Revolution und Gewalt

  • Um den Kommunismus zu erreichen wird eine Revolution benötigt. Dass der friedliche Weg über Reformen (Sozialdemokratie) dazu

    nicht taugt, das wissen wir. Doch die Revolution ist zwangsläufig mit der Anwendung von Gewalt verknüpft. Gewalt gegen die offensichtlichen Handlanger

    der Bourgeoisie ist die eine Sache, aber wie sollen wir mit Abweichlern innerhalb der Arbeiterklasse umgehen? Wie sollen wir mit den Menschen umgehen,

    die uns persönlich nahestehen, aber objektiv betrachtet als politische Feinde zu anzuerkennen sind?

    Diese Frage ist nicht rein hypothetischer Natur, im Gegenteil. Die Menschen waren bereits in der Vergangenheit, als man versucht hat den Sozialismus zu etablieren, mit

    diesem Dilemma konfrontiert. Mir bereitet diese Frage sehr große Sorgen und ich weiß wirklich keine Antwort darauf.:(

  • Wenn du meinst, Menschen, die nicht deiner Meinung ("Abweichler") sind, müssten umgebracht werden, muss auch ich umgebracht werden. Ich bin nicht deiner Meinung.


    Gruß Wal

  • Hallo Wal,


    denkst du, dass der Kapitalismus gewaltfrei überwunden werden kann? Selbstverständlich wäre es mir

    lieber, wenn es auf friedlichem Wege funktionieren würde. Doch ich glaube nicht, dass das so klappen wird.

    Wo ich das Problem mit der Gewalt sehe, ist dass eben auch Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden. Das bereitet

    mir große Sorgen. Wie lässt sich verhindern, dass wir versehentlich die falschen Leute als Klassenfeinde ausmachen?


    Mit besten Grüßen,


    nikotin

  • Wie findest du denn heraus, wer dein Feind oder ein Klassenfeind ist?

    Es gibt im Völkerrecht eine Bestimmung, wer ein "Kombattant" (Kampfgegner) ist. Ein Kombattant ist jemand, der dein Leben mit einer Waffe bedroht. Der kann/darf dann als Kampfgegner laut Völkerrecht ebenfalls mit Waffenwalt bedroht und notfalls getötet werden. Sobald ein Kampfgegner jedoch seine Waffen niederlegt, ist er kein Kombattant mehr und darf auch nicht getötet werden.


    Leider wurde diese Regel in der Vergangenheit wenig beachtet.

    Die preußischen Soldaten hatten schon im Krieg gegen Frankreich 1870 ganze Dörfer niedergebrannt und die Einwohner getötet, wenn sie von dort durch Partisanen beschossen worden waren.

    Im ersten und noch mehr im zweiten Weltkrieg galten gar keine Regeln mehr. Wer eine Waffe hatte, tötete damit, wen er wollte. Besonders schlimm und grausam waren auch alle Kolonialkriege. Barbarisch hatten sich da weniger die "Eingeborenen" (Einheimischen) als vielmehr die Kolonialististen und Imperialisten verhalten.


    Es wäre viel gewonnen, wenn alle Kriegführenden und alle Leute, die Waffen führen, sich an diese Regel halten würden, und nur Gewalt gegen Menschen anwenden, die ihr Leben mit Gewalt bedrohen.

    Wer uns nicht mit Gewalt bedroht, der wird auch von uns nicht mit Gewalt bedroht. Ich finde, das ist eine ganz nützliche Regel.


    Gruß Wal

  • Ich schließe mich Wal an. Notwehr ist legitim. Ansonsten ist von offensiver Gewalt gegen Menschen abzuraten. Nicht nur aus humanistischen Gründen, sondern weil zunehmende Gewaltanwendung zu einer Gewaltspirale führt, die auf eine Militarisierung der politischen Konflikte hinausläuft. Diese Militarisierung benötigt wiederum zentralistische Strukturen, die von der Basis schwer bis unmöglich zu kontrollieren sind. Im Ergebnis läuft die Gewaltspirale auf einen Bürgerkrieg hinaus, der höchstwahrscheinlich heutzutage gegen den Staat (und eine zu erwartende ausländische Intervention) nicht zu gewinnen ist. Syrien ist ein aktuelles Beispiel.


