Falscher Emanzipationsansatz der stets in Vermarktwirtschaftlichung endet?

  • Vor kurzem bin ich in der Sexismuskritk-Broschüre "Fickt das System!?" der Gruppe "Kritik im Handgemenge" auf eine interessante These gestoßen. Dort heißt es auf Seite 37:




    Immer verhält sich die individuelle Psyche zu vorgefundenen
    gesellschaftlichen Zwängen. Diese werden immer wieder durch das
    Verhalten der Menschen aufrecht erhalten und diese passen sich den
    Zwängen an, die sie selbst (mit)produzieren; was auch bedeutet: sie
    können von Menschen abgeschafft werden. Dafür muss ihr Funktionieren
    allerdings verstanden und die gesellschaftlichen Bedingungen geändert
    werden.




    Genau hier muss eine vernünftige Kritik der 68’er ansetzen. Die Mehrheit
    ihrer Protagonist_innen hatten schlicht keinen richtigen Begriff von
    den gesellschaftlichen Bedingungen der bürgerlichen Herrschaft. Für sie
    war Macht etwas, das den Individuen äußerlich gegenüber tritt (der
    Staat, der Imperialismus, die Kapitalisten, ...) und Normen waren etwas,
    das in den Individuen als etwas Fremdes wirkt (freie, natürliche
    Sexualität/Subjekte vs. spießige, kontrollierte Sexualität/Subjekte).




    Gegen den biederen realexistierenden Ostblock und gegen die religiös
    gefärbte anachronistische Sittlichkeit der Nachkriegszeit wurde von der
    „antiautoritären“ Fraktion das Subjektive abgefeiert. Diesem platten
    Dualismus ist entgegenzuhalten, dass die Menschen sich der Macht des
    Staates oder den sozialen Normen nicht einfach unterwerfen, sondern dass
    sie diese selber wollen müssen. Die Lohnabhängigen brauchen (solange
    sie Lohnabhängige sind) einen funktionierenden Staat


    und erfolgreiche Kapitalisten. Sie brauchen einen sportlichen Körper,
    ein befriedigendes Sexualleben, eine glückliche Familie, ein ehrgeiziges
    Ich, ein erholsames Wochenende... Die Menschen müssen in der
    bürgerlichen Gesellschaft zuallererst eins wollen: den Erfolg in der
    Konkurrenz. Das ist ihr Projekt. Innerhalb dieser gesellschaftlichen
    Verhältnisse von der subversiven Kraft von Selbstentfaltung,
    Selbstbefreiung und Autonomie zu sprechen, ist abwegig. Die
    Individualität lässt sich nicht widerspruchsfrei gegen eine Gesellschaft
    hochhalten, deren Produkt sie selber ist.




    Wenn gesellschaftliche Normen fallen, die vorher das Sexual- und
    Familienleben reglementierten und vor der Konkurrenz schützten, dann ist
    es nur eine logische Konsequenz, dass diese als neue Ressource in der
    Konkurrenz behandelt werden. Subjektivität unter dem objektiven Zwang
    der gesellschaftlichen Verhältnisse funktioniert eben marktförmig – und
    sie funktioniert um so marktförmiger, um so weniger moralische,
    religiöse oder traditionelle Beschränkungen es gibt. Den 68ern ist diese
    Ausweitung der Kampfzonen nicht anzulasten, wohl aber, dass sie von der
    Existenz der Subjekte in der Konkurrenz und vom Wirken der Konkurrenz
    in den Subjekten falsche Vorstellungen hatten. Dementsprechend naiv
    gingen sie damals zu Werke und dementsprechend frustriert bzw. zynisch
    sind sie heute oft unterwegs.




    --




    Befreiung erscheint aus dieser Perspektive nahezu ein Ding der
    Unmöglichkeit, jedenfalls aus der Immanz. Es ähnelt m.E. stark der These
    vom "Verblendungszusammenhang", welcher durch immanente Kämpfe nicht in
    die Transzendierung des Kapitalimus führen könne. Ebenso würden die
    Verfechter der Thesen dem Bochumer Programm wohl deshalb einen falschen
    Optimismus vorwerfen. Mitbestimmung und Demokratisierung wären aus dieser Perspektive nicht unbedingt positiv zu verstehen, sondern können vom Kapital durchaus als Herrschafts- und Integrationsprojekt aufgegriffen werden, woran letztlich die 68er-Bewegung scheiterte.


    Was meint ihr?

  • Hallo Mario,
    das Thema ist zwar weitläufig, aber ich habe bei diesem Thema ("wie verhält sich die individuelle Psyche zu vorgefundenen
    gesellschaftlichen Zwängen")
    weder etwas von Karl Marx, noch eine Kapitalkritik gefunden.


