Kostenloser Nahverkehr?

  • "Freie Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr" hat es aus linksradikalen Forderungskatalogen bis in ein EU-Dokument der Bundesregierung geschafft. Das ist schon was.

    Die Medienmeute versucht sofort, dieser linken Forderung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das geschieht auf zwei Wegen:


    Erstens wird versucht, den kostenlosen Nahverkehr auf ein Mittel zu Reinhaltung der Luft zu beschränken. Dieser Trick funktioniert ähnlich wie bei der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, sobald diese Forderung nur als Arbeitsmarktinstrument hingestellt wird.

    Viele Leute winken ab und fühlen sich nicht angesprochen.

    Tatsächlich ist eine radikale Arbeitszeitverkürzung ein wichtiger Schritt bei der Beseitigung der Lohnarbeit, indem nämlich für die Lohnarbeiter zeitlicher Freiraum für eine umfassende Beteiligung an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entscheidungen geschaffen wird.

    Ein kostenloser Nahverkehr ist ein wichtiger Schritt sowohl bei der Einbeziehung aller Niedriglöhner und Hartz-Empfänger in das kommunale Leben als auch ein Schritt zur Rückgewinnung politischer Macht durch die Kommunen.


    Der zweite Versuch, die Diskussion über den kostenlosen Nahverkehr abzuwürgen, wird mit der Kostenkeule versucht. Der Spon tönt: Der Hamburger Verkehrsbund müsste bei freier Fahrt im HVB jährlich 830 Millionen Euro finanzieren, die er zur Zeit durch Fahrkartenverkäufe einnimmt. „Das ist in etwa eine Elbphilharmonie pro Jahr“, die 800 Millionen gekostet hatte.


    Die zunehmende Verarmung der Kommunen ist allerdings von der politischen Klasse in Deutschland gewollt. Die Kommunen erhalten immer weniger aus dem Steuersäckel. Immer mehr Macht und immer mehr Geld wird vom Bund monopolisiert. Der Vertrauensschwund und die Nachwuchssorgen der politischen Klasse in Deutschland wirken immer stärker zentralisierend. Immer weniger Personen im Staat verwalten immer größere Geldmittel und entscheiden über immer mehr (eigentlich) gesellschaftliche Aufgaben.


    Hamburg hat aber 1,7 Millionen Einwohner. Würden alle Einwohner Hamburgs zur Finanzierung des Nahverkehrs herangezogen, meinetwegen in der Höhe des monatlichen GEZ-Beitrages von 17,50 Euro, dann kämen im Jahr schon 357 Millionen Euro zusammen (17,50 x 12 x 1,7 Mio).


    Dafür können die meisten Autokosten wegfallen, die jeden Monat ein großes Loch in unsere Haushaltskassen reißen. Der kluge Guugl sagt: "Ganz grob können Sie für einen Kleinwagen mit 200 Euro Unterhaltskosten pro Monat rechnen, mit einem Wagen der Mittelklasse oft sogar mit doppelt so viel."

    In Hamburg sind derzeit gut 740.000 PKW angemeldet. Wenn nur die Hälfte davon eingespart werden kann, wird dadurch jährlich eine Summe von 1,3 Milliarden Euro gesellschaftlich verfügbar. (300 Euro monatl. Autokosten x 12 x 370.000 PKW).


    In über 100 Städten und Regionen wird kostenloser Nahverkehr praktiziert. Trotzdem kann mensch frech behaupten, das sei nicht machbar/nicht bezahlbar.


    Krankenkassenbeiträge müssen (fast) alle zahlen, ob sie krank sind oder nicht. GEZ-Beiträge müssen (fast) alle zahlen, ob sie TV schauen oder nicht.

    Es ist nur recht und billig, wenn alle Einwohner (die es können), auch zu den Gemeinschaftsaufgaben der Kommune beitragen - und natürlich müssen/sollen auch alle Einwohner gemeinsam darüber entscheiden, was mit ihrem Geld dann geschieht.

    Das wäre ein Weg, über den die Kommunen sich mehr gesellschaftlichen und politischen Einfluss verschaffen können.


    Wal Buchenberg, 14.02. 2018

  • Derlei Themen zeigen, dass es dabei um einen Kampf um den Anteil an der Gesamtsteuer des Staates gehen müsste. Das ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der (Zentral-)Staatsbürokratie. Würden die deutschen Kommunen wie die dänischen einen 65 prozentigen Anteil der Steuererhebungen einsacken können, sähe die Machbarkeit schon anders aus. Was die politischen Maßnahmen zur Einschränkung des individuellen Automobilverkehrs angeht, stimme ich ebenfalls zu.


    Ich denke, die Forderung für einen kostenlosen bzw. ticketfreien ÖPNV ist stark mehrheitsfähig. Ein stimmiger Einwand liegt jedoch in der Unmöglichkeit einer zeitnahen Umsetzung, da die Infrastruktur - vor allem in den Großstädten - eine zu erwartende Verdoppelung des Fahrgastaufkommens nicht stemmen könnte. Jedenfalls nicht ohne massive Serviceeinbußen durch Überlastung. Das wiederum führte in einigen Städten bereits zu einem Aus eines Nulltarif-Nahverkehrs.


    Alledem müsste also ein Umbau der momentanen "autogerechten Stadt" zu einer ökologischen Stadt vorausgehen. Was wiederum Milliarden kosten und unter 10 Jahren nicht zu haben sein dürfte.

  • Ich denke, die Forderung für einen kostenlosen bzw. ticketfreien ÖPNV ist stark mehrheitsfähig. Ein stimmiger Einwand liegt jedoch in der Unmöglichkeit einer zeitnahen Umsetzung, da die Infrastruktur - vor allem in den Großstädten - eine zu erwartende Verdoppelung des Fahrgastaufkommens nicht stemmen könnte. Jedenfalls nicht ohne massive Serviceeinbußen durch Überlastung. Das wiederum führte in einigen Städten bereits zu einem Aus eines Nulltarif-Nahverkehrs.

    Hallo Mario,

    wie kommst du auf eine "zu erwartende Verdoppelung des Fahrgastaufkommens"? ich habe bisher nur von Steigerungen um ein Drittel gelesen. Überhaupt sollten wir sehr vorsichtig mit solchen Zahlenangaben umgehen. Ich glaube, bisherige Untersuchungen zum kostenlosen Nahverkehr sind von der Autoindustrie gesponsert und sind von der Qualität "Affen atmen Dieselabgase ohne sichtbare Schäden".

