Serge Latouche: Degrowth und Wachstumswahn

  • Zahl und Vielfalt der Kapitalismusgegner nimmt derzeit zu, das ist eine erfreuliche Entwicklung.
    Eine neue Gruppe von Kapitalismuskritikern ist die "Degrowth"-Bewegung, die ein "Ende des Wachstums" in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellt.
    Im Jahr 2007 hatte Serge Latouche ein schmales Büchlein vorgelegt, das die Bibel der "Degrowth"-Bewegung sein will:
    Serge Latouche: Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn. München 2015.
    Das gibt es nun in deutscher Übersetzung. Im folgenden soll diese "Heilige Schrift" der Wachstumskritik von mir vorgestellt werden.


    Mein Kommentar:
    Latouche beruft sich mit seiner Kapitalismuskritik auf die (Natur)Wissenschaft, aber ich fürchte, er versteht von diesen Wissenschaften nicht viel mehr als vom Kapitalismus.
    Dass der Kapitalismus sich auf Newton stützt und die "Unumkehrbarkeit derZeit" ausklammere, ist mir neu. Bei Marx habe ich gelernt, dass die Kapitalisten mit dem Zeitablauf rechnen, weil jedes Kapital einen Kreislauf vollführen muss, der es in seine Ausgangsform als Geld oder als Ware zurückführen muss. Je nach Kapitalform und Branche ist dieser Zeitablauf unterschiedlich lang. Nur in dieser kreisförmigen Wiederholung kann das Kapital sich vermehren. Seine Wachstumsbewegung bekommt die Form einer Spirale.
    Die Anwendung des thermodynamischen Hauptsatzes, der für geschlossene System gilt,auf den Planeten Erde, ist mindestens noch so lange problematisch, als tagtäglich die Energie der Sonne auf die Erde trifft.
    Ja, die Ressourcen unseres Planeten Erde sind begrenzt. Aber inwieweit die Menschheit schon an diese Grenzen angekommen ist, oder sie gar überschritten hat, das müsste anhand von Zahlen und Größen konkret analysiert und aufgezeigt werden. Latouche begnügt sich weitgehend mit allgemeinen Sprüchen von der Begrenztheit und Endlichkeit allen Seins.
    Der Kapitalismus ist endlich wie jedes Sein. Das ist eine Beschreibung, keine Kritik.
    Auch die Kenntnisse Latouches über den Kapitalismus reichen nicht weit, sonst würde er aus seinem Dreisatz "Ausdehnung der Produktion,Konsum und Kostensenkung" herauslesen können, dass in den Kapitalismus innere Schranken eingebaut sind: Kostensenkungen mindern den Lohn, und damit den Konsum. Der begrenzte Konsum der Lohnarbeiter schafft eine innere Schranke gegenüber der Ausdehnung der kapitalistischen Produktion.
    Wenig Detailkenntnis vom Kapitalismus verrät auch die Vorstellung von Latouche, dass ein kapitalistisches Land über Jahrhunderte hinweg eine Wachstumsrate von 3,5 Prozent erreichen könne. Auch hier sind durch Überproduktion von Kapital und anschließender Krise Wachstumsbremsen in den Kapitalismus eingebaut. Auch hier geht Latouche nicht von einer genauen Analyse der tatsächlichen Verhältnissen aus, sondern von Allgemeinplätzen.
    Der ökologische Fußabdruck und die Biomasse sind sicherlich wichtige Messgrößen für den Naturverbrauch bzw. die Naturverschwendung einer Produktionsweise. Aber Latouche scheint zu meinen, dass kapitalistisches Wachstum identisch sei mit dem wachsendem Naturverbrauch. Das ist so nicht richtig. Die spezifische kapitalistische Messgröße für Wachstum ist der Wert. Wert an sich ist aber unsichtbar und enthält weder Biomasse noch hat er einen Fußabdruck. Nehmen wir ein Beispiel: Eine einfache Flasche Rotwein kostet 5 Euro. Ein Spitzenwein kostet jedoch 300 Euro. Beide Flaschen enthalten die gleiche Biomasse und haben den gleichen ökologischen Fußabdruck. Der Spitzenwein hat jedoch einen 60fach höheren Wert.
    Daher mein erstes Resümee: Als Theoretiker und Kapitalismuskritiker sind Latouche und die Degrowth-Bewegung schwach. Ich habe jedoch die Hoffnung, dass von den Anhängern dieser Bewegung praktische Erfahrungen für umweltschonende Produktionsverfahren kommen, die wir schon heute im Kapitalismus übernehmen können, und die für die nachkapitalistische Gesellschaft von größerer Bedeutung sind.
    Dazu vielleicht mehr im folgenden Teil.
    Wal Buchenberg
    Serge Latouche:
    S.137f: "Wir beharren nicht auf einer speziellen Kapitalismuskritik. ...Diese Kritik wurde bereits sehr gut von Karl Marx geleistet. Und doch reicht die Kritik am Kapitalismus nicht aus. Wir müssen auch die Idee der Wachstumsgesellschaft an sich hinterfragen. Und in diesem Punkt kann uns Marx nicht weiterhelfen."
    S.19: "Unser System, das auf Maßlosigkeit gründet, führt uns geradewegs in die Sackgasse."
    S.24: "Mit dem Schlagwort 'Degrowth' soll in erster Linie ausgedrückt werden, dass wir uns vom Ziel des exponentiellen Wachstums verabschieden müssen, da dieses Ziel nur für die Profitgier der Kapitaleigner steht - mit verheerenden Folgen für die Umwelt und damit auch für die Menschheit."
    S.33: "Die Wirtschaft ... hat sich das Modell der klassischen Mechanik Newtons zu eigen gemacht und damit die Unumkehrbarkeit der Zeit ausgeklammert. Sie vernachlässigt dabei die Entropie, das heißt die Irreversibilität der Umwandlungen von Energie und Materie."
    S.33f: Die derzeitige neoklassische Wirtschaftstheorie ... maskiert ihre Ignoranz gegenüber den fundamentalen Gesetzen der Biologie, der Chemie und der Physik,insbesondere gegenüber den Gesetzen der Thermodynamik ... Daraus ergeben sich die Unmöglichkeit eines unendlichen Wachstums in einer endlichen Welt."
    S.40: "Glaubt denn irgend jemand wirklich, dass es auf einem begrenzten Planeten grenzenloses Wachstum geben kann?"
    S.38: "Diese Jagd nach Profit um jeden Preis wird durch die Ausdehnung der Produktion, Konsum und Kostensenkung ermöglicht."
    S.42: "In der Annahme eines geometrischen Wirtschaftswachstums hat der Westen jedes Maß verloren. Bei einer jährlichen Steigerungsrate des Bruttoinlandsprodukts von 3,5 Prozent (durchschnittliche Steigerung in Frankreich zwischen 1945 und 1955) erhöht sich die Wirtschaftsleistung im Verlauf eines Jahrhunderts auf das 31-Fache und in zwei Jahrhunderten auf das 961-Fache."
    S.43: "Unser Hyperwachstum stößt an die Grenzen der endlichen Biosphäre."
    S.44: "Die Fläche des Planeten Erde ist begrenzt."
    S.63: "Der ökologische Fußabdruck ... ist ein gutes Instrument, um zubestimmen, welche 'Entnahmerechte' jeder besitzt."
    S.139: "Die Wachstumsrücknahme ist notwendigerweise antikapitalistisch."
    S.109: "Rückkehr zu einem ökologischen Fußabdruck, .... das heißt ...Rückkehr zu einer Produktion wie in den Jahren 1960 bis 1970."
  • „Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen ... Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben.“ K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, 516.