    Ich hoffe, du bist mit der Verschiebung einverstanden! :huh:


    Gruß Wal

  • Die Menschen müssen in der
    bürgerlichen Gesellschaft zuallererst eins wollen: den Erfolg in der
    Konkurrenz.



    Hallo Mario,
    Von der zitierten These halte ich nichts. Die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander und auch die Konkurrenz der Kapitalisten gegenüber den Lohnarbeitern hat völlig andere Voraussetzungen, völlig andere Bedingungen und völlig andere Konsequenzen als die Konkurrenz der Lohnarbeiter untereinander.
    In der hier zitierten These lässt man diese fundamentalen Unterschiede alle in dem Begriff "Warenbesitzer" verschwinden und der Begriff "Warenbesitzer" wird identisch mit dem Begriff "Mensch".
    Die zitierte These geht davon aus, dass Kapitalist und Lohnarbeiter im Grunde ganz gleich sind, nämlich "Warenbesitzer" und dass sie deshalb auch Gleiches wollen müssen.
    Das sehe ich anders und das sah Marx anders.
    Vereinfacht gesprochen konkurriert ein Lohnarbeiter mit den anderen Lohnarbeitern, indem er sich selbst schadet: Indem er seine Arbeitskraft billiger verkauft als andere Lohnarbeiter, indem er seine Arbeitskraft schneller vernutzt als andere Lohnarbeiter, indem er weniger Rücksicht auf seine Gesundheit nimmt als andere Lohnarbeiter. Die Lohnarbeiter ruinieren sich selbst, auch wenn sie in der Konkurrenz mit anderen Lohnarbeitern "erfolgreich" sind.
    Ein Kapitalist konkurriert mit anderen Kapalisten, indem er anderen schadet: Er konkurriert mit anderen Kapitalisten darum, wer seine Lohnarbeiter schlechter bezahlt, kräftiger ausbeutet und schneller ruiniert. Ein Kapitalist konkurriert mit anderen Kapitalisten darum, wer sein konstantes Kapital ökonomischer nutzt, wer seine Rohstoffe billiger einkauft , wer seine Waren teurer verkauft usw. usf. Ein Kapitalist wird reich und mächtig, wenn er in der Konkurrenz erfolgreich ist.
    Wer die Konkurrenz der Lohnarbeiter untereinander mit der Konkurrenz der Kapitalisten untereinander in einen Topf wirft, der hat von der kapitalistischen Ökonomie nicht das Mindeste verstanden,
    meint Wal :thumbdown:




    Gruß Wal

  • Ich habe die These der Autorinnen und Autoren eher psychologisch als ökonomisch interpretiert, da sie sich in ihrer Broschüre vordergründig mit dem Sexual- und Liebesleben der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigen.


    Ihre Hauptthese lautet von daher also derart: Da die Menschen in den postmodernen Dienstleistungsgesellschaften des Westens immer mehr daran interessiert sind Selbstdarstellungen und -inszenierungen zu fröhnen, ja diese durch die Kultur- und Bewusstseins-Industrie der Medien immer stärker forciert wird, werden Liebesleben und Selbstentwicklung immer stärker von einer Art Konkurrenz der Selbstwertgefühle "aufgesogen", weshalb das Hochhalten des Authentischen gegenüber der Inszenierung immer weniger möglich wird, da ja selbst das Kapital jeden dazu auffordert sich selbst zu verwirklichen, seine Potenziale auszuschöpfen, sich zu beteiligen, ein Unikat zu sein und Kreativität an den Tag zu legen.


    Die ehemals subversiven Forderungen der 68er-Bewegung wurden von der bürgerlichen Gesellschaft aufgesogen und als Ware in das System integriert. Dies hat eine Auswirkung auf subversive Vorhaben, da "Freie Liebe" in Form offener Beziehungen, ein nonkonformer Kleidungsstil, die Betonung des Kreativen gegenüber der Bürokratie usw. (was ja durchaus Themen der Kulturrevolte von '68 waren) kein systemsprengendes Potenzial mehr in sich tragen.


    Ebenso sind Basisdemokratie und Dezentralisierung per se nicht unbedingt positiv anzusehen, da es innerhalb der herrschenden Klasse durchaus Fraktionen gibt, welche sich damit beschäftigen vermehrte Bürgerbeteiligung zu nutzen um ihrer Herrschaft eine neue Zustimmungsgrundlage zu geben, insofern beispielsweise ein Bürgerhaushalt trotz Partizipation der Stadtbewohner_innen ebenso Krisenverwaltung bleibt wie ein unvermittelt von oben verordnetes Sparprogramm. Die Mitbestimmung der "Basis" würde einer solchen Krisenverwaltung aber viel mehr Legitimation geben, da ja alles "demokratisch" beschlossen sei. Aus diesem Sinne wird ebenfalls indirekt vor der Mitbestimmungsfalle gewarnt.