    Je nachdem, wie viel privater Autoverkehr (freiwillig) wegfällt, wird Platz frei für zusätzlichen öffentlichen Verkehr. Das brauchen ja nicht nur Großbusse sein. Kostenlose Großtaxis (VW-Busse) mit kurzer Takt-Frequenz tun es auch. Einzelne Straßen in der Stadt oder in dörflicher Umgebung kann man freilich auch für den öffentlichen Verkehr reservieren - so wie es jetzt schon für PKW verbotene Busspuren oder auch autofreie Fußgängerzonen gibt.

    Quote

    Alledem müsste also ein Umbau der momentanen "autogerechten Stadt" zu einer ökologischen Stadt vorausgehen. Was wiederum Milliarden kosten und unter 10 Jahren nicht zu haben sein dürfte.

    Ob es überhaupt eine "ökologische" Stadt geben kann, weiß ich nicht. Vielleicht war Köln im Mittelalter eine "ökologische" Stadt, als die Hälfte der Stadtfläche innerhalb der Mauern mit Gärten und Feldern bebaut war.


    Jedenfalls kriegst du von mir keinen Beifall, wenn du vor einem kleinen praktischen Schritt in die richtige Richtung, gleich neue Vorbedingungen aufrichten willst.


    Gruß Wal

  • Es geht dabei nicht um Hochrechnungen, sondern um reale Erfahrungswerte. Es ist auch unerheblich ob ich von dir oder sonstwem Beifall bekomme wenn "Vorbedingungen" genannt werden damit ein öffentlich finanzierter ÖPNV überhaupt die gewünschte Wirkung entfaltet und nicht an seine Grenzen stoßen und verkommen soll. Beispielsweise heißt es auf Kommunal.de zu dem Thema:


    "Jetzt bin ich mal optimistisch und halte an der völlig illusorischen Vorstellung fest, all die oben genannten Probleme würden von der Bahn von heute auf morgen gelöst. Dann strömen also Hunderttausende zusätzliche Berliner morgens um halb sieben ebenfalls auf die (jetzt sauberen) Bahnhöfe in die (tatsächlich pünktlich) fahrenden Bahnen. Dann wären sie erst recht völlig überfüllt, die Kapazitäten reichen nicht aus.


    Also braucht es neue Milliardeninvestitionen in neue Züge, mehr Personal (woher das auch immer kommen mag) und in eine deutlich dichtere Taktung. Das alles in einer Situation, in der (optimalerweise) Bund und Länder die Kosten übernehmen. Sprich: Ob Vandalismus oder kaputte Züge – was solls: Bund und Länder zahlen ja. Und was nichts kostet ist bekanntlich irgendwie auch nichts wert. Erinnern wir uns doch mal ohne Nostalgie an den durchschnittlichen Bahnschaffner der 80er Jahre. Das Ergebnis wird sein: muffelige Schaffner, überfüllte Züge und am Ende genervte Bahnfahrer, die ganz schnell wieder auf ihr Auto umsteigen. Und zwar in noch größerer Zahl als vor der Reform. (...)


    Durch die wegfallenden Einnahmen müssten zunächst rund 12 Milliarden Euro im Jahr kompensiert werden, durchaus noch machbar. Um mehr Fahrgäste für ein funktionierendes Bahnsystem zu gewinnen, müssten vermutlich zusätzlich deutlich höhere Summen aufgewendet werden. Experten sprechen von 20-30 Milliarden Euro. Auch noch eine Frage des Willens. (...)


    Vor allem aber ist die Idee schon so oft gescheitert: Bei mir in Brandenburg etwa. In Templin, einem Luftkurort etwa 50 Kilometer nördlich von Berlin, hatte der Verkehr in den 90er Jahren so stark zugenommen, dass die Stadtväter auf eben diese Idee des beitragsfreien Busverkehrs kamen. In der Stadt war und ist der Busverkehr sogar verhältnismäßig gut ausgebaut, so dass die Menschen tatsächlich umgestiegen sind.


    Innerhalb von zwei Jahren schnellte die Zahl der Passagiere um das Zwölffache in die Höhe. Was jedoch die Betriebskosten in schwindelerregende Höhen trieb. Das Projekt wurde nach vier Jahren abgebrochen, geblieben ist „nur“ eine Jahreskurkarte für aktuell 44 Euro. Die Fahrgastzahlen sind dennoch wieder massiv gesunken.


    Ähnlich die Situation in den USA. Unter anderem gab es erfolglose Projekte in Seattle und Portland. Auch diverse Städte in Belgien und Frankreich haben den Versuch unternommen. Immer mit dem gleichen Ergebnis. Mehr Vandalismus, weniger Qualität, veraltete Systeme wegen fehlender Finanzen und am Ende das Aus der Projekte. Einzig in der estnischen Hauptstadt Tallin läuft zur Zeit noch ein Projekt. Die Finanzierung steht aber auch hier auf wackeligen Füßen, weil nur durch Steuertricks finanziert. Der Autoverkehr in der Innenstadt sank um „nur“ acht Prozent. (...)


    Was ist also zu tun?: Wer dafür sorgen möchte, dass mehr Menschen auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen, muss zunächst einmal eine gute Anbindung bieten. Ein Stundentakt auf dem Land reicht ebenso wenig aus, wie ein 20 Minuten Takt in Ballungsregionen etwa rund um Berlin oder München. Wem das Geld oder der Wille fehlt, in moderne Züge und Busse zu investieren, darf sich ebenfalls nicht wundern, wenn kaum jemand einsteigt. Wer überfüllte Busse hat, wird keinen Diesel-Fahrer zum Umsteigen bewegen. Wer keine beitragsfreien, ausreichend zur Verfügung stehenden „Park and Ride“ Parkplätze an allen wichtigen Knotenpunkten anbietet, hat ebenfalls verloren. Es wären Milliardeninvestitionen nötig, um allein die jetzigen Probleme endlich in den Griff zu bekommen.


    Möge der Bund – statt illusorischer Überlegungen – doch erst mal das Geld in die Hand nehmen und die Kommunen beim Ausbau unterstützen. Ich jedenfalls wäre für ein gutes Angebot in modernen Zügen gerne bereit, meinen finanziellen Anteil zu leisten. Die Kosten für ein Monatsticket sind jedenfalls nicht der Grund, warum sich die Menschen morgen um halb sieben lieber im Auto durch die verstopften Innenstädte quälen!"


    Wobei ich die Aussage "Die Kosten für ein Monatsticket sind jedenfalls nicht der Grund, warum sich die Menschen morgen um halb sieben lieber im Auto durch die verstopften Innenstädte quälen!" in ihrer Absolutheit nicht teile.


