Polizei und Lyrik

  • Frühling '87


    Über Winterweizenfelder

    senden staubige Pappeln

    wärmenden Schnee,

    polstern still

    die Sechs-Uhr-Nachrichten

    mit den bedrohlichen Namen:

    „Kalkar“

    „Nukem“

    „Alkem“.


    Erstmals wieder

    seit die Polizei mich verhörte,*)

    steige ich auf einen Berg.


    Begleitet von einem,

    der nie Lederschuhe trägt,

    um keine Kühe zu töten,

    erfahre ich,

    dass eine Million Unterschriften

    gesammelt wurden in Hong Kong

    gegen den atomaren Wind.


    Oben im Winter

    hören wir Stimmen vom Tal,

    doch sehen kaum,

    was vor uns liegt.



    *)„seit die Polizei mich verhörte“

    Mein damaliges Verhör durch die chinesische Polizei (ich wurde insgesamt viermal in China von der Polizei festgenommen und verhört) hatte folgenden Grund:

    Ich hatte den Job als Deutschlehrer an der Technischen Hochschule Xi’an unter anderem deshalb angenommen, weil im Norden der Stadt Xi'an ein Fluss und im Süden der Stadt Berge lagen.

    Der Fluss Weihe war nur eine Kloake und eine große Enttäuschung, aber die Südberge von Xi’an waren eine beeindruckende Bergkette – ähnlich wie die Pyrenäen, aber noch ursprünglicher und noch wilder.

    Wann immer ich Zeit hatte, fuhr ich dorthin. Erst mit dem Bus, dann mit meinem Leichtmotorad und später mit meinem chinesischen Jeep. Mit dem Auto nahm ich dann auch meine Studenten, chinesische und ausländische Kolleginnen und Kollegen dorthin mit. Alle waren von dieser Landschaft begeistert.


    Die Sache hatte nur einen Haken: Das gesamte Gebirge war für Ausländer verbotenes Sperrgebiet. Ausländer durften sich damals nur in einem Umkreis von 10 km um die Stadt Xi’an frei bewegen.

    Chinesische Polizei war damals auf dem platten Land nicht besonders häufig, und chinesische Polizei war auch nicht besonders diensteifrig. Trotzdem fuhr ich irgendwann den Polizisten in die Arme. Sie konfiszierten meinen chinesischen Führerschein und teilten mir auf der Wache mit, ich würde den Führerschein erst wieder bekommen, wenn ich eine „Selbstkritik“ verfasst habe und ich versprochen habe, nie wieder in diese Berge zu fahren. Das war eine vergleichsweise freundliche Behandlung. Ein amerikanischer Journalist, der wenige Wochen zuvor in dem Gebirge aufgegriffen worden war, landete gleich im Gefängnis.

    Ich war ziemlich verzweifelt und fragte alle meine ausländischen Kolleginnen und Kollegen um Rat, was ich tun sollte. Ihr einhelliges Urteil: Das Verlangte tun und das Versprechen abgeben. Für mich kam das nicht in Frage.


    Schließlich machte ich statt einer Selbstkritik mit meinen Gedichten, die ich in den Südbergen und über die Südberge geschrieben hatte, ein kleines handgeschriebenes Büchlein fertig und illustrierte es mit eigenen Fotos. Diesen Lyrikband ließ ich von einer chinesischen Freundin, die im Auslandsamt der Uni als Übersetzerin arbeitete, ins Chinesische übersetzen und überbrachte mein Werk persönlich in die Polizeiwache von Xi’an.


    Nach einer Woche bekam ich kommentarlos meinen Führerschein wieder zurück.

    Seitdem glaube ich an die Überzeugungskraft von Lyrik und an die Lernfähigkeit der (chinesischen?) Polizei.

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