Ofenschlot: "Das Bewusstsein kommt zum Schluss ..."

  • In seinem Blog sammelt Ofenschlot wertvolle Fundstücke aus einer vergessenen Welt der Gedanken. Sein letztes Fundstück stammt aus dem Jahr 1908.
    Ofenschlots Anmerkung sei hier noch einmal vorgestellt und von mir bekräftigt:


    „Wir haben schon weiter oben den Unterschied aufgezeigt zwischen der falschen These, wonach sich in jeder Epoche die gegensätzlichen Interessen der Klassen in gegensätzlichen Theorien der Klassenmitglieder spiegeln, und der richtigen These, wonach in jeder Epoche die beherrschte Klasse dazu neigt, sich zum den Interessen der herrschenden Klasse entsprechenden theoretischen System zu bekennen. Sklave im Fleische, Sklave im Geiste. Der alte bürgerliche Schwindel besteht eben darin, mit der Befreiung des Geistes beginnen zu wollen, was zu nichts führt und die Nutznießer der sozialen Privilegien nichts kostet; was zuerst befreit werden muss, sind die Leiber.
    So ist es auch bezüglich des Bewusstseins falsch, die deterministische Reihenfolge wie folgt zu setzen: machtvolle ökonomische Ursachen – Klassenbewusstsein – Klassenkampf. Die Reihenfolge ist hingegen: bestimmende ökonomische Ursachen – Klassenkampf – Klassenbewusstsein. Das Bewusstsein kommt zum Schluss und im Allgemeinen erst nach dem schließlichen Sieg. Das ökonomische Bedürfnis bündelt den Druck und die Kraftanspannung all derjenigen, die durch die von einer bestimmten Produktionsweise kristallisierten Formen unterdrückt und erstickt werden; sie reagieren, schlagen um sich und wagen den Sturm auf die Festungen des Systems; im Laufe dieser Zusammenstöße und Kämpfe verstehen sie immer besser deren allgemeine Bedingungen, die Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien des Kampfes, und das Programm der kämpfenden Klasse schält sich deutlich heraus.“


    http://ofenschlot.blogsport.de/


    Dazu noch ein paar Gedanken von Karl Marx und F. Engels, die ganz in dieselbe Richtung gehen:


    „Die wirkliche, praktische Auflösung dieser Phrasen, die Beseitigung dieser falschen Vorstellungen aus dem Bewusstsein der Menschen wird, wie schon gesagt, durch veränderte Umstände, nicht durch theoretische Deduktionen bewerkstelligt." K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 40.


    „Dieser ganze Schein, als ob die Herrschaft einer bestimmten Klasse nur die Herrschaft gewisser Gedanken sei, hört natürlich von selbst auf, sobald die Herrschaft von Klassen überhaupt aufhört, die Form der gesellschaftlichen Ordnung zu sein, sobald es also nicht mehr nötig ist, ein besonderes Interesse als allgemeines oder das Allgemeine als herrschend darzustellen." K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 48.


    „Es jedoch falsch, die Proletarier als eine geschlossene Gesellschaft zu unterstellen, die nur den Beschluss des Zugreifens zu fassen haben, um am nächsten Tag der ganzen bisherigen Weltordnung insgesamt ein Ende zu machen. Die Proletarier kommen aber in der Wirklichkeit erst durch eine lange Entwicklung, zu dieser Einheit, ... zu ... einer revolutionären, verbündeten Masse ..." K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 305.


    „Die Kommunisten, indem sie die materielle Basis angreifen, auf der die bisher notwendige Festigkeit der Begierden oder Gedanken beruht, sind die einzigen, durch deren geschichtliche Aktion die Veränderung der fixwerdenden Begierden und Gedanken wirklich vollzogen wird und aufhört, wie bei allen bisherigen Moralisten ... ein ohnmächtiges Moralgebot zu sein." K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 238.


    „Für den schließlichen Sieg der im Kommunistischen Manifest aufgestellten Sätze verließ sich Marx einzig und allein auf die intellektuelle Entwicklung der Arbeiterklasse, wie sie aus der vereinigten Aktion und der Diskussion notwendig hervorgehen musste. Die Ereignisse und Wechselfälle im Kampf gegen das Kapital, die Niederlagen noch mehr als die Erfolge, konnten nicht umhin, den Kämpfenden die Unzulänglichkeit ihrer bisherigen Allerweltsweisheiten klarzulegen und ihre Köpfe empfänglicher zu machen für eine gründlichere Einsicht in die wahren Bedingungen der Arbeiteremanzipation. Und Marx hatte recht." F. Engels, Vorwort zum Kommunistischen Manifest (1890), MEW 22, 57.