    Meine Erfahrung ist jedenfalls, wenn Konzepte nicht in ihrer Wirksamkeit durchdacht sind, lassen sich Leute selten darauf ein. Berechtigterweise, meine ich.

  • Meine Erfahrung ist jedenfalls, wenn Konzepte nicht in ihrer Wirksamkeit durchdacht sind, lassen sich Leute selten darauf ein. Berechtigterweise, meine ich.

    Hallo Mario,

    sind wir denn in der Diskussion um Nahverkehr zum Nulltarif schon so weit, dass wir "durchdachte Konzepte" vorlegen müssen oder vorlegen können?

    Der Hinweis der Bundesregierung auf kostenlosen Nahverkehr wg. Reinhaltung der Luft, war ja nicht mal ein Vorschlag, sondern nur ein Ablenkungsmanöver.

    Trotzdem und glücklicherweise wurde das Thema breit aufgegriffen, aber gleich niedergemacht:
    Viel zu teuer! Und ohne großzügigen Ausbau des Nahverkehrs gar nicht zu machen.


    Auf diesen groben Medienklotz gehört nach meiner Meinung ein ebenso grober Keil.

    Wer in diesem frühen Stadium "durchdachte Konzepte" fordert, hilft der Gegenseite - so kommt es mir jedenfalls vor.

    Durchdachte Konzepte sind nötig, wenn wir eine starke Minderheit oder die Mehrheit für kostenlosen Nahverkehr gewonnen haben, und man daran geht, die Sache praktisch umzusetzen.

    Dann muss jedes Konzept aber auf eine ganz bestimmte Kommune und auf ganz bestimmte Wohn-, Konsum- und Arbeits- und Ausbildungsregionen durchdacht werden.

    Wer dabei alle Be- und Anwohner in diesen Entscheidungsprozess einbezieht, der muss keine Sorge haben, dass irgendwas Wichtiges dabei nicht bedacht wird.


    Gruß Wal

  • Es gibt tausend gute Gründe, nicht nur für Sozialistinnen und Sozialisten, für den kostenlosen ÖPNV.

    Die jetzige Initiative stammt zwar von Vertretern des Monopolkapitalismus, die auch im Sinne der Autokonzerne Fahrverbote unbedingt verhindern wollen. Trotzdem werden dadurch die andersweitig vorgebrachten Argumente nicht aufgehoben.

    Selbstverständlich muss dann, bei erhöhtem Passagieraufkommen im ÖPNV, in Busse etc. investiert werden. Wenn man das will, ist das finanziell aber kein besonderer Kraftakt.

  • Ich habe mich in der letzten Zeit in die Keimformdebatte und ähnliche Überlegungen eingelesen. Eigentlich wollte ich meine Erkenntnisse daraus in einem neuen Thread zur Diskussion stellen, aber Marios Beitrag beinhaltet sämtliche diesbezüglichen bei mir aufgekommenen Fragen. Daher möchte ich diese Debatte zum Anlass nehmen, Euch meine Gedanken mitzuteilen.


    Am Anfang stand bei mir die Frage: Warum kein öffentlicher Nahverkehr, der den Menschen, welche ihn nutzen, nichts kostet?


    1

    Meine aus diesbezüglichen Beiträgen, hier und anderswo, abgeleitete Frage: Bestimmt Sein das Bewusstsein?


    In sämtlichen linken Diskussionen, ebenso wie hier, will Mensch erst ein komplett vollständiges Konstrukt, welches er gedanklich auf Herz und Nieren geprüft und gegengerechnet haben will, von Experten bestätigt sehen möchte und erst dann vielleicht, bewegt er sich in Richtung Zustimmung.


    Doch geht es überhaupt darum? Ist es der Gedanke des kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs, dass er sofort für alle in Form von Luxuswaggons zur Verfügung steht? Sollen sämtliche Städte komplett gesperrt, abgerissen und neu gebaut werden? Und wenn das auf Papier erdachte grüne Luxuswagenbauprojekt erstellt, von Experten abgesegnet und dem Finanzminister genehmigt wurde, erst dann ist Mensch dafür?


    Es ist die alte Leier, die überall erschallt: Wir brauchen eine Utopie! Sonst geht's nicht vorwärts!


    Am lustigsten in den Debatten fand ich dann die Konsequenzen die gezogen wurden. Da gab es dann "sinnlose Bedürfnisse" (kein Wunder, dass derartige Denkansätze keine Anhänger finden, oder besser noch zum Glück!).


    Da wird dann über die Pariser Kommune philosophiert, aber nicht erkannt, dass man gar nicht von der Pariser Kommune redet, sondern lediglich von einem Arondissement.


    Was regelten die Kommunarden von Paris, indem sie dekretierten, dass sämtliche Staatsfunktionen für Arbeiterlohn verrichtet werden sollten? Die Produktionsfrage oder die Verteilungsfrage? Sämtliche Menschen sollen Selbstbestimmt agieren, aber alle sollen nach der vorgeschriebenen, von wenigen "Erleuchteten" erdachten, tausendmal geprüften, von Experten abgesegneten und vom Finanzminister genehmigten Art und Weise produzieren?


    Ein weiterer lustiger Augenblick war für mich der Moment, als ich im Rahmen der Beschreibung der technischen Revolution las, wie jemand meinte, dass z.B. eine "Intelligenz" mir erzählen will, was im Kühlschrank fehlt. Womöglich soll diese "Intelligenz" noch gleich bestellen. Da frage ich mich immer, leben die bei Ihren Eltern? Ich war letztens beim Einkaufen über ein Gewürzgurkengläschen "gestolpert". Ich nahm es mit und es schmeckte vorzüglich. Gewürzgurken hatte ich schon rund 6 Jahre nicht mehr eingekauft.


    2

    Aus der Analyse der ersten Frage ergibt sich sodann die zweite Frage: Ist der Mensch dem Menschen Bruder/Schwester oder Konkurrent gar Feind?

    Und wenn ich weiter Auto fahre/fahren muss, für paar Jahre oder Jahrzehnte, aber viele andere Menschen können kostenlosen öffentlichen Nahverkehr benutzen, dann muss ich es ihnen unbedingt neiden? Für mich scheint es so, als wenn das durch Entfremdung vereinzelte Individuum seine Vereinzelung nicht erkennt. Kein Funken von Solidarität, kein Einsatz für Andere ist hier erkennbar. In den Forenbeiträgen der Tageszeitungen geht es reihenweise nur um das finanzielle. Aber nur allgemein und niemals gönnt man anderen Menschen etwas. Es geht immer nur "ich wohn aufm Land ich will auch, oder wenn ich nicht, dann die auch nicht!". Das kapitalistisch anerzogene Konkurrenz- und Neiddenken wurde den Menschen prächtig eingetrichtert und kommt hier wunderbar zum Ausdruck.


