„Die relative Fähigkeit der führenden Nationen, die Weltpolitik zu bestimmen, bleibt nie konstant, hauptsächlich, weil die ungleichmäßigen Wachstumsraten verschiedener Gesellschaften und technologische und organisatorische Neuerungen einer Gesellschaft größere Vorteile bringen als einer anderen.“ (Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, 1991, S. 12).
1. Der Aufstieg der klassisch-imperialistischen Staaten
Stellen wir uns eine Welt vor, in der alle Länder und Gesellschaften über das gleiche Know-How und dieselben technischen Mittel verfügen. Das ist eine Welt, wie sie in Europa und Asien zwischen den Jahren 1000 und 1500 bestanden hatte. In dieser Welt mit gleichen bzw. ähnlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen hängt die Macht und Größe eines Landes allein von seiner Einwohnerzahl ab. Mehr Einwohner bedeutet mehr wirtschaftliche und militärische Kapazitäten.
„Die Geschichte des Aufstiegs und späteren Falls der führenden großen Mächte seit dem Aufstieg Westeuropas im 16. Jahrhundert – das heißt solcher Nationen wie Spanien, die Niederlande, Frankreich, das Britische Empire und heute die Vereinigten Staaten – zeigt eine auf lange Frist sehr signifikante Korrelation von Produktionskapazität und Staatseinnahmen auf der einen Seite und militärischer Stärke auf der anderen.“ (Paul Kennedy, S. 12f) „Man kann ... ein kausales Verhältnis zwischen den Verlagerungen der allgemeinen wirtschaftlichen und produktiven Gewichte und der Stellung der einzelnen Mächte im internationalen System erkennen.“ (Paul Kennedy, S.21)
Die einigermaßen gleiche Verteilung der technologischen Mittel wurde durch die Industrialisierung in Europa über den Haufen geworfen. Die neu entstandenen kapitalistischen Länder besaßen trotz relativ kleiner Bevölkerungszahlen ein wirtschaftliches und damit auch ein militärischen Übergewicht auch über bevölkerungsreichere Nationen, weil die Bevölkerungszahl der kapitalistischen Länder sich nicht mehr mit einer Arbeitsproduktivität mit dem Faktor eins, sondern mit einem Faktor drei, fünf oder zehn multiplizierte. Nicht die (ebenfalls) wachsende Bevölkerungszahl, sondern die expandierende Arbeitsproduktivität erklärt den Aufstieg der kapitalistischen Nationen.
Ablesbar ist die steigende Arbeitsproduktivität am beschleunigten Wirtschaftswachstum pro Kopf:
Wirtschaftswachstum pro Kopf:
Die folgende Grafik zeigt das relative Gewicht der Weltregionen vom Beginn unserer Zeitrechnung bis in die Gegenwart - gemessen durch ihre Wirtschaft (prozentualer Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung, BSP)
Regionale Gewichte der Weltwirtschaft:
Im Jahr 1 unserer Zeitrechnung verfügte Asien über 70 Prozent der Weltbevölkerung und besaß damit einen Anteil an der Weltwirtschaft von 70 Prozent.
Nord- und Südamerika waren vergleichsweise dünn besiedelt.
Europa hatte zur Zeit der Römer einen Anteil von weniger als 20% der Weltwirtschaft. Dieser Anteil sank im folgenden Jahrtausend mit dem Zerfall des Römerreichs auf 15%.
In der Zeit zwischen 1000 und 1500 festigten die Chinesen die Zentralgewalt (Ming-Dynastie) und isolierten sich zunehmend von der Welt. Europa ging den umgekehrten Weg: Seine Zentralgewalten waren schwach und die Küstenvölker machten sich auf Raub- und Entdeckerfahrten.
Im Zeitalter der Industrialisierung steigerte der Kapitalismus die Arbeitsproduktivität und bewirkte so, dass Europa (und nachfolgend die USA) mit vergleichsweise wenig produktiven Menschen einen deutlich höheren Output erreicht als alle anderen Regionen der Welt. Dieses „europäische Zeitalter“ erreichte seinen Gipfelpunkt im Jahr 1913, als Europa 47% der globalen Wirtschaftsleistung stellte. Von da an ging’s mit Europa (im Vergleich mit anderen Regionen) bergab.
Heute stellt Europa noch 25% der Weltwirtschaftsleistung.
2. Kapitalistische Kernzonen stagnieren, die Peripherie holt auf
Seit 1970 lagen die Wachstumsraten in Asien deutlich über dem Wirtschaftswachstum von Europa und von Amerika. Der globalisierte Kapitalismus entwickelt die Arbeitsproduktivität in der Peripherie schneller als in den alten Metropolen. Der Produktivitätsvorsprung der kapitalistischen Metropolen des 19. und 20. Jahrhunderts schwindet. Bei mehr oder minder gleicher Produktivität entscheidet zunehmend die Anzahl der (produktiven) Bevölkerung über die Wirtschaftskraft eines Landes. Das ist der Entwicklungstrend der letzten 50 Jahre.
Das relative wirtschaftliche Gewicht der USA (mit Lateinamerika) erreichte 1950 seinen Höhepunkt mit rund 35% Anteil an der Weltwirtschaft. Heute beträgt der amerikanische Anteil an der Weltwirtschaft noch rund 27 %.
