"Endgame" von Derrick Jensen

  • Eben habe ich das dicke Buch von Derrick Jensen, "Endgame" aus dem Jahr 2006 von vorne bis hinten durchgelesen.



    "Endgame" (am besten übersetzt als "Endzeit") handelt von der zerstörerischen Energie des Kapitalismus - ein Kapitalismus der Wälder abholzt, Wasser und Boden vergiftet, die Luft verpestet, Pflanzen und Tiere ausrottet und durch Krieg und Mord Menschen umbringt. Ein bewegendes Buch, mit dem Derrick aufregen und erregen will: "Heutzutage hat jede Handlung, auch jede Nichthandlung tödliche Konsequenzen. Die Hände des Zivilisierten sind mehr oder weniger permanent tiefrot mit dem Blut zahlloser menschlicher und nichtmenschlicher Opfer befleckt." (399f)

    Worum geht es?
    1.0. Unsere Machthaber ...
    "Die Herrschenden wollen den Planeten auf Teufel komm raus vernichten...." (405)
    "Ich wiederhole, ein ausdrücklicher Grund, warum die Staudämme gebaut wurden, war, dass die Lachsbestände und damit auch die Kultur der Ureinwohner vernichtet werden sollten. ... Die Staudämme sind ein Mittel zum Völkermord, so sicher, ausdrücklich und absichtlich wie die Gaskammern in Treblinka, Birkenau und Auschwitz." (455)

    Darin kann ich Derrick nicht folgen, aber ich kann die Wut und den Hass nachvollziehen, die in Derricks Behauptung stecken. Ich kann Derrick hier nicht folgen, weil er da eine ganz simple Handlungstheorie unterstellt: Das Ergebnis einer menschlichen Tat sei direkte Folge der Absicht des Täters. Weil die Herrschenden die Natur zerstören, sei das auch ihre Absicht.
    Unbedachte Wirkungen, Interesselosigkeit, Irrtum, Fahrlässigkeit und Unkenntnis existiert in Derricks Handlungstheorie nicht.
    Letztlich sind mir aber die Absichten und Pläne unserer Machthaber schnuppe, es bleibt die schlimme Tatsache, dass ihre politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen unsere Erde, unsere Natur zerstören.


    Was ist zu tun?
    "Wenn die Herrschenden wirklich nicht erreichbar sind und wenn die Mehrheit der Menschen wahrscheinlich niemals etwas tun wird, ihre - und unsere - Landbasis und Körper zu verteidigen, und wenn die Kultur tatsächlich einen Todestrieb auslebt, der zur Auslöschung des Planeten führt, wenn er nicht gestoppt wird, ... was sollen wir dann tun?" (432)

    Uns "stellen sich ... sechs klare technische Aufgaben: 1) Die Staudämme beseitigen, 2) die Abholzung stoppen, 3) den kommerziellen Fischfang abschaffen, 4)den Mord an den Meeren stoppen, 5) die industrielle Landwirtschaft abschaffen ... und 6) die Erderwärmung aufhalten, und das heißt die Ölwirtschaft beseitigen." (460f)

    Soweit das Programm von Derrick Jensen. Derrick nennt das "technische Aufgaben". Damit habe ich meine Probleme: Staudämme beseitigen ist wohl eine technische Aufgabe. Ich kann auch die Abschaffung des Fischfangs und des Mordes an den Weltmeeren als technische Aufgabe sehen, die durch Abwrackung aller Fischfangflotten erreicht würde. Doch was ist mit der Abschaffung der industriellen Landwirtschaft? Da wir nicht alle Hungers sterben wollen, wird die kapitalistische Landwirtschaft wohl nur in dem Maße beseitigt werden, als es uns gelingt, Schritt für Schritt die vorhandenen Gifte aus Wasser und Boden zu entfernen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu entwickeln. Und muss dafür nicht der gesamte Boden und alles Wasser in der Welt auch wirklich uns Allen gehören? Kurz: Die Fragestellung, was zu tun ist, wird in meinen Augen durch den Vorschlag von Derrick nicht zufriedenstellend beantwortet.