    Und dann nennt Mario Missstände wie dreckige Bahnhöfe, Busse Bahnen, und "Personal (woher das auch immer kommen mag)".

    Warum gibt es die von Mario genannten Missstände? Weil die Menschen die im ÖPNV arbeiten faul sind oder weil sie für Hungerlöhne schuften? Weil die Kapitalisten nicht wollen, dass das Projekt erfolgreich ist und es nicht genügend finanziert ist, also weil die Kapitalistenklasse geizig ist, oder weil alle Menschen die ÖPNV nutzen "Schweine" sind?


    Und Personal? Wie viele Arbeitslose gibt es? 3 oder 4 oder mehr? (Ich weiß, keiner will den Job; nicht, weil der "Sch..." bezahlt wird, sondern weil die alle faul sind!). Übrigens ein Onkel von mir ist Straßenbahnfahrer. Er wohnt über 100km weg in einer anderen Stadt, aber vielleicht kann ich ihn ja irgendwann mal fragen, wie er das sieht. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, wenn sämtliche Bus-, Bahn-, Straßenbahnfahrerinnen und -fahrer (also auch mein Onkel) Managergehälter bekommen würden.


    Wisst ihr eigentlich wie schön das damals war? Wie ich das vermisse? Morgens gemütlich zu Bus/Bahn/Straßenbahn. Schnell noch eine Tageszeitung gekauft und ab aufn Sitz. Falls nicht, dann kann man auch prächtig im Stehen lesen. Gewöhnt man sich dran, aber immer noch besser, als Radfahrer, Autofahrer, die ihr Fahrzeug um die Kurve tragen, Vorfahrtdiebe, träumende Fußgänger, Ampeln, etc. etc. Mit vernünftig ausgebautem ÖPNV lebt es sich viel ruhiger! Ach war das toll, ach wär das toll! *träum

  • Folgend einige lose Gedanken von mir, die eine größere Problematik streifen:


    Uwes , die von dir genannte Mentalitätsproblematik, dass nichts angegangen werden will, was nicht solide analysiert und durchgeplant ist, und viele Menschen ungern von ihrem Lohneinkommen und Vermögen - in Form von Steuern - abgeben, wenn es sich um Nicht-Familienmitglieder handelt und sie selbst nichts davon haben, haut völlig hin.


    Allzu viele sind der Ansicht: Ich will jenen die nichts tun (außer es ist absolut notwendig, weil sie überhaupt nicht mehr in der Lage sind zu arbeiten) von meinem Geld nichts abgeben, wenn sie dann Angebote nutzen können, wozu sie nichts beigetragen haben, oder die ich ohnehin nicht nutze.


    Es müsste also, wenn wir vom jetzigen Zustand einer geldabhängigen Ökonomie ausgehen, wohl darum gehen, das Steuersystem derart umzuwandeln, dass niemand das Gefühl hat er müsse noch für (selbstverschuldete) "Nichtstuer" etwas "abknöpfen".


    Vorschläge zu einer Besteuerung der Reichen halte ich oft für zu einfach und kurz gedacht. Viele von denen können sich auch einfach ins Ausland absetzen und gut ist, wenn es ihnen nicht mehr schmeckt. Da müsste man z.B. schon in die Ideologiekiste des Patriotismus greifen um Beweggründe aufzustellen wieso sie dies nicht tun sollten. Selbiges gilt womöglich ebenfalls für das "Ich will für mir unbekannte Nichtstuer nichts zahlen."-Phänomen


    Zur Veränderungsskepsis: Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts halte ich eine gewisse Skepsis für radikale Umwälzungen, sofern man überhaupt nichts über deren Erfolgsaussicht sagen kann, für nachvollziehbar und angebracht. Es hat sich herausgestellt, und gerade in der heutigen Zeit trifft dies umso mehr zu, dass die menschliche Gesellschaft überaus komplex ist und bei einer Totalrevision des Gegebenen keineswegs das gewünschte Ergebnis herauskommen muss, ja sogar noch mehr Mist bei herauskommen kann. Ich kann das Bedürfnis nach klarer Wahrscheinlichkeitsanalyse und einem schrittweisen Vorgehen, das jeden gemachten Schritt evaluiert, also durchaus nachvollziehen.

  • Hallo Mario,


    Du schreibst


    Quote

    sofern man überhaupt nichts über deren Erfolgsaussicht sagen kann

    und


    Quote

    dass die menschliche Gesellschaft überaus komplex ist und bei einer Totalrevision des Gegebenen keineswegs das gewünschte Ergebnis herauskommen muss, ja sogar noch mehr Mist bei herauskommen kann.

    Gerade das ist meiner Meinung nach des Pudels Kern. Wenn das aber so ist, wozu dann diese Utopien? Wenn die Gesellschaft derart komplex ist und eh stets etwas anderes herauskommt, als geplant/gewünscht/vorgesehen, warum dann überhaupt der Versuch?


    Hat nicht gerade der Kapitalismus in der Art und Weise des Produzierens gezeigt, dass es darauf nicht ankommt? Wie viele Autos hat ein Autobauer während seiner Lebensarbeitszeit hergestellt? Wie viele Backwaren ein Bäcker? Wie viel Erz hat ein Bergarbeiter aus dem Berg geholt? Wie viele Dächer hat ein Dachdecker gedeckt? Wie viele Tonnen Stahl ein Stahlkocher geschmolzen? Haben die alle bei 250 ;-) aufgehört?


    Was "propagieren" die Gewerkschaften heute?


    Quote

    Statt des konservativen Mottos: "Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!", sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: "Nieder mit dem Lohnsystem!"

    http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_101.htm (S. 152)


    Eine stärkere Besteuerung "der Reichen" (wo geht's da los? ) bringt, auch meiner Meinung nach, gar nichts. Möge mir irgend ein/e Mitleser/-in schreiben, wie viele Euro Steuern von Ihrem Konto abgezogen werden. Aber man kann so die Betroffenheit gut propagieren und alle reden: "Meine Steuern!"...ich frage dann immer aha, ja wirklich, warum gehst du dann nicht am Lohntag zur Bank, holst schnell das Geld ab und versteckst es im Wald?


