Doku: Ukrainischer Nationalismus - eine Analyse

  • In der Ukraine herrscht seit Jahrzehnten die Vorstellung, dass sich "die Guten" und "die Bösen" bestimmten Regionen und Landesteilen zuordnen lassen.
    Dieses nationalistische Vorurteil, das auch von vielen Linken in Deutschland unterstützt wird, verhindert jede nichtmilitärische, zivile Lösung des Bürgerkrieges in der Ukraine.


    Das Interview mit dem Historiker G. Rossolinski-Liebe bei Heise.de


    Vergleiche auch diese Kritik von ukrainischen Linken an westlichen Linken und deren einseitige Solidarität:
    http://www.scharf-links.de/46.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=49904&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=cb0c653422

  • Tja, wenn sogar die Linken in Kategorien wie „Gut“ und „Böse“ denken, werden die Kriege wohl nie aufhören.


    Der Interviewte tut das, denn er nimmt ja den Standpunkt des westlichen (guten) Imperialismus ein. Aus seinem angesammelten Wissen ist mit dessen Interpretation Ideologie geworden. Das entscheidende Kriterium, ohne es diesen Krieg nicht gäbe, den Nationalismus, würdigt er und beschreibt ihn nach seiner Manier, kritisiert ihn aber nicht. So sollte der ukrainische Nationalismus halt vielfältiger sein, eine pluralistische Identität zum Inhalt haben und sich in Europa verorten etc.. Und weil das gegenwärtig nicht so ist, kommt er zu dem Urteil, dass ein falsch verstandener (ukrainischer) Nationalismus zum Bürgerkrieg geführt haben muss. So lenkt er von den ganz offensichtlichen Gründen ab. Das ist echte Ideologie.


    Tatsache und Wirklichkeit ist, dass dort die Menschen etwa 50 Jahre friedlich nebeneinander gelebt haben. Aber weil die Imperialisten, wie sie eben mal sind und im Fall der Ukraine ganz eindeutig die Westlichen (die auch noch um die Vorherrschaft der Einflussnahme kämpfen), nicht ruhen und unaufhörlich größer und stärker werden wollen, haben sie mit ihren Methoden einen Aufstand gegen die alte Regierung angezettelt. Insbesondere haben sie den Nationalismus der Lohnarbeiter instrumentalisiert, haben es geschafft, die Lohnarbeiter zu spalten und den Bürgerkrieg damit in dieses Land getragen. So was interessiert den Historiker von seinem wertfreien wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht. Lieber trägt er uns ein Narrativ im Dienste der europäischen Imperialisten vor.


    Den Interviewten interessiert nicht, dass Nationalismus grundsätzlich schädlich für die Lohnarbeiter ist (weil er u.a. von den Herrschenden für ihre Zwecke instrumentalisiert werden kann). Eigentlich müsste das Elend, das uns seit ein paar Wochen täglich in den Nachrichten vor Augen geführt wird, eine Lehre sein, wohin es führt, wenn Lohnarbeiter statt für ihre Interessen zu kämpfen, zu Nationalisten werden und gewaltsam aufeinander losgehen.


    Kim

  • Hallo Kim,
    ich lese das Interview nicht so negativ wie du. Ja, er lehnt Nationalismus nicht wie du prinzipiell ab, er spricht sich für ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Kulturen und Nationalismen aus. Er erwartet von der ukrainischen Regierung, "einen anderen Umgang mit der kulturellen Pluralität", um "die kulturelle Pluralität zu unterstützen und die russische Sprache als eine gleichberechtigte Zweitsprache anzuerkennen."
    Er verlangt:
    "Um so einen Staat kulturpolitisch angemessen zu verwalten, muss man seine Vielfalt akzeptieren und mit ihr umgehen können. Man kann nicht von allen seinen Bürgern verlangen, dass sie sich mit einer nationalistischen Version der ukrainischen Geschichte identifizieren oder dass sie alle und in allen Situationen Ukrainisch sprechen. Es ist ungefähr so, als ob sie alle Menschen in der Schweiz dazu verpflichten würden, in den Schulen und in Ämtern nur Deutsch zu sprechen."
    Solch eine Haltung - wäre sie weiter verbreitet - würde ausreichen, um den Bürgerkrieg in der Ukraine zu beenden, und nach friedlichen, nichtmilitärischen Lösungen zu suchen.