    Worum geht es?
    2.0. Die Aktivisten ...
    Derrick sieht keinen Sinn in Appellen an unsere Herrschenden. "Die Herrschenden (sind) wirklich nicht erreichbar..." Da bin ich ganz bei ihm.
    Derrick setzt auch keine Hoffung in das befreiende Tun der vielen lohnabhängigen Ohnmächtigen: "... und wenn die Mehrheit der Menschen wahrscheinlich niemals etwas tun wird, ihre - und unsere - Landbasis und Körper zu verteidigen ..."
    "Nachdem uns jedoch dieser Todeskult (diese Todeskultur) eingeimpft wurde, bekümmern uns die Lachse und die Flüsse und die Erde (und unser eigener Körper) in einem tieferen Sinne: Wir hassen sie alle und wollen sie zerstören." (431)
    "Der erste Teil der Aufgabe besteht darin, unsere Selbstidentifikation als 'die Zivilisierten' zu durchbrechen und uns daran zu erinnern, dass wir menschliche Tiere sind, die auf ihrer Landbasis leben und deren Überleben von ihr abhängt, und damit zu beginnen, uns mehr um das Überleben unserer Landbasis zu kümmern als um die Aufrechterhaltung der Zivilisation. ... Sobald wir diese Veränderung in uns vollzogen haben, sobald wir uns nicht länger als Opfer der Zivilisation sehen, sondern als Überlebende, als diejenigen, die sich und die die, die sie lieben, nicht umbringen lassen, sind wir frei, uns mit der mehr oder weniger technischen Frage zu beschäftigen, wie man die aufhalten kann, die unsere Landbasis, die uns töten." (404)


    Große Hoffnungen, dass viele Menschen ihre "Selbstidentifikation als 'Zivilisierte' durchbrechen" wollen, hat Derrick nicht. Auch ich kann mich mit dieser Aufgabe, die mir Derrick stellt, nicht anfreunden. Auf wen setzt Derrick seine Hoffnungen?


    Derrick meint, der Sturz der kapitalistischen Zivilisation könne von ganz wenigen Aktivisten herbeigeführt werden.
    "Wie nur 50 Menschen das System zu Fall bringen und unsere Welt retten können." (Quelle)


    Derrick Jensen macht sich in "Endgame" zu Recht über das "Mutter-Erde-Gütiger-Gott-Nikolaus-Osterhasen-Ding" lustig, von der religiöse Menschen meinen, dieses Ding würde dafür sorgen, dass unser giftiger Dreck irgendwann von der Erde verschwindet.
    Aber gleichzeitig glaubt Derrick, dass eine Handvoll Umweltaktivisten den modernen Kapitalismus zum Einsturz bringen können. Das ist in meinen Augen ein "50-Superhelden-retten-die-Welt-Ding".


    Diese Hoffnung halte ich nicht für realistisch. Ich finde sie aber noch aus einem weiteren Grund problematisch. Denn diese 50 Superhelden haben vielleicht gute Absichten, aber benehmen sich trotzdem wie unsere Herrschenden, die uns "Massen" vor weitreichenden Entscheidungen weder fragen noch einbeziehen.


    Die Vorstellung, dass 50 Superhelden die Welt retten können, führt uns wieder auf die simple Handlungstheorie von Derrick: Böse Absichten führen zu bösen Wirkungen. Gute Absichten führen zu guten Wirkungen. Leider lehrt es uns die Weltgeschichte anderes. Ich denke, auch gute Absichten haben ganz schlimme Wirkungen, wenn falsche Mittel gewählt und die Folgen nicht ausreichend bedacht sind.


    Die unvermeidlichen Folgen hat Derrick zum Beispiel nicht ausreichend bedacht, wenn er Mobilfunkmasten fällen will:
    "Handys nerven natürlich höllisch. Das allein wäre schon Grund genug, die Mobilfunkmasten zu fällen. Aber es gibt noch bessere Gründe. So besteht die reale Möglichkeit, dass die von den Türmen ausgesendete Strahlung Krebs und andere Krankheiten bei Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen auslöst. ... Die Frage lautet also, wie bringt man einen Mobilfunkmast zu Fall?" (321ff).
    Mit dieser "technischen Aufgabe" befasst er sich seitenlang in einem ganzen Kapitel.