    Bedarfsgüterproduktion unterscheidet sich doch nicht von Warenproduktion. Wenn aber nicht zum Warentausch, sondern zum Lebensmittelgebrauch produziert wird, wo ist dann der systembedingte Anreiz aus Geld mehr Geld zu machen? Muss ich aber dazu jedem Menschen eine Nummer verpassen, damit ich ihm über diese eine Aufgabe zuweisen kann? Alles, was in diesem Kontext geschrieben wird kommt mir immer so vor, als wenn wir sämtliche Häuser zerstören, sämtliche Sachen kaputtmachen und alle Kleider verbrennen sollen (daher die Zusammenbruchstheorie?). Und dann stehen wir nackt vor den Schöpfern der NÖP und harren der Befehle, die da folgen.


    Oft möchte ich in diesen Diskussionen folgendes fragen: Bist Du Kapitalist und willst es bleiben? Lautet die Antwort ja, erübrigt sich jede weitere Konversation. Lautet diese Nein, dann möchte ich weiter fragen: Und? Was schert es Dich, ob ein kapitalistisches System damit Probleme hat? Wie lauten denn die Antworten auf meine Fragen aus meinem vorherigen Beitrag? Sind die Menschen "Schweine" oder nicht? Bist Du für "ordentliche" Löhne der Straßenbahn-, Busfahrer/-innen etc. oder nicht?


    Edit:


    Quote

    Ich kann das Bedürfnis nach klarer Wahrscheinlichkeitsanalyse und einem schrittweisen Vorgehen, das jeden gemachten Schritt evaluiert, also durchaus nachvollziehen.

    Genau das kann ich auch und gebe Dir da auch vollkommen Recht. Ich würde mich aber freuen, wenn es wenigstens irgendwo mit einem Versuch beginnen würde. Diesen "kostenlosen" Nahverkehr (eher wohl kostenlos nutzbaren?) halte ich daher für eine mögliche Option. Wenn man dann aber dabei ist, oder vergangene "Experimente" diesbezüglich untersucht, dann würde ich es besser finden, wenn man die konkreten Ursachen für das Scheitern, die auftretenden/aufgetretenen Probleme untersucht. Daher rührten auch meine Fragen, die nichts vorweg nehmen sollten. Woran hat es denn gelegen, dass das nicht funktionierte? War es wirklich "der Mensch", weswegen dies scheiterte?


    P.S. Mario: Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich mit einem Bekannten über derartige Sachen redete. Da meinte er plötzlich...wie wäre es so mit zusammenlegen hier in der Stadt und mit Wohnraum und gemeinsam...und alles, was er aufzählte klang richtig gut, aber ich selbst fand mich darin nicht wieder. Da antwortete ich ihm...siehst Du, mit geldgeprägter Wirtschaft ist das nicht machbar, da würde ich selbst auch nicht mitmachen, warum auch, ich wär eh außen vor und würd nur "zuzahlen". ;-)

  • Irgendwie scheint mir der Vergleich des Scheiterns des Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts und der Verweis auf die Sinnlosigkeit der Produktion im Kapitalismus als ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen. In der Theorie klingt eine geldlose bzw. nicht-warenproduzierende Ökonomie sehr attraktiv und einleuchtend. Was die Umsetzung anbelangt ist es eine ganz andere Frage. Wir hatten in diesem Forum dazu bereits tiefgehende Debatten, welche die Problemlage deutlich machten. Auf Keimform.de wurde und wird ähnliches diskutiert.


    Es ist eben nicht so einfach wie: "Ach, wir erfassen einfach was wir alle brauchen, dann produzieren wir's und fertig". Dies mag noch für den Bereich der Reproduktion hinhauen, für die Mehrproduktion, die Innovation einer Gesellschaft, haut dies keineswegs hin. Bei alledem kommt dann schnell die Frage auf wie der Bedarf erfasst wird, wer diese Bedarfserfassung verwaltet, wie der "Einkauf" von Ressourcen und Produktionsmitteln aussehen soll, wer unter welchen Bedingungen wie viel Güter und Dienstleistungen abgreifen darf etc. Vor dem Hintergrund der Ökokrise ist die Vorstellung einer quasi-mythischen Überflussgesellschaft, in der es keiner Rationierung mehr bedarf, illusorisch.


    Die bisherigen Planerfahrungen und -modelle lassen jedenfalls viele Lücken offen oder erscheinen, wenn man sie zu Ende denkt, derart unattraktiv, dass die Mehrheit der Leute lieber bei marktwirtschaftlicher Allokation bleiben will, nur eben mit sozialerem Anstrich. Sozusagen als geringeres Übel.


    Ich habe selbst keine überzeugende Lösung und weiß um die eklatanten Probleme von Märkten, dennoch ist mir bisher kein besserer dezentraler und innovationsgewährleistender Allokationsmechanismus bekannt. Entsprechend blieb ich auch an einer Steuerverteilungsfrage hängen. Wie gesagt, meine Überlegungen sind unausgegoren, aber ich halte viel davon den Finger auf die Wunde zu halten und entsprechend kleine Brötchen zu backen anstatt in Machbarkeitsoptimismus zu verfallen. Gerade wenn es kein überzeugendes Konzept gibt.


    Aus der Erkenntnis was sein müsste folgt ja auch keineswegs, dass es machbar ist. Der bloße Glaube daran überzeugt mich inzwischen jedenfalls nicht mehr.

  • Und genau deswegen meine ich, wäre der kostenlos nutzbare Nahverkehr ja eine Möglichkeit zu prüfen und testen und dann zu untersuchen, woran es weshalb liegt/liegen könnte und wie es angenommen wird etc.


    Ich hatte das auch mit Kollegen besprochen und die älteren erinnerten sich noch daran, dass es vor unserer Stadt sogenannte "Park and Ride"-Parkplätze gab. Die wurden nach Privatisierung des ÖPNV in Gewerbegebiete umgewandelt. Dass der ÖPNV privatisiert wurde, lag aber nicht an der Unattraktivität oder dergleichen, sondern eben an Lobbyismus und Parteinähe.


    Warum also nicht einfach mal den Versuch wagen/fordern und dann ganz genau analysieren und dann Stück für Stück nachfordern?


    Es wird selbstverständlich Probleme geben, je nachdem wie der wo für wen ausgebaut wird.


    Ich erinnere mich an ein Dorf. 2 km weg von einem anderen Dorf. Dieses 2 km entfernt von der nächsten Stadt (nicht Stadtmitte). Die einzige Einkaufsmöglichkeit für die im ersten Dorf wohnenden war im anderen Dorf ein Konsum. In erstes Dorf fuhr zweimal am Tag ein Bus. Morgens hin, abends her (oder umgekehrt). Bei derartiger Konstellation ist Auto für alles, was die brauchen immer noch die beste Option.