    Selbst wenn die militärisch organisierten Revolutionäre den Bürgerkrieg gewinnen, ist die soziale und politische Kultur dann sehr wahrscheinlich derart verroht, dass Gewalt gegen "Abweichler" in den eigenen Reihen als völlig legitim empfunden wird. Jeder der dann die Richtung des Führungszirkels dieser militärisch strukturierten Revolutionsorganisation kritisiert, wird dann als (indirekter) Unterstützer der Konterrevolution gebrandmarkt und verfolgt.


    Das war der bisherige Werdegang jeder revolutionären Organisation, die versucht hat sich des Staates zu bedienen um die Gesellschaft zu verändern.


    Es darf keinen Rückfall hinter die Errungenschaften des bürgerlichen Rechts geben. Jede Meinung, Versammlung und Organisation muss toleriert werden, solange sie nicht mit Gewalt versucht die nachkapitalistische Ordnung durch eine Gewaltherrschaft umzuwerfen. Wenn die Mehrheit der Menschen den (libertären) Sozialismus nicht will, dann hat er keine Daseinsberechtigung. Die Befreiung der Lohnarbeitenden kann nicht für sie vorgenommen und verordnet werden, sie müssen sie schon selbst wollen.


    Die Vorstellung einer Volkserhebung, die spontan schon irgendwie emanzipatorische Strukturen hervorbringen wird, ist vermutlich genauso naiv wie die Sichtweise der Reformisten, es wäre möglich die bestehenden Verhältnisse derart zu humanisieren, dass wir in einem sozialen und ökologisch eingebetteten Kapitalismus Friede-Freude-Eierkuchen haben könnten.


    Aber beide Seiten haben einen wahren Kern: Der wahre Kern der Revolutionäre liegt darin, dass es Momente des Bruchs bedarf. Die Reformisten haben ein treffendes Argument, dass sich eine neue Ordnung nur graduell und aus dem Bestehenden heraus erarbeiten lässt.


    Ein Bruch mit den Verhältnissen ist erst wirklich vernünftig, und im emanzipatorischen Sinn von den Beteiligten überhaupt kontrollierbar, wenn bereits Institutionen in der gegenwärtigen Gesellschaft bestehen, welche Keime der neuen vorwegnehmen bzw. Ansatzpunkte zum Experimentieren für eine neue Vergesellschaftung bieten. Natürlich muss der Rahmen dafür groß genug sein, dass er von genug Menschen "sichtbar" ist.


    Aber diese Sichtbarkeit muss gegeben und die Funktionsfähigkeit der neuen Institutionen nachvollziehbar sein, damit genug Menschen es überhaupt - nach dem Scheitern des autoritären Staatssozialismus nachvollziehbar - sinnvoll und attraktiv genug finden sich an Projekten und Bewegungen für eine herrschaftsfreie Gesellschaft zu beteiligen.


    Hierfür bedarf es also Pioniere (die sich allerdings niemals als Avantgarde im Sinne des Leninismus verstehen dürfen) die Lohnarbeitende, Studenten, Schülerinnen usw. einladen um mit ihnen in ihren Wohnorten (Städte, Gemeinden), und bezogen auf die öffentliche Daseinsvorsorge, selbstverwaltete Institutionen zu erkämpfen, die sich ein stückweit dem Kapitalverwertungszwang entziehen können. Dieser Prozess wird vermutlich nicht immer ohne Reibereien und Gewalt im Sinne von Notwehr ablaufen, er darf sich aber niemals auf die Gewaltspirale einlassen und sollte dabei womöglich mehr von Gandhi als von Lenin lernen.


    Der Staat wird dabei nicht erobert, sondern seine Kompetenzen werden durch von den Betroffenen selbstverwaltete Institutionen angeeignet.


    Joachim Hirsch nennt diese Perspektive auch "Radikaler Reformismus".

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