    Worum geht es?
    3.0. Wir Alle ....
    Eine Frau aus Kanada schrieb, "dass es in ihrem Tal bis vor wenigen Jahren jede Menge Grizzly- und Schwarzbären gab. ... Heute hat sie schon Glück, wenn sie einen pro Woche sah, und meist handelte es sich dabei immer um denselben. Die Veränderung, sagte sie, kam daher, dass die Jäger den chinesischen Markt für Bärengallenblasen entdeckt hatten. Der Markt nahm so viele Gallenblasen ab, wie die Jäger nur liefern konnten. Also nahmen sie sie alle."
    So funktioniert der Weltmarkt. Das heißt aber auch, dass die Chinesen, die Bärengallenblasen als Medizin kaufen, gar nicht mitbekommen, dass in Kanada die Bären verschwinden. Aus chinesischer Sicht nehmen durch den Weltmarkt die Bärengallenblasen zu, die Zahl der Bären nimmt - für Chinesen - nicht ab, denn diese Bären wurden in Kanada erlegt, nicht in China.
    Der Weltmarkt trennt also den Ort der Zerstörung vom Ort des Wohlstands. Der Weltmarkt trennt den Ort der Produktion vom Ort der Konsumtion. Der Wohlstand vermehrt sich (vielleicht) im eigenen Land, die Zerstörung vergrößert sich in großer Ferne.


    Derrick erwartet von uns allen, dass wir "solidarisch (sind) mit den Lachsen, Grizzlybären, Redwood-Bäumen, Wühlmäusen, Eulen" (432) Ich kann wohl begreifen, dass Lachse und Grizzlybären meine entfernten Anverwandten sind. Aber es sind Verwandte, die ich noch nie getroffen und gesehen habe. Wie soll ich jemanden "lieben", den ich so gut wie nicht kenne? Derrick liebt die Lachse und die Grizzlybären, weil er mit ihnen aufgewachsen ist. Ich bin mit eingesperrten Hunden und Katzen aufgewachsen, und wenn ich Raupen oder Käfer mit nach Hause brachte, hat meine Mutter sie in die Toilette entsorgt. Ich kann Lachse und Grizzlybären nicht lieben, aber ich kann einsehen, dass sie für mich und für uns Alle lebensnotwendig sind.


    "Alle natürlichen Gemeinschaften überleben und gedeihen auf der Grundlage von gegenseitigem Geben und Nehmen und von Kreisläufen: Die Wälder leben von den Lachsen und die Lachse leben von den Wäldern, die Meere leben von den Lachsen und die Lachse leben von den Meeren." (441)
    Das ist sympathisch, aber sehr vereinfacht gedacht. "Lachse leben von den Wäldern" - ja, denn die Wälder schützen und produzieren die Bäche und Flüsse, die Lachse zum laichen benötigen. Aber leben "die Wälder von den Lachsen"? Das finde ich weit hergeholt.
    Ja, die "Lachse leben von den Meeren", aber leben die Meere auch "von den Lachsen"? Als Liebeserklärung kann ich das gelten lassen. Als Einsicht in unsere natürliche Umwelt ist mir das zu wenig.


    Derrick fragt sich: Sehen die Leute nicht, wieviel Zerstörung in jeder einzelnen Ware steckt, die sie kaufen und benutzen? Tatsächlich kann kein Käufer sehen, wieviel Schweiß und Blut und wieviel Naturstoffe in einem kapitalistischen Produkt stecken. Der "Produzent" (der Kapitalist, der die Herstellung überwacht), der weiß so einiges, aber kein Unternehmen lässt sich wirklich in die Karten gucken.
    "Ich weiß seit Langem, dass die Herstellung der Festplatte meines Computers ein extrem giftiger Vorgang ist und bei den Frauen in Thailand und anderswo, die sie zusammensetzen, Krebs verursacht, aber bis heute wusste ich nicht, dass die Herstellung eines durchschnittlichen Computers etwa zwei Tonnen Rohstoffe erfordert (235 Kilo fossile Brennstoffe, knapp 22 Kilo Chemikalien und über 4000 Kilo Wasser ...) (479)
    Ich finde, solche genauen Kenntnisse fehlen uns allen. Solche wichtigen Kenntnisse, liefern uns aber nicht die kapitalistischen Produzenten. Solche Kenntnisse können und sollen uns Umweltaktivisten liefern.



    Worum geht es?
    4.0. Unsere Zukunft.
    "Nehmen wir mal an, ich lebe in einer Gemeinschaft von maßvoller Größe, weniger als hundertfünfzig Menschen oder so. Ich erfinde etwas. Innerhalb dieser funktionierenden Gemeinschaft - einer Gemeinschaft, in der wir wissen, dass wir auf dem Land, das wir lieben, für immer leben werden und deshalb nicht nur miteinander, sondern auch mit all unseren nichtmenschlichen Nachbarn auskommen müssen - gibt es bestimmte Entscheidungsverfahren, wie diese technische Innovation genutzt (oder nicht genutzt) werden soll. ... Also nehmen wir an, ich erfinde etwas, das sowohl nützlich als auch schädlich sein kann, je nachdem, wer es benutzt. Wir als Gemeinschaft entscheiden, ob wir das wollen, ob es unser Leben und das unserer nichtmenschlichen Nachbarn verbessert, und wie wir es benutzen, wenn wir es überhaupt benutzen." (442f).


