Sind die Demokratien unregierbar?

  • Der „Economist“ sorgt sich, dass die demokratischen Staaten des entwickelten Kapitalismus unregierbar werden.

    In vielen westlichen Ländern haben die Regierungen nur eine knappe oder keine parlamentarische Mehrheit. Das zwingt sie entweder dazu, Neuwahlen auszurufen oder langwierige Koalitionsverhandlungen mit Parteien zu führen, die auch nur eine geringe Unterstützung bei Wahlen erhalten haben. Der Einfluss der großen „Volksparteien“ schwindet dahin. Sie verlieren sowohl Mitglieder wie Wählerstimmen. Und fast überall da, wo mit Mühe eine Regierung installiert wurde, lähmen sich die Regierungsmitglieder gegenseitig. Die Unfähigkeit des britischen Parlaments, zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen, ist in vielen westlichen Parlamenten und Parteizentralen spürbar.

    All das trifft zu, aber macht das die Länder der kapitalistischen Kernzone „unregierbar“?

    Ich denke, all diese Merkmale beweisen höchstens eine Regierungsschwäche. Sie zeigen, dass unsere politischen Eliten unfähig zum Regieren geworden sind.


    In den 1970er Jahren, als ich und viele ältere Linke politisch sozialisiert wurden, war die Welt viel stärker in Bewegung. Es gab den bewaffneten Befreiungskampf in der Dritten Welt, es gab wilde Streiks in den Fabriken, und in den Straßen formierte sich Protest gegen Rassismus und Chauvinismus, gegen Atomkraft und gegen Aufrüstung.
    All diesen sozialen Bewegungen standen stabile Staatsorgane gegenüber. Bis auf wenige Tage in Paris während des Mai 1968 zweifelten die politischen Machthaber nicht an ihrem Regierungsauftrag. Und falls doch ein Regierungschef wie Willy Brandt ins Grübeln kam, konnte er schnell durch entschlossenere Figuren, durch einen Helmut Schmidt, ersetzt werden.

    Wir erleben heute in vielen westlichen Ländern unentschlossene und uneinige Regierungen, die aber kaum durch Massenbewegungen herausgefordert werden.


    Was heutige Regierungen verunsichert und ratlos macht, ist der Nebel, der über der künftigen wirtschaftliche Entwicklung liegt. Solange die Wirtschaftswachstumsraten hoch waren, war das Regieren einfach. Man wollte alles größer, man wollte von allem mehr: Die Produktion, die Löhne und Renten, die Profite – alles kannte nur eine Richtung: nach oben.


    Inzwischen sind die Wachstumsraten chronisch niedrig. Wir stehen plötzlich vor hunderten Scheidewegen: Entweder Atomkraft oder erneuerbare Energien, entweder mehr Kohle, mehr Autos, mehr Lebensmittelfabriken oder gesündere Umwelt. Entweder mehr (junge) Immigranten oder ein Wachstumsrückgang in der alternden Gesellschaft. Entweder noch höhere Schuldenberge oder Sparsamkeitspredigten. Entweder noch größere Steuergeschenke an Kapitalisten oder noch mehr Kapitalflucht in eine globalisierte Welt.

    In dieser chronisch kriselnden Welt gibt es keine einfachen Entscheidungen mehr. Davon können auch die Linksparteien ein Liedchen singen. Sie blamieren sich ein ums andere Mal genauso wie die Mainstream-Parteien.


    Die kapitalistische Welt ist von einer Lähmung befallen, die ihren Ursprung im geschwächten Kapitalkreislauf hat. Diese Lähmung zeigt sich in den politischen Schaltzentralen und in der staatlichen „Muskulatur“. Diese praktische Lähmung und politische Verunsicherung führt dann zu ständigen Gesetzesverschärfungen und zu dauernden Rufen nach staatlicher Aufrüstung und zu intensiverer Überwachung.


    Es ist eine Welt ohne Ausweg.


    Wal Buchenberg, 3. August 2019


    Siehe auch:



    Parteien sind out!


    Demokratie statt Diktatur - ja, und was dann?

    Kapitalismus und Demokratie


    Die kommende Krise


    Finale Krise des Kapitalismus?


    Die Krise der (Staats)Linken ist unheilbar

  • Newly created posts will remain inaccessible for others until approved by a moderator.