierzulande" angelastet. Die „imperiale Lebensweise“ ist eine glitschige und schleimige Theorie, die allenfalls für Sonntagspredigten taugt, aber nicht für eine antikapitalistische Politik. Die „imperiale Lebensweise“ sind Fake News.


    Als Anhang ein paar Daten zur Weltarbeiterklasse, von der wir „hierzulande“ nur ein kleiner, aber wichtiger Teil sind:




    Lohnarbeiter in Deutschland:


    Was bekommen wir Lohnarbeiter von unserem Arbeitsprodukt? Was entfällt als Ausbeute an die Kapitalisten?






  • Newly created posts will remain inaccessible for others until approved by a moderator.