    Im übrigen glaube ich auch nicht, dass hinter der Anlehnung der Westukrainer an die EU und die Orientierung der Ostukrainer an Russland nur oder vor allem "Nationalismus" steckt.
    Ich denke, der Grund für diese Orientierung ans westliche oder östliche Ausland ist ein tiefsitzender Frust der einfachen Menschen in der Ukraine gegenüber ihren politischen und wirtschaftlichen Eliten.
    Während Polen im Westen und Russland im Osten sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wirtschaftlich erholten, wurde die Ukraine völlig heruntergewirtschaftet.



    Ich denke, die Reaktionen der Ukrainer im letzten Jahr entsprechen der Reaktion der DDR-Bevölkerung nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes. Niemand in der DDR wollte einen "Neuanfang" mit den alten Eliten. Statt dessen suchten sie den schnellen Anschluss an den Westen. So ähnlich verhalten sich die Ukrainer. Sie fliehen vor ihrer alten Führungsschicht unter die Rockschöße einer ausländischen Vormacht: der EU im Westen und von Russland im Osten.
    In beiden historischen Fällen sehe ich weniger "Nationalismus" am Werk, als ein Kalkül der Mehrheit, das die vorhandenen politischen Kräfte danach abschätzt und beurteilt, wer sie am schnellsten aus dem bestehenden Schlamassel herausbringen kann, und am überzeugendsten volle Teller, warme Wohnungen und Fortführung aller Rentenzahlungen verspricht.


    Würde ich heute in der Ukraine leben, würde ich ebenfalls alle meine Hoffnungen auf die Anbindung an die EU setzen. Alle anderen kurzfristigen Optionen sind noch schlimmer als das. (Aber am wahrscheinlichsten wäre, dass ich die Ukraine schon längst verlassen hätte - ebenfalls mit Ziel Westen, und keinesfalls mit Ziel Moskau.)


    Gruß Wal

  • Hallo Wal.


    Ob Leute mit einer Tracht herumlaufen und alte Lieder singen, ob sie, neben der in einem Kollektiv eingeführten, auch noch in einer anderen Sprache oder Dialekt quasseln möchten usw., kann man interessant oder vielleicht auch lächerlich finden, aber wegen solcher Lappalien gehen Menschen nicht kollektiv aufeinander los. Erst wenn dahinter ethnisch-rassistische Gründe auszumachen sind, wird die Sache gefährlich. Erst dann sind die Menschen bereit, aufeinander los zugehen, insbesondere wenn diese Haltung von den herrschenden Klicken instrumentalisiert wird.


    Und deshalb ist es Ideologie, was der Historiker uns erzählen will. Die Menschen in dieser Region sind nicht wegen unverstandener unterschiedlicher kulturpolitischer Haltungen aufeinander losgegangen, sondern weil ein ukrainischer Nationalismus von den an der Region interessierten Imperialisten aufgewärmt, aufbereitet und schließlich für ihre Zwecke instrumentalisiert wurde.


    Wahrscheinlich haben sich die ukrainischen Lohnarbeiter v o r Ausbruch des Krieges von der Anlehnung an den einen der beiden Imperialisten materielle Verbesserungen erhofft. Aber schließlich wurde der Aufstand nicht dafür, sondern für höhere, nationale, Werte geführt. Und dieser mit faschistoiden Argumenten und Methoden geführte nationalistische Aufstand wurde von der Mehrheit der ukrainischen Lohnarbeiter unterstützt und durch Wahlen bestätigt. Inzwischen geht es nicht mehr um vollere Pötte; die Hoffnung auf materielle Verbesserung dürfte schon längst erloschen sein, denn mit dem Krieg ist es ja genau in die andere Richtung gegangen, mit ihm ist erst mal das Elend in dieser Region eingekehrt und damit müssen die ukrainischen Lohnarbeiter wohl für lange Zeit zurechtkommen.


    Unter der Ägide des Imperialismus können radikale Linke den ukrainischen Lohnarbeitern von außen keine taktischen oder sonstige Empfehlung geben, auf welche Seite sie sich schlagen sollten. Die ukrainischen Lohnarbeiter hätten zwar genug Gründe, sich gegen den Staat und seine Elite zu erheben. Aber dazu müssten sie erst mal ihren Nationalismus ablegen, durch den sie ja genau das Gegenteil erreicht, nämlich sich mit dieser Klicke zusammengeschlossen haben.