    Diese Utopie finde ich sympathisch und das Vertrauen in die kollektive Weisheit der Gemeinschaft finde ich total sympathisch. Dass Derrick meint, größere Gemeinschaften als 150 würden nicht funktionieren, finde ich nicht schlimm. Ich denke, jeder sollte die Möglichkeit haben, sich die Gemeinschaft zu suchen und zu wählen, die zu ihm passt. Ich denke, wir können auch größere Gemeinschaften von 1.500 oder auch 15.000 Menschen nach dem Vorbild der 150-Menschen-Gemeinschaften organisieren, wo jeder über alles mitredet und mitentscheidet. Dazu benötigen wir zunächst eine radikale Verkürzung der allgemeinen Arbeitszeit auf vielleicht drei oder vier Stunden am Tag, damit jeder von uns auch die Zeit hat, sich um alles zu kümmern, und dann brauchen wir allerdings auch Handys und Internet und Mobilfunkmasten.

    Derrick hat völlig recht, dass wir Alle erst dann sicher und gesund leben, wenn alle Menschen die Natur als ihren begrenzten Lebensraum begreifen. Nicht nur unsere nächste Umgebung, sondern die ganze Welt als unseren Lebensraum zu begreifen,erfordert nicht Empathie ("Liebe") für die Natur, sondern vor allem eine genauere Kenntnis über jeden einzelnen Produktionsablauf, damit wir die möglichen Folgen unserer Handlungen besser abschätzen lernen.
    Es gibt dafür schon Ansätze: Wenn in Pakistan eine Textilfabrik abbrennt und tausend Näherinnen im Feuer umkommen, dann erfahren immer mehr Kundinnen in Europa, warum die Kleider bei H&M oder Primark so billig sind.

    Derrick hofft, dass wir Alle unsere "Selbstidentifikation als Zivilisierte" ablegen. Meine Hoffnung ist dagegen, dass wir Alle unsere "Selbstidentifikation als Eigentumslose" ablegen, die nichts zu sagen und nichts zu entscheiden haben.
    Die AKWs Wyhl und Brokdorf, Atomlager Gorleben, die Startbahn West, Opel Bochum, der Berliner Flughafen, der Bahnhof Stuttgart, der Braunkohleabbau - dassind nur einige der Stationen, wo sich Leute ohne Macht und ohne Eigentum so verhalten haben, als gäbe es kein Privateigentum, keinen Kapitalismus, als könne und müsse jeder von uns darüber entscheiden, was errichtet und was abgerissen wird.
    Auch wenn Häuser und Plätze besetzt und für öffentliche Zwecke genutzt werden, ignorieren die beteiligten Menschen wie in jedem Streik die Eigentums- und Machtverhältnisse samt den Gesetzen, die beides schützen.


    Derrick meint, Kapitalismus sei eine "Zivilisations-Maschine", eine Technologie, die sich durch Sabotage und Bomben zerstören lässt. Ich denke, der Kapitalismus ist ein Gesellschaftssystem, das heißt ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Menschen(klassen).
    Ich denke, andere gesellschaftliche Verhältnisse, die Mensch und Natur respektieren, lassen sich nicht durch heimliche Sabotage und Bomben, sondern nur durch offenen Widerstand und durch den bewussten Willen der großen (noch) ohnmächtigen Mehrzahl gegen eine (noch) mächtige Minderheit durchsetzen.
    Dieser bewusste Widerstandswille der großen Mehrheit setzt nicht Liebe oder Hass, sondern mehr Kenntnisse und mehr Einsicht voraus. Ich halte diese tiefere Einsicht für machbar.


    Eigentlich richtet sich das Buch "Endgame" von Derrick Jensen nur an wenige Umweltaktivisten, die ihre "Zivilisiertheit" abstreifen können. Aber Derricks Absicht und sein Buch gehören nicht notwendig zusammen.


    Ich denke, in Derricks Buch finden auch wir Alle, die weiter "zivilisiert" bleiben wollen und trotzdem gesund (über)leben wollen, nützliche und wichtige Gedanken über unser Leben und unsere Zukunft.

    Wal Buchenberg, Hannover, 13.09.2015

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