Der Putsch gegen Erdogan vom 15. Juli und Erdogans Verhaftungs- und Terrorwelle gegen die zivile Gesellschaft folgen einem historisch bekanntem Muster.
Der Militärputsch in der Türkei 2016 war ebenso mysteriös, ebenso anonym und ebenso politisch nebulös wie der Reichstagsbrand in Berlin 1933. Als Reaktion auf den Reichstagsbrand konnten Hitler und die Nationalsozialisten über eine „Notverordnung“ eine brutale Verhaftungs- und Folterwelle gegen ihre politischen Gegner (Kommunisten und Sozialdemokraten) beginnen und damit ihre Macht festigen und ausbauen. Ihr Staatsterror mündete 1934 in das Ermächtigungsgesetz, das dauerhaft die Gewaltentrennung abschaffte und Hitler auch juristisch alle Macht übertrug.
Diesem Muster des Machtausbaus folgt Erdogan. Auf den gescheiterten Militärputsch in Ankara folgt eine breite und offenbar lange vorbereitete Verhaftungs- und Unterdrückungswelle gegen alle politischen Gegner Erdogans, der sich auf eine „Notverordnung“ beruft. Und jeder rechnet damit, dass Erdogan sein „Ermächtigungsgesetz“ vorbereitet, das ihm als Präsident weitgehend unbeschränkte Macht verleiht.
Ich will damit keine Verschwörungstheorie anrühren und Erdogan unterstellen, dass er selbst den Putsch gegen seine Regierung inszeniert hat. Zwar steht fest, dass der gescheiterte Putsch allein Erdogan genutzt hat, aber das banale „cui bono“ (wer hat den Nutzen?) hilft zur Erklärung politischer Ereignisse keinen Flohsprung weiter. In jedem Konflikt und in jeder Gegnerschaft hilft und nützt eine gescheiterte Aktion einer Seite notweniger Weise ihrem Gegner und macht den Gegner stärker, ohne dass man plausibel schlussfolgern kann, dass er als Nutznießer der gescheiterten Aktion auch ihr Urheber sei. Das "cui bono" ist politische Propaganda und Diffamierung, nicht mehr.
Erdogan ist heute der Bösewicht aller europäischen Presseorgane und Politiker. Bis vor kurzem hatte noch Putin die Rolle des Bösen, der die Diktatur anstrebe. Daneben wurde der ungarische Präsident Viktor Orban als Möchtegerndiktator gegeißelt, davor hieß es, der polnische Regierungschef Kaczynski sei auf dem Weg in eine nationalkonservative Diktatur.
Das Starren auf einzelne Bösewichter ist wie das Starren auf einzelne Bäume. Es verstellt den Blick auf den dahinterstehenden Wald, bzw. auf den dahinter wirkenden politischen Trend.
Es ist tatsächlich so, dass in vielen Staaten der Welt ein Trend zu diktatorischen Methoden und autoritären „Lösungen“ existiert. Diesen diktatorischen Trend gibt es bei linken Regierungen in Südamerika wie bei rechten Regierungen in Asien und Afrika, und diesen diktatorischen Trend gibt es auch in Europa und in den USA, wo immer mehr Politiker mit autoritären bis despotischen Mitteln liebäugeln.
Der autoritäre Trend der Gegenwart hat Gemeinsamkeiten mit den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, als im Gefolge der Weltwirtschaftskrise in vielen Ländern autoritäre bis faschistische Regierungen an die Macht kamen.
Ich denke, die globale Wirtschaftskrise seit 2008 wirkt als die treibende Kraft hinter dem weltweiten Machtzuwachs rechter und autoritärer Politiker.
Die korporative Konsensdemokratie funktioniert nur dort und nur soweit, als der bürgerliche Staat genügend Knete sowohl an Kapitalisten wie an einzelne soziale Gruppen verteilen kann. Durch Bestechung erkauft sich der bürgerliche Staat politische Zustimmung oder mindestens politische Gleichgültigkeit. Sobald das Wirtschaftswachstum und die Profitproduktion stockt, kann die (Um)Verteilung nicht mehr über Konsens geregelt werden. Wo das Geld knapp wird, tritt rücksichtsloser Kampf an die Stelle von friedlichem Konsens. Die Unzufriedenen und die Staatskritiker vermehren sich wie die Kaninchen - und meist kommen sie aus dem rechten Lager.
Frau Clinton vertritt noch die Konsensdemokratie. Trump vertritt die Unzufriedenen und die Staatskritiker. Dass so eine Person wie Trump in den USA bis kurz vor den Präsidentenstuhl gelangen kann, ist genug Beweis, dass die kapitalistische Welt tief in der Krise steckt. Wer Einzelne dämonisiert - einen Erdogan, einen Putin oder einen Trump, der vernebelt und vertuscht die Tatsache, dass wir alle - auch unsere Politiker - dem Kapital unterworfen sind und unser aller Wohl mehr oder minder vom Wohl und Wehe des Kapitals abhängt. Demokratie und Diktatur sind kapitalistische Geschwister. Das politische Auf und Ab folgt fast gesetzmäßig dem wirtschaftlichen Auf und Ab.
Wal Buchenberg, 6. November 2016
P.S.
Schon mehrmals wurde in diesem Forum darauf hingewiesen, dass auch die Staatslinke in Europa auf „Konsensdemokratie“ und auf „Verteilungsgerechtigkeit“ programmiert ist. Sobald weniger zu verteilen da ist, schwimmen auch dieser Linken zunehmend die Felle davon.
Siehe dazu:
Die Krise der (Staats)Linken ist unheilbar