Nimmt das Klassenbewusstsein ab?

  • „Das Klassenbewusstsein der Arbeiter in Frankreich nimmt ab“, meint Sebastian Chwala in seinem neuen Buch über die französische rechte Partei „Front National“.


    Bewusstsein steckt in den Köpfen fremder Menschen. Kann Sebastian Chwala Gedanken lesen, und dann noch die Gedanken von vielen Millionen Lohnabhängigen? Nein, Chwala kann keine Gedanken lesen. Er schließt von wenigen dürren empirischen Fakten auf dahinter liegende komplexe Ideen und Vorstellungen:
    Zitat: „Wichtigste Faktoren für die Konservierung des Klassenbewusstseins waren ... die Existenz relativ einheitlicher und solidarischer Kollektive auf unterer Ebene (Betrieb, Wohnviertel) und die Existenz starker Organisationen (Gewerkschaften, Parteien), die im politischen und sozialen Raum die Arbeiterideen geltend machen konnten und von denen sich die Arbeiter vertreten fühlten.“
    Man unterstreiche hier dick „Konservierung des Bewusstsein“ und „Kollektive, von denen sich die Arbeiter vertreten fühlten“.
    In diesen Kollektiven kamen die Lohnarbeiter gar nicht als handelnde Subjekte, sondern allenfalls als passiv „Vertretene“ vor.


    Mit dem passiv „Sich-vertreten-fühlen“ hat es ein Ende, das ist wahr.
    „Ab den 1990er Jahren begann der Glauben an die Institutionen zu erodieren.“ 1979 hatte die französische KP mehr als 700.000 zahlende Mitglieder. 2001 waren es noch knapp 140.000. Ob das ein Unglück ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.
    Ich meine: Je mehr linke Parteien und Organisationen sich mit dem formelhaften Politikbetrieb im Kapitalismus (oder im Staatssozialismus) identifizieren, desto weniger Lohnarbeiter beteiligen sich dort.


    Der Autor Sebastian Chwala stellt auch fest, dass gerade autoritär geprägte Arbeiterschichten in Frankreich, also genau die, die sich vordem von „einheitlichen Kollektiven vertreten fühlten“, anfällig sind für die Parolen und Praktiken der rechten „Front National“. Wirft das nicht ein schlechtes Licht auf die Arbeitervertreter und Arbeiterparteien der Vergangenheit?
    Ich meine: Wo Klassenbewusstsein gleichgesetzt wird mit der Bereitschaft zu mehr oder minder passiven Gefolgschaft und Unterordnung, dort sollten wir über den Verlust dieses „Klassenbewusstseins“ nicht jammern.


    Sebastian Chwala stellt fest: Die Mehrheit der französischen Lohnarbeiter sieht sich von keinen der linken oder rechten Parteien und Großorganisationen vertreten. Die Mehrzahl zieht sich aus dem formelhaften Wahl- und Politikbetrieb zurück. Ist das nun gut oder schlecht?


    Unsere linken „Arbeitervertreter“ meinen, das sei schlecht. Sie vermissen die Beifall und Geld spendende politische Klientel und Kundschaft, statt basisdemokratische, kommunale Strukturen zu entwickeln, in den sich die Lohnabhängigen in der Auseinandersetzung mit Staat und Kapital selber vertreten können,
    meint Wal


    Siehe auch: Wähler und Nichtwähler in der BRD 1949 - 2012

  • >Ich meine: Wo Klassenbewusstsein gleichgesetzt wird mit der Bereitschaft zu mehr oder minder passiven Gefolgschaft und Unterordnung, dort sollten wir über den Verlust dieses „Klassenbewusstseins“ nicht jammern.


    Vollkommen richtig. Die Diskreditierung von "Klassenvertretern" in und durch Institutionen der Ausbeuterklasse ist so weit gediehen, dass wohl ein weitgehender Vertrauensverlust eingetreten ist (empirische Vermutung von mir). Selbstreinigungskräfte sind in undemokratischen Strukturen wirkungslos geworden. Nur mal zur Erinnerung und beispielhaft: https://de.wikipedia.org/wiki/VW-Korruptionsaffäre.


    Nicht jeder Arbeiter und Angestellter hat direkt ein Studium einschlägiger Fächer hinter sich, so dass er aus dem Stegreif seine Klassenzugehörigkeit, und was ein Usurpator wäre, benennen könnte. In der Gruppe läßt sich das ausgleichen, hier läßt sich durch Kommunikation Klassenbewußtsein auch konservieren (Milieubestärkung). Natürlich kann man, wenn man das weiß, auch Milieus vorsätzlich demontieren (und natürlich wissen das auch ...). Die Fragmentierung der Arbeitswelt ist ein fortschreitender Prozeß, der dazu beiträgt.


    >Sie vermissen die Beifall und Geld spendende politische Klientel und Kundschaft, statt basisdemokratische, kommunale Strukturen zu entwickeln, in den sich die Lohnabhängigen in der Auseinandersetzung mit Staat und Kapital selber vertreten können,


    Im Prinzip ja. Basisdemokratische Strukturen sind das A und O erfolgreicher Massenbewegungen. Aber: Basisdemokratische oder kommunale Strukturen sind kaum in der Lage, in die Auseinandersetzung mit Staat und Kapital selbst einzutreten, dazu braucht es eine Bündelung von (auch finanziellen!) Kräften in großen demokratischen Organisationen ohne Bonzenstrukturen.

  • Mit Lukács wäre Klassenbewusstsein unabhängig von den empirischen subjektiven Auffassungen der einzelnen als »zugerechnet«, d. h. als das Bewusstsein, zu dem die gesamte proletarische Klasse aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess in der Lage sein könnte, zu definieren

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