Bibelwissenschaft und Wertbegriff

  • Es gibt in der Marxologie so viele Bücher und Artikel über den Marxschen Wertbegriff, dass sie einen großen Bibliothekssaal füllen.

    Die meisten dieser Texte beschäftigen sich nur oder hauptsächlich mit dem einleitenden Kapitel „Die Wertform oder der Tauschwert“ im Kapital Band I. Marx nennt solche Autoren „Unglückliche“, die nicht sehen, „dass, wenn in meinem Buch gar kein Kapitel über den ‚Wert‘ stünde, die Analyse der realen Verhältnisse, die ich gebe, den Beweis und den Nachweis des wirklichen Wertverhältnisses enthalten würde.“ (Marx an Kugelmann, 1868, MEW 32, 552.)

    Kaum einer dieser Flut von Wertkritik-Texten befasst sich jedoch mit der Analyse der realen kapitalistischen Verhältnissen. Statt dessen wird vorwärts und rückwärts Exegese betrieben. Solcher Bibelwissenschaft hielt Marx entgegen: „Die Wissenschaft besteht eben darin, zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetzt.“ (Marx an Kugelmann, 1868, MEW 32, 553.)


    Ein anderer Saal marxistischer Bibelwissenschaft wird über den Zusammenhang von Preis und Wert gefüllt – das berüchtigte „Transformationsproblem“ .

    Bei Marx gibt es kein Transformationsproblem. Ein Transformationsproblem hat nur der, der nach einem direkten und einfachen Zusammenhang zwischen dem Preis einer Einzelware und „ihrem Wert“ sucht. All diesen Transformationssuchern sagte Marx: Sie hätten „... nicht die geringste Ahnung davon, dass die wirklichen, täglichen Austauschverhältnisse (d.h. Preise, w.b.) und die Wertgrößen nicht unmittelbar identisch sein können. ... Das Vernünftige und Naturnotwendige (i.e. der Wert, w.b.) setzt sich nur als blindwirkender Durchschnitt durch.“ (Marx an Kugelmann, 1868, MEW 32, 553.)

    Anders gesagt: Ein Transformationsproblem hat nur der, der meint, es gäbe eine Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen Warenwerten und Marktpreisen.


    Ich denke, das Transformationsproblem hat drei Arten von Liebhaber:

    Erstens sind da die „reinen Wissenschaftler“, die behaupten: Was ich nicht berechnen kann, das existiert nicht!

    Sie erwarten, dass zwischen der Preisoberfläche und der Werttiefe der Waren mechanische Verbindungen bestehen müssen, gleichsam Zahnräder und Hebel, so dass eine Veränderung der einen Ebene eine berechenbare Veränderung der anderen Ebene verursacht.

    Nun ging Marx zwar von der Preisebene aus, um die Wertebene aufzudecken, aber er ging nie von bestimmten Preisen aus, um zu bestimmten Wertgrößen zu kommen. Die Verhältnisse von Preis und Wert sind nicht mechanisch bestimmt. Wer diese „Undeutlichkeit“ Marx zum Vorwurf macht, der muss auch die Quantenphysik dem Einstein zum Vorwurf machen.

    Zweitens sind da die kapitalistischen Nutzanwender.

    Sie suchen nach einer kapitalistischen Nutzanwendung der Marxschen Werttheorie und finden keine. Die Marxsche Kapitalkritik ist nicht betriebswirtschaftlich zum Beispiel für die „korrekte“ Preisfindung anwendbar. Was für diese Nutzanwender keinen betriebswirtschaftlichen Nutzen hat, hat in ihren Augen überhaupt keinen Nutzen.

    Drittens sind da die sozialistischen Nutzanwender a la Paul Cockshott und DDR.

    Diese Leute suchen nach einer sozialistischen Nutzanwendung der Marxschen Werttheorie und müssen eben dafür einen mechanischen Zusammenhang zwischen Werten und Preisen unterstellen, damit sie sich bei ihrer willkürlichen Preisbestimmung für Produkte zentralwirtschaftlich gesteuerter Produktion auf die Theorie von Karl Marx berufen können, und damit ihren bürokratischen Willkürentscheidungen ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängen können.


    Zwischen diesen drei Sorten von Transformationsdenkern entsteht dann eine Diskussion auf zwei Ebenen:

    Erstens eine verstohlene Diskussion zwischen den kapitalistischen und den sozialistischen Nutzanwendern, die voneinander abschreiben ("von einander lernen") wollen .

    Zweitens eine uferlose Diskussion zwischen den „reinen Wissenschaftlern“ und den sozialistischen Nutzanwendern von Karl Marx. Bei dieser Diskussion zwischen müssen notwendig die sozialistischen Nutzanwender immer den Kürzeren ziehen, was sie aber nicht anficht, weil sie ja auf der „richtigen Seite der Geschichte“ stehen, und weil Marx nicht irren kann. :D


    Die Bibelwissenschaft der Marxologie könnte man als pure Zeitverschwendung abtun. „Aber die Sache hat hier noch einen anderen Hintergrund. Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretischer Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. Es ist also hier absolutes Interesse der herrschenden Klassen, die gedankenlose Konfusion zu verewigen.“ (Marx an Kugelmann, 1868, MEW 32, 553f.)

    Und gedankenlose Konfusion ist das, was marxistische Bibelforscher anrichten.


    Wal Buchenberg, 9. Mai 2019


    Siehe auch:

    Problematische Aussage bei Marx (Wertbestimmung)


    Transformationsproblem


    Werte und Preise im Sozialismus

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