Demarchie statt Parlamentarismus?

  • „Ich bin beispielsweise der Meinung, dass es als demokratisch anzusehen ist, wenn die Herrschenden durch das Los bestimmt werden, während Wahlen als oligarchisch betrachtet werden müssen.“ (Aristoteles)


    In der heutigen Zeit sind die Begriffe Demokratie und Wahl so gut wie nahtlos miteinander verknüpft. Das war aber nicht immer so und ist eine Vorstellung, die erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, im Zuge der bürgerlichen Revolutionen, auftrat.


    In der antiken Demokratie Athens galt zur Ernennung von Beamten und des Rats der 500 das Losverfahren. Dieses Verfahren wird auch Demarchie genannt oder kann als "Aleatorische Demokratie" (Timo Rieg) bezeichnet werden.


    "Die Demarchie wurde teilweise im Rahmen der antiken Polis in Griechenland, vor allem in Athen, praktiziert, um Korruption oder Gewalttätigkeit bei Wahlkämpfen einzudämmen: Stadtverordnete, Richter und die meisten Ämter wurden durchs Los bestimmt." (Wikipedia)


    Der Journalist und Biologe Timo Rieg schlägt beispielsweise vor für die Besetzung des Bundestages per Zufall aus allen Bürgerinnen und Bürgern 600 Personen auszulosen, und diese für je eine Woche zu anfallenden Themen tagen zu lassen. Danach werden neue Bürger_innen ausgelost.


    Dabei sollen diese nicht nach dem klassischen Mehrheitsprinzip, sondern nach dem (bereits in den letzten Jahrzehnten hundertfach erfolgreich erprobten) Verfahren der so genannten Planungszelle, wie es vom Soziologen Peter Dienel entwickelt wurde, arbeiten.


    "Eine Planungszelle ist eine Gruppe von ca. 25 im Zufallsverfahren ausgewählten Personen (ab 16 Jahren), die für ca. eine Woche von ihren arbeitsalltäglichen Verpflichtungen freigestellt werden, um in Gruppen Lösungsvorschläge für ein vorgegebenes Planungsproblem zu erarbeiten. Die Teilnehmer verpflichten sich zur Neutralität.


    Nach einem Input für die Gesamtgruppe einer Planungszelle beraten Kleingruppen von vier bis sechs Teilnehmern eine konkrete Fragestellung und einigen sich - ohne Vorgaben oder Steuerung durch die Moderation - auf ihnen wichtige Punkte / Aussagen / Positionen. Nach einer Beratungszeit von etwa einer Stunde werden die Ergebnisse der Kleingruppen vorgetragen.


    Am Ende einer Arbeitsphase bewerten die Teilnehmer alle vorgetragenen Positionen nach ihrer Zustimmung / Wichtigkeit. Bei jeweils wechselnder Zusammensetzung arbeitet die Gruppe mehrfach im Laufe eines Tages mit vier anderen Laienplanern in einer solchen quasi intimen Situation zusammen.


    Durchgehende Meinungsführerschaften werden durch den Wechsel ausgeschlossen. Bei den Bewertungen der Bürgerinnen und Bürger sind die Fachleute und Interessenvertreter(inne)n nicht zugegen.


    Die Ergebnisse ihrer Beratungen werden in einem so genannten Bürgergutachten zusammengefasst und den politischen Entscheidungsinstanzen als Beratungsunterlage zur Verfügung gestellt." (Wikipedia)


    Statt einer bloßen Politikerberatung soll das Arbeitsmuster der Planungszelle die Parlamente ersetzen ("Bürgerparlament" - Rieg) und letztlich politische Entscheidungen treffen oder diese von der Bevölkerung per Referendum absegnen lassen.


    Die übrige staatliche Administration (Ministerien) soll auf ein Minimum reduziert und per direkter Personenwahl gewählt werden. Ergänzt durch die Möglichkeit von Volksentscheiden und -abstimmungen.


    Nach "demarchischen" Verfahren wurde 2010 beispielsweise der Bürgerausschuss zur Verfassungsreform in Island zusammengesetzt: "Das isländische Parlament ließ im Jahr 2010 eine Gruppe von 1000 Bürgern auslosen, die Vorschläge zu einer neuen Verfassung machen sollten. Aus ihnen wurden dann 25 Personen ausgewählt, die einen neuen Verfassungsentwurf ausarbeiteten. Der Vorschlag für die neue Verfassung Islands wurde dabei unabhängig vom Parlament und privaten Interessengruppen entworfen."


    Leider kam die, meiner Meinung nach stark sozialistisch angehauchte, Verfassung nicht durch.


    Mit der Aleatorischen Demokratie werden aus meiner Sicht mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Keine hohen Diäten, kein technokratisches Expertentum, keine Einflussmöglichkeit von Lobbygruppen, keine Möglichkeit von Korruption und Selbstdarstellung, Gegebenheit echter Repräsentativität, konkreter Nutzen sich im Privaten mit gesellschaftlichen Belangen zu befassen.