    „Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern. Noch mehr. In dieser Arbeit der Formung selbst wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater ... und die Erde seine Mutter.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 57f.


    Die vorindustriellen Gesellschaften hatten die Natur weniger ausgebeutet und zerstört als wir heute, - jedoch nicht aus besserer Einsicht, sondern „aus Mangel an Mitteln und Wissenschaft“ (Karl Marx, MEW 25, 820).
    Damit machte der kapitalistische Fortschritt Schluss: „Die kapitalistische Produktion entwickelt ... die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 529f.


    Die marxistische und radikale Linke hatte lange Jahre die elementaren Zusammenhänge von Natur, Arbeit und menschlichem Leben nicht viel weniger aus den Augen verloren wie die Vertreter des Kapitals. Das müssen wir selbstkritisch eingestehen.
    Diesen Zusammenhang zwischen der Natur und unserem gesellschaftlichen und individuellen Leben gilt es ganz neu theoretisch und praktisch zurückzugewinnen.


    Das heißt für mich: Die Ausbeutung der Natur kann nicht gestoppt werden ohne eine Ende der Ausbeutung der Lohnarbeit.
    Dazu Karl Marx:
    „Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen.
    Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten (frei und bewusst vereinten) Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rational regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und passendsten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann." K. Marx, Kapital III, MEW 25, 828



    Mein Kommentar:
    Latouche und die Degrowth-Bewegung machen hier nur einen halbherzigen Schritt: Sie wollen die Ausbeutung der Natur beenden, die Ausbeutung der Lohnarbeit aber erhalten und bestehen lassen. Das lässt sich nicht realisieren. Und wo es doch realisiert würde, führte es notwendig und direkt zur Herrschaft einer kleinen "aufgeklärten Wissenschaftselite".

























    Wo wir alle nur gewöhnliche "Kriminelle" sind, bedarf es einer Erziehungsdiktatur, die für alle die "Arbeit aufteilt", die über die "Verwendung der Gewinne" entscheidet und die festlegt, welche unserer Bedürfnisse "akzeptabel" sind und welche unserer Bedürfnisse "unnötig" sind.

























    Wal Buchenberg
    Serge Latouche
    S.140: "Die 'Beseitigung der Kapitalisten' das Verbot von Privatbesitz an Produktionsmitteln, die Abschaffung der Lohnarbeit oder (sic!) des Geldes, dies alles würde die Gesellschaft ins Chaos stürzen...."