    Man kann es also niemals sofort überall allen Recht machen. Aber man könnte erste Schritte in eine Richtung gehen, die richtig sein könnte. Das muss dann jeder selbst entscheiden, ob er das für richtig und unterstützenswert hält. Ich halte dies dafür. Und ich möchte nicht nur daran glauben, sondern auch mal machen/machen lassen fordern/fordern lassen und dabei verbal oder dann, wenn hier (hier bei uns/mir in der Stadt) tatkräftig oder finanziell unterstützen.

  • Mario: "Dies mag noch für den Bereich der Reproduktion hinhauen, für die Mehrproduktion, die Innovation einer Gesellschaft, haut dies keineswegs hin."


    Falls es Menschen schaffen, ihre Reproduktion in eigener Regie für ihr eigenes Interesse zu organisieren, wenn sie das tatsächlich geschafft haben, dann müssen sie das Konkurrenzprinzip weit hinter sich gelassen haben, weil das sonst nicht funktioniert. Und wenn das der Fall ist, dann sollte das hinsichtlich der Verwendung des Mehrprodukts nicht hinhauen? Das ist unlogisch.

  • ricardo . Es geht nicht um Konkurrenz, sondern um Innovation, die nur entstehen kann, wenn Einzelne oder Gruppen "ausscheren" können und möglicherweise nützliche Ideen, die als solche nicht sofort nützlich und schon gar nicht notwendig erscheinen müssen, ausprobieren können. Ob dies Konkurrenz bedarf ist ein umstrittenes Thema.


    Wolfram hat hierzu in seinem Kulturkritischen Lexikon bezüglich des Mehrprodukts die Vorstellung einer Sozialistischen Aktiengesellschaft formuliert. Darin schreibt er:


    "Das bisherige Problem des Sozialismus des "Ostblocks" war, dass der Staat als Diktatur bestimmt war, die das gesellschaftliche Vermögen lediglich zu verwalten und die Produktion alleine nach Plan zu entwickeln hatte (Planwirtschaft). Hierdurch war seine wirtschaftliche Entwicklung gelähmt und im Vergleich zur Marktwirtschaft kontraproduktiv verwaltet. Dies war eine schmerzliche Nachgeburt des marxistischen Selbstmissverständnisses von der "Diktatur des Proletariats", das zumindest der "späte Marx" mit seinen ökonomischen Schriften weitgehend überwunden hatte."


    Weiter heißt es bei ihm unter der Frage "Kommunalwirtschaft als bedürfnisbestimmte Arbeit?":


    "Wirklichen Reichtum bildende Arbeit, also eine Arbeit, welche die menschlichen Verhältnisse durch neue Sinnbildungen und dergleichen anreichert, ist nicht unbedingt notwendig, oft nicht mal nützlich. Sie stellt eine Mehrarbeit dar, die entweder einzelne Individuen einbringen oder die auch von einer Gruppe gewollt sein kann. Wo eine Gruppe – z.B. eine Genossenschaft – diesen Willen teilt, muss das organisiert werden. Das gibt es heute z.B. schon durch das so genannte Crowdfunding, das noch auf Geld beruht. In einer Ergänzungswirtschaft könnte das auch vertragsmäßig mit Arbeitsversprechungen von einzelnen, von Kommunen oder Regionen machbar sein. So war mein Gedanke von einer „Sozialistischen Aktiengesellschaft“ entstanden. Schließlich soll es auch weiterhin große Projekte geben, die nicht individuell bewältigt werden können und doch nicht unbedingt notwendig – eben wirkliche Bereicherung sind."

  • Mario: Wolfram macht hier konkrete Vorschläge. Mir geht es erst mal um das Prinzipielle . Warum soll "Ach, wir erfassen einfach was wir alle brauchen, dann produzieren wir's und fertig", denn nicht möglich sein? Könntest du das mal ohne Konkurrenz erklären?

  • Mario: Wolfram macht hier konkrete Vorschläge. Mir geht es erst mal um das Prinzipielle . Warum soll "Ach, wir erfassen einfach was wir alle brauchen, dann produzieren wir's und fertig", denn nicht möglich sein? Könntest du das mal ohne Konkurrenz erklären?

    Ich meinte ja, im Bereich der Reproduktion, der öffentlichen Daseinsvorsorge, wozu ich jetzt mal grundlegende Lebensmittel einbeziehe, geht das auf. Allerdings besteht dann die Frage wer die Verwaltung stellt die all diese Bedürfnisse erfasst. Da entsteht eine Problematik bezüglich der Verfügungsgewalt, wie ja bereits zu Wals Entwurf der Kommune Bochum diskutiert.


    Davon abgesehen ging es mir um die Mehrproduktion. Ich kann mich hier eigentlich nur wiederholen: Innovation und Neuentwicklung kann nicht durch bloßes Befragen was die Leute wollen entstehen. Sie entsteht wenn Leute neues ausprobieren und produzieren können wofür es noch gar keine Nachfrage gibt.


    Das was sie produzieren bezieht sich zwar meist auf eine Frage der Bedürfnisbefriedigung, das Ergebnis, ob dieses gewollt ist oder befriedigend ausfällt, lässt sich aber nur durch einen Trial and Error-Prozess herausbilden. Und manche dieser Entwicklungen mögen nützlich sein, allerdings nicht unbedingt notwendig. Dennoch, oder gerade dadurch, stellen sie aber eine Bereicherung dar. So verstehe ich auch Wolframs Verweis auf das Scheitern des ehemaligen Staatssozialismus, der genau dieses kreative Schaffen nicht ermöglichte und somit, neben anderen Problemen, an seiner Innovationslosigkeit scheiterte.


    Innovation entsteht vielfach aus einem kreativen Wettbewerb der Ideen oder dem Feilen an einer bestehenden Idee. Das Ergebnis lässt sich nicht vorausplanen. Dieser Wettbewerb muss allerdings nicht die Form der Verdrängungs- und Vernichtungs-Konkurrenz annehmen. Es ließe sich auch ein kooperativer Wettbewerb denken. Im Ergebnis werden dann aber Ideen und Produkte die sich als Fehlschlag, als unsinnig herausgestellt haben, storniert werden müssen.


    Sofern die Auswahl darüber den Nutzern dieser Innovation überlassen werden sollte, und hier kein zentrales Gremium innerhalb dieses Herausbildungsprozesses bestimmen kann was als sinnig gilt, sehe ich halt bisher nur die einzige Möglichkeit einer dezentralen Lösung in sozialisierten Märkten. Dies hieße, dass es eine unterstützende Vermittlung in Form von durch Wirtschaftsräten einen Rahmen des kooperativen Ausgleich schaffen.