    Detailiertere Zusammenfassung:


    "* Wie bisher entscheidet das Parlament über alle Gesetze (also z.B. Haushalt, Steuern, Strafrecht, Energiewende).


    * Im Parlament sitzen aber keine Berufspolitiker mehr, sondern normale Bürger, die für diese Tätigkeit ausgelost werden.


    * Die Tagungsdauer eines Parlaments beträgt nur eine Woche. Danach kommen andere, ausgeloste Bürger.


    * Das Parlament arbeitet nicht wie bisher im öffentlichen Plenum und in (überwiegend geheim tagenden) Fachausschüssen, sondern meist in wechselnden, jeweils ausgelosten Kleingruppen zu je fünf Personen, in denen ein (strukturierter) Dialog möglich ist. Dieser Beratungsprozess ist nicht öffentlich, alle Ergebnisse aber natürlich schon.


    * Die Aufgabe des Parlaments ist es, zu Gesetzesvorhaben solange Fragen zu stellen und Anmerkungen zu machen, bis eine Fassung vorliegt, die von allen, zumindest aber von einer Mehrheit der zufällig ausgelosten Bürger für richtig und sinnvoll gehalten wird.


    * Derzeit werden im Parlament dort große Reden geschwungen, die rein parteipolitisch motiviert sind. Man ist als Opposition eben meist gegen alles, was die Regierungsparteien wollen – und umgekehrt.


    Das Bürgerparlament hingegen diskutiert und prüft Gesetzesvorhaben allein im Hinblick darauf, was für die Bevölkerung insgesamt gut ist. Denn die Bürgerparlamentarier vertreten keine Partei, keine Lobbygruppe, keine Privatinteressen, sondern sie wissen um ihre Rolle als Stellvertreter für die gesamte Bevölkerung.


    * Im Rahmen seiner einwöchigen Beratungsarbeit wird das Bürgerparlament kaum mal ein Gesetz komplett durcharbeiten und verabschieden. Denn zu einem ersten Entwurf wird es immer noch Rückfragen geben, Anmerkungen, Verbesserungsvorschläge oder auch Forderungen. Bis diese von der Ministerialbürokratie (oder der Parlamentsverwaltung) eingearbeitet sind, ist die Woche mit Sicherheit rum. Das macht aber gar nichts, denn die Legitimation der Ausgelosten liegt ja in der berechtigten Erwartung, dass die eine 600er-Gruppe genauso berät wie eine andere. So werden Bürgerparlamentarier in ihrer einen Woche vielleicht zum einen ein neues Gesetz erstmals beraten, zu einem anderen nur die letzten Änderungen zur Kenntnis nehmen und es dann so verabschieden.


    * Die Arbeit wird nicht einfach sein, aber auch keine Überforderung. In die parlamentarische Beratungen wird im Bürgerparlament ungleich mehr Zeit investiert als im derzeitigen Parteienstaat.


    * Alle Interessengruppen, Lobbyisten, Fachleute können zu Wort kommen – aber ohne die heutigen unmittelbaren Einflussmöglichkeiten." (http://www.timo-rieg.de/2013/09/alternative-burgerparlament/)


    Die Idee des "Bürgerparlaments" lässt sich aus meiner Sicht gut mit der Forderung nach Kommunalisierung und Demokratisierung politischer und ökonomischer Gesellschaftsprozesse verbinden und könnte klassische Rätedemokratie-Konzepte ergänzen.


    Mehr zum Thema:


    Citizens' Jury Bochum (Jugendplanungszelle):


    Planungszelle zur Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz:

  • Dazu erstmal eine Frage: Hältst du das für ein brauchbares Modell für eine kommunistische Gesellschaft (bzw. für die Zeit während der Diktatur des Proletariats) oder schlägst du gerade vor unsere jetzige Demokratie durch eine Demarchie zu ersetzen?

  • Alet .


    Ich halte das alles für einen graduellen Prozess und gehe nicht von einer notwendigen "Übergangsgesellschaft" als gesonderte Quasi-Epoche aus, die den Kommunismus auf den Sanktnimmerleinstag verschiebt und damit wieder zur abstrakten Utopie verklärt. Deshalb halte ich vom Begriff der "Diktatur des Proletariats" auch nichts. Dass es um die Umsetzung der gesellschaftlichen Interessen der Bevölkerungsmehrheit geht, liegt nämlich auf der Hand. Deshalb wäre ein Prozess wie der 2010 in Island eingeschlagene denkbar. Oder aber es ergeben sich außerparlamentarische Bürgerversammlungen (ähnlich wie es während der Occupy-Bewegung geschah), die dann schrittweise die Vorlage für neue Insutitionen liefern.

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