    Karl-Marx-Lexikon: Bewusstsein

  • Ganz allgemein sehe ich es auch so, aber die Proletarier sind eben keine "geschlossene Gesellschaft", und bei einigen verändert sich das Bewusstsein wohl doch auch durch "theoretische Deduktionen". Wo hätte es für mich als 15jähriger Schülerin Anfang/Mitte der 1970er Erfahrungen mit Klassenkampf geben können? Vor allem in einem Kaff im Saarland. Und die Leute, mit denen ich damals in diesem kommunistischen Grüppchen zusammen war, wurden im Wesentlichen genauso "politisiert".


    Wahrscheinlich resultiert daraus dieser falsche Ansatz - erst Klassenbewusstsein, dann Klassenkampf - und daraus dann der Frust über das "blöde" Proletariat, welches sich von der "Avantgarde" einfach nicht zum Klassenkampf motivieren lassen will. Nach dem Motto "Was bei mir funktioniert hat, muss doch bei denen auch klappen". Wobei ich mich frage, wie weit das Klassenbewusstsein geht, wenn sie zwischen "uns" und "denen" unterscheiden.


    Tja, die Aufklärung hat bewirkt, dass man sich aufgeklärt fühlen darf. Schön, und wie weiter? ;-)


    Trotzdem halte ich es nicht für völlig unerheblich, dass es einige "Vordenker" gibt (Marx und Engels waren ja wohl auch welche - was hat die eigentlich dazu bewogen???). Eventuell vermissen etliche von denen derzeit den "Klassenkampf", wobei ich vermute, sie würden ihn selbst dann nicht erkennen, wenn er ihnen in die Nase beißt ...


    Ich sehe es eher so, dass die Sichtweisen zu statisch dargestellt werden, dass es also nicht immer zu 100% so sein wird, dass alle Proletarier erst in Klassenkämpfen ihr Klassenbewusstsein entwickeln können. Und einige werden es auch da nicht tun.


    cu
    renée

  • Hallo renee,
    so wie du überlegst, wie war das damals in meiner Jugend?, so hatte ich mir das auch durch den Kopf gehen lassen.
    Ich bin aber zu etwas anderen Ergebnissen gekommen. Gelesen hatte ich damals alles, was irgendwie "neben der Spur" war: Nietzsche, Kiergegaard, Hegel, philosophische Texte von Marx (als Fischer TB). Was hatte ich davon verstanden? Wenig bis nichts.
    Tatsächlich lag damals aber Protest "in der Luft" und da hatte ich mich beteiligt. In der Schule nur als "Einzelkämpfer", an der Uni dann als "Basisgruppe". Die Beschäftigung mit dem Kapitalismus als System und der Marxschen Kapitalkritik kam bei mir erst spät, als ich schon Mitglied im KBW war. Ich denke, auch Individuen verändern ihr Denken durch Tun und nicht umgekehrt.


    Natürlich gibt es in jeder Klassengesellschaft immer auch "Theoriekeime" die sich gegen die herrschende Klasse richten, und an denen sich die Menschen orientieren können. Ich denke da zum Beispiel an die Fabeln von Äsop in der Sklavenhaltergesellschaft, oder an den "Simplizissimus" und die Volksmärchen zu Beginn des Kapitalismus. Dann die Utopisten und Frühsozialisten im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Aber zu einer kompletten und umfassenden Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse hat es nie gereicht. Das hat erst Karl Marx geschafft. Leider wurde das Werk des Revolutionärs Marx von den Traditionsmarxisten in Beschlag genommen und verstümmelt. Die Kapitalkritik von Marx steht heute ziemlich isoliert und abgeschnitten von allen sozialen Kämpfen.
    Das Karl-Marx-Forum mit dir, mir und möglichst vielen anderen schafft hoffentlich einen kleinen Beitrag, um das zu ändern, :thumbsup: aber die Hauptarbeit bei der Umgestaltung des Denkens machen die Leute selbst, indem sie sich zusammenschließen und zur Wehr setzen.
    meint Wal

  • Ich vermute bei mir eher, dass der ganz private Kleinkrieg mit meiner Mutter den Kern zu meiner Querdenkerei gelegt hat, wo jegliches kritisches Gedankengut auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Ich kann mich noch heute an einen Text im Deutsch-Lesebuch erinnern, der noch vor meinen Kontakten zu kommunistischen Kreisen ziemlich beeindruckend für mich war und meine Empörung hervorrief: Die Waage der Baleks.