    Für weitere Informationen siehe die von Norbert Bertholt verfasste Abhandlung Das Ende des Mythos Markt - Möglichkeiten eines kooperativen Wettbewerbs. Dort vor allem ab Seite 12 der Absatz "Rahmenbedingungen eines kooperativen Wettbewerbs" bis zum Schluss der PDF.


    Das sprengt aber hier das Thema zum kostenlosen ÖPNV.

  • Also nochmal. Wenn die einfache Reproduktion, wo es also um die notwendigen Güter geht, im Kommunismus klappt, dann ist vorausgesetzt, dass das Bewusstsein der Menschen hinsichtlich der Organisation ihrer Lebensbedingungen soweit fortgeschritten ist, dass es keine Konkurrenz hinsichtlich der Bedürfnisbefriedigung mehr zwischen ihnen gibt, sondern nur die gemeinsame Zielsetzung, für alle ein gutes Leben zu ermöglichen, der Zweck ist. Und warum, und das ist meine Frage, warum soll das auf einmal beim Mehrprodukt, also wo es um Überfluss geht, auf einmal nicht mehr klappen?

  • Quote


    ... die gemeinsame Zielsetzung, für alle ein gutes Leben zu ermöglichen, der Zweck ist. Und warum, und das ist meine Frage, warum soll das auf einmal beim Mehrprodukt, also wo es um Überfluss geht, auf einmal nicht mehr klappen?


    Hallo Ricardo,

    ich stelle mir (und Mario) dieselbe Frage.

    Bei gemeinschaftlichem Besitz und gemeinschaftlicher Kontrolle aller Produktionsmittel/aller Ressourcen gibt es - so hoffen wir alle - auch Mittel/Ressourcen zu verteilen, die über den unmittelbaren Bedarf hinausgehen - also das, was Marx "Überfluss" genannt hatte. Gleichzeitig haben alle Gesellschafts- bzw. Kommunemitglieder soviel freie Zeit wie nur möglich zur Verfügung.

    Jeder kann also nach Lust und Laune künstlern, erfinden und innovieren.

    Sobald er/sie jedoch zusätzliche Mittel benötigt, die über seine individuellen Ressourcen hinausgehen, um zum Beispiel ein größeres Projekt zu verwirklichen, muss er freilich die Gemeinschaft von dem (künftigen) Nutzen überzeugen. Die teilt ihm dann diese Mittel zu.


    Auch heute werden nirgends Projekte verwirklicht und ein neues Produkt/eine neue Technologie entwickelt, ohne dass der Erfinder/Innovator Kapitalisten (oder Crowd-Fundierer) von der (künftigen) Profitabilität überzeugen kann.

    Statt Kapitalisten von der künftigen Profitabilität zu überzeugen, muss der künftige Erfinder/Innovater die Gemeinschaft oder Kommune vom künftigen Gebrauchswert der Sache überzeugen. Ohne das werden keine Mittel bewilligt. Soweit so einfach.

    Wer sich davor fürchtet, hält wohl alle andere Menschen (oder die Mehrheit) für so blöd, dass sie sein/ihr Genie nicht erkennen können.

    Oder noch schlimmer: So jemand möchte sich einen Teil des gesellschaftlichen Mehrprodukts aneignen, der dann nicht mehr unter gesellschaftlicher Kontrolle steht.

    Das nennt man heute Ausbeutung, später wird man das asozial nennen.


    Gruß Wal

  • Also nochmal. Wenn die einfache Reproduktion, wo es also um die notwendigen Güter geht, im Kommunismus klappt, dann ist vorausgesetzt, dass das Bewusstsein der Menschen hinsichtlich der Organisation ihrer Lebensbedingungen soweit fortgeschritten ist, dass es keine Konkurrenz hinsichtlich der Bedürfnisbefriedigung mehr zwischen ihnen gibt, sondern nur die gemeinsame Zielsetzung, für alle ein gutes Leben zu ermöglichen, der Zweck ist. Und warum, und das ist meine Frage, warum soll das auf einmal beim Mehrprodukt, also wo es um Überfluss geht, auf einmal nicht mehr klappen?

    Pardon, aber ich raff's nicht. Ich habe versucht darzulegen was der Punkt bezüglich des Mehrprodukts ist. Bei deiner Frage ist unklar was du unter Überfluss verstehst. Wenn du damit einen Art quasi-mythischen Zustand meinst in welchem so viel vorhanden ist, dass nicht mehr gerechnet werden muss und es keiner rationierten Zuteilung mehr bedarf, halte ich das, allein aus ökologischen Gründen, für ausgeschlossen.


    Wal hat ja bereits darauf hingewiesen wie Marx den Begriff des Überflusses verstanden haben wollte. Die restlichen Punkte habe ich wiederholt genannt. Entweder verstehe ich also nicht worauf du hinaus willst, dann müsstest du genauer werden, oder dir ist mein Standpunkt nicht nachvollziehbar. Ich kann gerade nicht sagen was zutrifft.


    Obendrein kann ich Wal nur zustimmen was die Zuteilung von Mitteln für ein Mehrprodukt-Projekt im Sozialismus anbelangt. Selbige Perspektive formulieren ja auch die von Wolfram skizzierten Ausführungen zur Gesellschaft als eine Art "sozialistische Aktiengesellschaft", die eben wie eine "umgekehrte Aktiengesellschaft", ähnlich dem heutigen Crowdfunding, funktionieren könnte.


    Die Debatte besteht wohl darin ob es zur Allokation - zumindest im Bereich der Konsumgüter - eines "sozialisierten Marktes" (Diane Elson) bedarf oder auf diesen verzichtet werden könne. Sofern es jedoch voraussichtlich weiterhin Rationierung geben wird und individuelle Wahlfreiheit geben sollte (ohne Erfassung der Individualbedürfnisse durch eine Zentrale), sehe ich bisher keine bessere Alternative als eben jenen kooperativen Wettbewerb auf einem sozialisierten Markt, wie er in der in meinem vorherigen Beitrag verlinkten Schrift von Norbert Bertholt formuliert wird.

  • Mario Ahner


    Wenn du es nicht raffst, dann mal Schritt für Schritt: Mehrprodukt ist ist nach Marx definiert als Überschuss (oder Überfluss) über das für die Reproduktion notwendige Produkt. Das kann groß oder klein bzw. unterschiedlich ausfallen. Im Zusammenhang mit der Innovation ist das Mehrprodukt eine Voraussetzung für Innovationen, weil erst durch die hierdurch geschaffene freie Zeit und Produkte, die wissenschaftliche Forschung möglich wird. Das alles hat mit Mythos oder Idealismen nichts zu tun. Mehrproduktion ist (unter kommunistischen Bedingungen) also die auf Grundlage der gemeinschaflichen Entscheidung stattfindende Produktion, mehr zu produzieren, als für Reproduktion notwendig ist, zu dem Zweck, die Lebensbedingungen der Gemeinschaft zu verbessern.