Die Gründe für diese Trendwende hat Karl Marx in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ überzeugend dargelegt: Es ist der Trend, der bei wachsenden Kapitalgrößen und ständig modernisierter Technologie menschliche Arbeit zunehmend überflüssig macht, was die Profitrate schmälert.
Der drohende Fall der Profitrate bedroht "reife" Einzelkapitale ebenso wie entwickelte kapitalistische Volkswirtschaften.
Es wird immer mehr Kapital nötig, um den kapitalistischen Mehrwert oder Profit aus immer weniger Lohnarbeitern herauszupressen. Das führt notwendig zu Kapitalexport und zur beschleunigten kapitalistischen Entwicklung in Ländern, die bisher in der Entwicklung hinterherhinkten. Die erfolgreichen Kapitalnationen züchten neue Konkurrenten heran und stärken sie.
Niedergang der klassischen imperialistischen Mächte:
Der Gewinner dieses relativen Abstieges von Europa und den USA ist vor allem China. China ist der große Gewinner der Globalisierung, Europa (ohne Russland) ist der große Verlierer der Globalisierung. Der prozentuale Anteil Europas an der Weltwirtschaft fiel von rund 35 % im Jahr 1980 auf knapp 20 % im Jahr 2016. Und es sieht nicht so aus, als könne Europa aus seiner Position der Schwäche "zurückkommen".
An Wirtschaftskraft hat China Deutschland und
Europa weit überholt:
3. Chinas „neue Seidenstraße“
Seit 2013 hat China Pläne für eine „neue Seidenstraße“ vorgestellt. 60 Länder zwischen Beijing und London sollen durch Mega-Verkehrsmittel enger miteinander verbunden werden. Es sollen neue Bahnlinien, Autobahnen, Pipelines für Öl und Gas, sowie eine Kette von Containerhäfen entstehen.
Siehe die folgende Grafik:
China ist der große Gewinner der bisherige Globalisierung: Durch verbesserte Verkehrsverhältnisse und digital gesteuerte Logistik, entstanden Produktionsstätten und Lieferfirmen überall in der Welt, die eine gemeinsame „Wertschöpfungskette“ bilden, und deren Produkte in die ganze Welt geliefert werden. Globalisierung ist die durch Kapitalexport geschaffene internationale Arbeitsteilung in allen Produktionssektoren. Das am besten bekannte Beispiel dafür ist die Produktion von Smartphones, die in den USA konzipiert werden, deren Teile in ganz Asien hergestellt und in China zusammenmontiert, in den USA verpackt und vermarktet werden.
Die Leiter und Manager dieser globalen Produktionsstruktur saßen bisher in den USA und in Europa. Das soll sich durch die „neue Seidenstraße“ ändern. Mit diesem Projekt bereitet China die Infrastruktur vor, um eigene Wertschöpfungsketten in ganz Eurasien zu etablieren. Die „neue Seidenstraße“ ist die Fortsetzung und Intensivierung der Globalisierung des Kapitals auf dem eurasischen Kontinent unter chinesischer Hegemonie.
China übernimmt mit der „Belt-and-Road-Initiative“ das Erbe der europäischen und amerikanischen Imperialisten. Seit die Wirtschaftsführer in den USA und in Europa bemerkten, dass sie durch Kapitalexport und Globalisierung nicht als einzige profitieren, sondern langfristig neue Konkurrenten entwickeln und stärken, seitdem favorisieren viele wieder ein nationales Entwicklungskonzept. Hauptvertreter dieser nationalistischen Wirtschaftspolitik ist US-Präsident Trump.
In dieser Situation kopiert und übernimmt die chinesische Führung die bisherige Globalisierungs-Rhetorik des Westens: „The initiative to jointly built the Belt and Road, embracing the trend towards a multipolar world, economic globalization, cultural diversity and greater IT application, is designed to uphold the global free trade regime and the open world economy in the spirit of open regional cooperation. It is aimed at promoting orderly and free flow of economic factors, highly efficient allocation of resources and deep integration of markets;” (Ministry of Foreign Affairs and Ministry of Commerce of the People’s Republic of China, with State Council authorization, March 2015).
Auf Deutsch in eigener Übersetzung:
"Die gemeinsame Initiative „Band und Straße“ soll - inmitten der Trends zu einer multipolaren Welt, zu wirtschaftlicher Globalisierung, zu kultureller Vielfalt und vermehrte Anwendung von IT-Lösungen - den globalen Freihandel und die offene Weltwirtschaft im Geiste offener regionaler Zusammenarbeit aufrechterhalten . Die Initiative zielt darauf ab, einen geordneten und freien Fluss wirtschaftlicher Faktoren, eine hocheffiziente Allokation von Ressourcen und eine tiefe Integration der Märkte zu fördern."
(Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und Handelsministerium der Volksrepublik China, mit Genehmigung des Staatsrates, März 2015).
China macht exakt dort weiter, wo die Globalisierer Europas und der USA schon gescheitert sind.
Wal Buchenberg, 2018.08.05
Siehe auch:
Verlierer Europa - Gewinner China