    Was ich damit ausdrücken will, dass die Menschen nun mal unterschiedlich sind, manche wehren sich sofort, andere erst, wenn es so richtig "weh tut" und manche selbst dann nicht. Bis jetzt ist mir auch noch nicht recht klar, was eigentlich Klassenkampf genau bezeichnet, auch das Marx-Lexikon hat mir da nicht so richtig weiter geholfen. Bis auf die Teilnahme an Demonstrationen sehe ich bei mir nur den individuellen Kampf mit Behörden etc., das alltägliche Klein-Klein zur Existenzsicherung. Ansonsten findet für mich der Klassenkampf derzeit vor allem im Kopf und vielleicht noch hier im www statt.


    Leider scheint Frankfurt - anders als vor 30 - 40 Jahren - geradezu klassenkämpferisches Niemandsland zu sein, oder ich suche an den falschen Stellen. Der einzige Lichtblick war Occupy, das sich jedoch dermaßen auf das "Campleben" verengt hatte, dass für die "Nicht-Camper" kaum Anknüpfungspunkte zu finden waren. Die Fokussierung auf "Bankster" und "Umverteilen" war ja auch nicht so toll.


    Mal sehen, was mit "Blockupy" so wird, bei der letzten Aktion war leider meine Tochter krank, da konnte ich nicht mitmachen. :(


    cu
    renée

  • Bis jetzt ist mir auch noch nicht recht klar, was eigentlich Klassenkampf genau bezeichnet, auch das Marx-Lexikon hat mir da nicht so richtig weiter geholfen. Bis auf die Teilnahme an Demonstrationen sehe ich bei mir nur den individuellen Kampf mit Behörden etc., das alltägliche Klein-Klein zur Existenzsicherung. Ansonsten findet für mich der Klassenkampf derzeit vor allem im Kopf und vielleicht noch hier im www statt.


    Leider scheint Frankfurt - anders als vor 30 - 40 Jahren - geradezu klassenkämpferisches Niemandsland zu sein, oder ich suche an den falschen Stellen. Der einzige Lichtblick war Occupy, das sich jedoch dermaßen auf das "Campleben" verengt hatte, dass für die "Nicht-Camper" kaum Anknüpfungspunkte zu finden waren. Die Fokussierung auf "Bankster" und "Umverteilen" war ja auch nicht so toll.



    Hallo Renee,
    was Klassenkampf ist, ist eigentlich ganz einfach. Klassenkampf ist ein kollektiver Kampf um/für gemeinsame Interessen.
    Ja, wenn du auf die Leute schaust, dann ist heutzutage Klassenkampf mehr oder minder ein individueller Kampf ums Überleben. Das ist ganz richtig gesehen. Wenn du jedoch auf die Konfliktpunkte schaust, mit denen all die Individuen zu kämpfen haben, so ergeben sich "Konfliktmuster". Diese Konfliktmuster zeigen schon die Kampflinien eines gemeinsamen Klassenkampfs.
    Als Beispiel: Ein HartzIVer legt Widerspruch ein gegen einen Bescheid der Behörde. Das ist ein individueller Akt. Wenn aber 300.000 HartzIVer Widerspruch gegen Bescheide einlegen, dann ist das schon Klassenkampf (-kollektiver Kampf). Allerdings ist das ein kollektiver Kampf, der nur individuell und nicht kollektiv geführt wird.
    Die Herrschenden erleben solchen individuell geführten Klassenkampf durchaus schon als kollektiven Klassenkampf, denn auf ihren Schreibtischen stapeln sich die Einsprüche. Aber die Herrschenden geben sich alle Mühe, so einen kollektiven Konflikt auf der individuellen Ebene zu lassen und den kollektiven Konflikt individuell abzuarbeiten.
    Individuell (subjektiv) gibt es bei uns kaum kollektiven Kampf (abgesehen von einzelnen Konflikten wie Stuttgart21, Lohnkampf, AKWs etc.) Aber all das individuelle und zersplitterte Wehren, Protestieren und Kämpfen im Alltag gruppiert sich an bestimmten Klassenkampffronten. Die Leute stehen quasi in einer gemeinsamen Front, ohne es selbst zu bemerken. In der Regel bemerken die Herrschenden solche Kampffronten viel früher als die Kämpfenden.


    Vor einiger Zeit hatte ich mal versucht, die heutigen Klassenkampfmuster grafisch zu ordnen. Vielleicht sagt dir diese Grafik ja was:




    Gruß Wal

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