    Als außen stehender radikaler Linker kann man in diesem Konflikt keine Parteinahme ergreifen, sondern nur auf die Schädlichkeit des Nationalismus hinweisen und den Nationalismus der Mehrheit der ukrainischen Lohnarbeiter als praktisches (negatives) Lehrstück dafür nehmen, zu welchem Elend er stets und letztendlich für die Lohnarbeiter führt - dass es also nicht nur nichts bringt, sondern äußerst schädlich ist, den Nationalismus für eine Lösung zur Verbesserung der allgemeinen menschlichen Lebensbedingungen zu halten.


    Beste Grüße
    Kim

  • Hallo Kim,
    es ist mir schwer vorstellbar, dass die Bewohner und Lohnabhängigen in der Ukraine die alte Führung vertrieben haben, um mit einer neuen Führung Krieg gegen Russland zu führen. Wir sollten nicht die Untertanen für die Untaten der Machtinhaber verantwortlich machen.
    Die "Junge Welt", die offen eine der Kriegsparteien in der Ukraine unterstützt, berichtet heute:
    Der ukrainische Verteidigungsminister Poltorak gab kürzlich zu, "dass es im Rahmen der landesweiten Mobilmachung lediglich gelungen sei, 20 Prozent der für den Kriegseinsatz vorgesehenen Wehrpflichtigen zu rekrutieren. 80 Prozent der Einberufenen wollen nicht an die Front." Viele Ukrainer versuchten, der Mobilisierung zu entgehen und sich dem Kriegsdienst durch Flucht ins Ausland zu entziehen. Daher wurde nun die Ausreise aller Männer zwischen 18 und 60 Jahren eingeschränkt.


    Gruß Wal

  • Hallo Wal,


    Ich wollte nicht die ukrainischen Lohnarbeiter/ Untertanen verantwortlich für den Bürgerkrieg und anderes angerichtete Unheil verantwortlich machen, sondern darauf hinweisen, dass es grundsätzlich ein Fehler und deren eigener Schaden ist, wenn sich die Lohnarbeiter und andere Untertanen auf den Nationalismus einlassen, weil sie damit einen Pakt eingehen, in dem sie ihr Interesse an guten Lebensbedingungen in die Hände ihrer eigenen Unterdrücker legen und sich damit gleichwohl für die politischen Absichten von denen und der hinter ihnen stehenden Imperialisten einspannen lassen.


    Ich meine, es ist verkehrt analysiert, den paramiltärischen Sieg von einem Haufen Patrioten/Faschisten als einen Aufstand der Lohnarbeiter hinzustellen, die die alte Führung vertrieben haben. Wenn auch die anfänglichen Massenproteste auf dem Maidan nicht ausgesprochen nationalistisch waren und sich gegen Korruption, Versagen der Wirtschaftspolitik u. ä. richteten, wandelte sich dieser Protest jedoch immer mehr zu in einem nationalistischen Kampf der schließlich nur noch von einem Haufen fanatischer zu allem entschlossener Patrioten/Faschisten geführt wurde. Obwohl abzusehen war, dass mit den Zielsetzungen dieser nationalistischen Paramilitaristen ein Bürgerkrieg so gut wie unausweichlich war, hat sich die (durch Wahlen in Erscheinung getretene) Mehrheit der Lohnarbeiter dennoch vom Nationalismus dieser Leute vereinnahmen lassen und ihren Nationalismus aktiviert. Man kann m. E. diesen politischen Vorgang in etwa mit der Unterstützung und Duldung der Machtübernahme der Nazis in Deutschland durch die Mehrheit der Lohnarbeiter vergleichen.


    Die Struktur des ukrainischen Militärs ist durch die Spaltung des Landes gebrochen. Auch die Versorgung mit schweren Waffen, die soweit ich informiert bin, vor allem im Osten des Landes produziert werden, dürfte schwierig sein. Eigentlich kämpfen nur die fanatischen Maidan-Patrioten/Faschisten und ihre Anhänger gegen die Aufständischen im Osten. Bei einer hohen Wahrscheinlichkeit auf Verwandte und Freunde schießen zu müssen, ist es verständlich, dass kaum ein Ukrainer, der noch ein bisschen Verstand im Kopf hat, sich diesem Haufen anschließen möchte. Soweit hat sich der Nationalismus (zumindest bis jetzt) dann doch nicht mobilisieren lassen.


    Beste Grüße
    Kim

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