    Ich bitte dich deshalb vorerst, konkret zu antworten:, ob du der Definition von MP im letzten Satz zustimmst oder, falls nicht, deine Sichtweise darzulegen, was du unter MP verstehst.

  • Mario Ahner


    Ok. Dann wäre nun weiter festzuhalten, dass die Reproduktion im Kommunismus nur dann funktionieren kann, wenn es keine Konkurrenz mehr gibt, also nicht nur zwischen kollektiven Produzenten, sondern auch zwischen den Individuen. Siehst du das auch so?

  • Und das ist dann das Problem.


    Konkurrenz ist im Kommunismus nicht nötig, sonst ist es kein Kommunismus.


    Das führte dann in "DDR" u.a. zu Denkblüten wie "sozialistischer Wettbewerb", "Neuererbewegung", etc. Und wenn man dann DDR und derartige Gesellschaften nicht als auf Lohn basierende erkennt, also nicht erkennt, dass sie eine auf Kapital (variables Kapital) basierende Ökonomie hatten und wenn man dann glaubt, dass Innovationen (im äußeren Schein) nur von "Unternehmern" (heutzutage verballhornt als "Menschen, die etwas unternehmen") erfolgt, dass Erfindungen nur von entweder diesen oder von extra dafür Lohn erhaltenden Individuen erdacht und hervorgebracht werden, dann kann man auch nur jene schiefe Ansicht haben, dass Innovation zukünftig gar nicht mehr oder nur unter verschiedenen heutigen Individualvorstellungen (Crowdfunding, z.B.) stattfinden wird.


    Warum stellt man sich aber nicht die Frage, was Menschen, die in Form des Arbeitslohnes an der Konsumtion teilnehmen, dazu treiben sollte, ihre eigenen Ausbeutungsbedingungen zu vereinfachen? Ich denke, da handeln die Lohnarbeiter instinktiv richtiger. Denn je mehr technischer Fortschritt, desto einfacher die Tätigkeiten, desto mehr unbezahlte Arbeit abgepresst wird, desto geringer der Lohn, desto weniger Lebensmittel für den Teil der Gesellschaft, die mit Arbeitslohn an der Konsumtion beteiligt sind.


    Im Kommunismus gibt es aber gar keinen Teil der Gesellschaft, der mit Arbeitslohn an der Konsumtion beteiligt ist. Es gibt keinen, jeweils verschiedenen, Kapitalteil mehr. Also gibt es auch keine "Unternehmer" mehr. Aber alle Menschen sind gleichberechtigt (jeder nach seinen Bedürfnissen) an der Konsumtion beteiligt, weil sie gleich verpflichtend, auf freiwilliger Hergabe eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten basierend (jede/r nach seinen/ihren Fähigkeiten), an der Produktion beteiligt waren.


    Warum aber sollten dann die Menschen nicht freiwillig ihre eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern wollen und können? Sie selbst sind an der Produktion beteiligt, jede/r einzelne. Dass Innovation und Erfindungsreichtum dann nicht mehr stattfinden soll, obwohl millionenfach mehr Köpfe, Hände, Herzen (ja Herzen, weil befreit vom Arbeitslohn und daher gleichberechtigt mit Allen Teilhabe an der Konsumtion nehmen könnend) produzieren, ist Ausdruck herrschender Gedanken. In der Klassengesellschaft die Gedanken der Herrschenden. Für die ist jeder Mensch faul, dumm, gierig, egoistisch; die tumbe Masse halt (gab da mal so einen Spanier, der schrieb "Der Aufstand der Massen").


    Mario Ahner


    Quote

    Das Anhäufen von Reichtum durch Kapitaleinsatz oder durch überzogene

    Lohnansprüche ist nicht möglich

    http://www.akademie-solidarisc…s/2017/11/mythosmarkt.pdf (S. 73)


    Ernsthaft? Da war bei mir Schluss. Ich habe zwar das ganze Pamphlet durchgelesen und komme daher zu dem Schluss, dass der Herr ein Apologet des Kapitalismus ist, der lediglich bischen "tittytainment" unter die dafür zu dumme Masse bringen will, aber eine Diskussion würde Aufmerksamkeit geben, die null Aufmerksamkeit verdient. Seine Ansätze sind Unsinn und daher auch seine weiteren Überlegungen (siehe oben, Lohnarbeiter oder eben nicht).

    Es geht z. Bsp. Weiter "die Kunden, die Vertreter der Öffentlichkeit und die der Kapitalgeber beteiligt...". Das bedeutet: Arbeitslohn und Mehrwert sind an der Konsumtion beteiligt, die CDU regiert und die Kapitalisten entscheiden über die finanzielle Möglichkeit. Das ist BRD und nichts anderes. Und wieso soll da der Markt nicht dabei sein? Wo treffen sich denn die "Kunden"? etc. So geht das weiter und ist lediglich der Glaube, dass man das bessere Kapitalismusrezept hat. Ernsthaft?


    Derartige Konzepte kommen immer dann heraus, wenn man die zusammengehörenden Komponenten einer gesellschaftlichen Entwicklung nicht im Zusammenhang, in der Entwicklung, betrachtet, sondern einzeln und dabei dann in diesem einzelnen Aspekt stehen bleibt und versucht diesen dann zu ändern. Dass Produktion, Distribution und Konsumtion zusammen die ökonomische Grundform einer Gesellschaft darstellen, kommt bei den meisten nicht vor. Sie versuchen stets nur eine Seite darzustellen, auch weil sie vielfach nur eine Seite kennen. So denkt der Informatiker in Schemata, weil Schemata die Grundbausteine der Informatik sind. Sein bestimmt halt immer das Bewusstsein, auch wenn dies dem Einzelnen nicht bewusst ist. So ist es dann auch schwer zu erkennen, dass die Neuorganisation durch Aneignung der Produktionsmittel ebenfalls ein Verteilungsproblem darstellt, denn auch Produktionsmittel werden produziert, verteilt und konsumiert.


    Die Lösung des gesamten Dilemmas, zusammengepackt in einem einzigen Satz, habe ich Dir schon vor Tagen geschrieben:

    Quote

    Statt des konservativen Mottos: "Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!", sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: "Nieder mit dem Lohnsystem!"

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