    Eine Wiederholung der 68er-Bewegung erscheint aus dieser Perspektive aufgrund der Sogkraft der Vermarktwirtschaftlichung immanent subversiver Ansätze für unvermeidlich, weshalb einzig die Weigerung und der Bruch mit der Warenproduktion eine Lösung bieten, ein Mehr an Mitbestimmung würde einzig zu einer Integration in die "Mehrheitsgesellschaft" und deren Anerkennung führen und diese - bewusst oder unbewusst - zum Ziel haben.


    Von einer Überwindung könne aber nur die Rede sein, wenn jeglicher Wunsch nach Mitbestimmung, Verhandlung und Anerkennung seitens des Kapitals und der Mehrheitsgesellschaft überwunden würde und die Perspektive auf ein radikales Nein inkl. Überwindung der Warenproduktion zugespitzt wäre.


    Die Debatte ist insofern nicht neu, aber die Frage nach möglicher Integration basisdemokratischer Initiativen und Ansätzen der Kommunalisierung in das System ist m.M.n. eine durchaus berechtigte. "Beherrschung durch Teilhabe" war beispielsweise ein wesentliches Element bei der Stuttgart21-Geschichte.


    Interessanter Artikel zum Thema: http://www.linksnet.de/de/artikel/28418

  • Die ehemals subversiven Forderungen der 68er-Bewegung wurden von der bürgerlichen Gesellschaft aufgesogen und als Ware in das System integriert. Dies hat eine Auswirkung auf subversive Vorhaben, da "Freie Liebe" in Form offener Beziehungen, ein nonkonformer Kleidungsstil, die Betonung des Kreativen gegenüber der Bürokratie usw. (was ja durchaus Themen der Kulturrevolte von '68 waren) kein systemsprengendes Potenzial mehr in sich tragen.



    Hallo Mario,
    ich meine, wer die 68er Bewegung für gescheitert erklärt, der hat ein sehr kurzes Gedächtnis und weiß nicht, wie grau, wie eng und autoriär das Nachkriegsdeutschland war. Gescheitert sind jedenfalls die ML-Bewegungen, zu denen ich auch gehörte. Vergleiche dazu meine Avantgarde-Kritik und die Dissertation über den Kommunistischen Bund.


    Ansonsten hat sich viel geändert in Deutschland, und nur wer meint, dass "freie Liebe" und bunte Kleider etwas mit "Systemsprengung" zu tun hatten, der kann sich ein "Scheitern der 68er" zurechtjammern,


    meint Wal

  • Hallo Mario,
    die Diskussion ist ja schon was fortgeschritten, mein Schlichtheit lässt es leider nicht zu das ich überhaupt verstehe was ausgesagt werden soll. Dazu habe ich ein paar Fragen um weiter zukommen.
    Welche Psyche gibt es denn noch, außer der Individuellen und wie grenzt sie sich von der noch zu benennenden ab? Was sind die gesellschaftlichen Zwänge die sich die Gesellschaft gibt? Gibt es für die verschiedenen Klassen unterschiedliche Zwänge oder sind sie gleich, weil sie von "Menschen" aufrecht erhalten werden? In wieweit muss der Mensch sich den Zwängen anpassen die er selbst reproduziert? Wer ist der andere (mit)Produzent der Zwänge? Wieso sollte was abgeschafft werden dem die Menschen sich anpassen? (Evolutionär das "höchste" Prinzip) Welches Funktionieren muss von wem verstanden werden? Weshalb sollten die gesellschaftlichen Bedingungen geändert werden und wo hingehend?


    Wer legt fest was eine vernünftige Kritik der 68er ist? Was war "schlicht"der Richtige Bergriff von gesellschaftlicher Herrschaft? Wie tritt Macht nicht äußerlich den Individuen gegenüber? Wie entsteht innere Macht?


    Jetzt mache ich mal Schluss, im Grunde drücken obige Fragen mein unverstehen aus.








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    Die Menschen bauen sich eine neue
    Welt ... aus den geschichtlichen Errungenschaften ihrer untergehenden
    Welt. Sie müssen sich im Lauf ihrer Entwicklung die materiellen
    Bedingungen einer neuen Gesellschaft selber erst produzieren und
    keine Kraftanstrengung der Gesinnung oder des Willens kann sie von
    diesem Schicksal befreien.“ K. Marx, Moralisierende Kritik, MEW 4,
    339.





    Gruß Peter

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