    S.38: "In jedem Kapitalisten, jedem Kapitalgeber, auch in jedem 'homo oeconomicus' (und das sind wir letztlich alle), steckt auch ein gewöhnlicher 'Krimineller*, der sich mehr oder weniger mit der 'ökonomischen Banalität des Bösen' einverstanden erklärt."

    S.104: "... denn es ist offensichtlich, dass sich mit dem Triumph des Kapitalismus auch der Klassenkampf erübrigt hat. Die Verlierer dieser über mehrere Jahrhunderte andauernden Auseinandersetzung sind zahlreicher denn je, doch sind sie gespalten, ohne jede Organisation, ohne eine Kultur und stellen keine revolutionäre Klasse mehr dar."

    S.67: "Selbstverständlich geht es darum, die Arbeit so aufzuteilen, dass alle, die arbeiten wollen, eine Beschäftigung finden."

    S.110: "Verwendung der Gewinne aus der Produktivität für eine Senkung der Arbeitszeit und ... für die Schaffung von Arbeitsplätzen."

    S.70: Man "muss ... zunächst gehorchen können, um zu lernen, wie man Befehle gibt."







    S. 86: Wir sollten "eine genauere Unterscheidung zwischen primären und sekundären Bedürfnissen .... machen."




    S. 89: "Alles in allem geht es nicht darum, die Verbraucher ... zur Askese zu verpflichten, sondern man sollte an ihre Verantwortung als Bürger appellieren."




    S. 124: "Verzicht auf die Befriedigung unnötiger 'Bedürfnisse'".
  • MeinKommentar:
    Diese pauschale „Konsumkritik“ geht an der Lebenswirklichkeit der meisten Lohnabhängigen vorbei. Der Herr Professor Latouche hat vielleicht ein Problem mit „Überkonsum“. Die Mehrheit der Lohnabhängigen hat andere Sorgen.













    Das Haushalts-Durchschnittseinkommen in Deutschland liegt derzeit bei 2.700 netto im Monat. Davon müssen zwei, drei oder vier Personen leben.
    Über 12 Millionen Menschen in Deutschland leben in relativer Armut. Relative Armut heißt, sie sind ausgeschlossen von dem Lebensstandard, der in Deutschland als normal gilt. Diese Armen haben (als Single) monatlich weniger als 890 Euro netto oder müssen als vierköpfige Familie von 1870 Euro im Monat leben.
    Serge Latouche:

    S.17: "Für diejenigen von uns, die im reichen Norden leben, ist ... der Überfluss das Problem."

    S.52 "... in der Konsumära das Nordens (kann) nicht von wirtschaftlicher Verarmung geredet werden...."

    S.62: "Konsum (hat) weniger mit einem Bedürfnis zu tun als mit dem Wunsch, den eigenen Status zu bekräftigen ...."

    S.64 "Reduzieren. Dabei geht es vor allem darum, unseren Überkonsum zu beschränken ..."

    S.86 "Wir sollten uns allerdings fragen, ob zur Lebensqualität tatsächlich der Besitz von zehn Paar Schuhen gehört ... oder ob nicht ein oder zwei Paar gute Schuhe ausreichen."

    S.126: "Der Kampf gilt dem Über- und Hyperkonsum."

    S.17: "Wir täten besser daran, Maß zu halten."
    Mein Kommentar:
    Ein Mischmasch von halbwegs akzeptablen, von unnützen und von törichten Maßnahmen.
    Serge Latouche:
    S.79: "Der lokale Handel ist zu fördern."

    S.79: "Schließlich brauchen wir auch eine echte lokale Geldpolitik."

    S.80: "Zusammenfassend bedeutet Regionalisierung: weniger Transport, transparente Produktionsabläufe, Anreize zu nachhaltiger Produktion und nachhaltigem Konsum, Reduzierung der Abhängigkeit von Kapitalflüssen und Multis...."

    S.112: "Schwere Strafen für Werbeausgaben."

    S.114: "Besteuerung der Finanzwirtschaft... Eine zusätzliche, weltweitgeltende Steuer auf die Gewinne transnationaler Unternehmen...."

    S.114: "Eine Steuer auf Atomabfälle mit langer Halbwertszeit und hoher Aktivität."
    Mein Kommentar:
    Latouche fordert ein „neues", tatsächlich aber traditionelles Denken, das nach Rechts offen ist.
    Serge Latouche:
    S.25: "eine auf Degrowth gründende Gesellschaft ... mit anderen Worten: ....ein System, das sich auf neues Denken stützt."

    S.56: "Notwendig ist etwas viel Radikaleres: nicht mehr und nicht weniger als eine kulturelle Revolution, die ein neues politisches Fundament schafft."

    S.59: "Wahrheitssuche, Gerechtigkeitssinn, Verantwortung, Respekt vor der Demokratie, Freude an der Vielfalt, Solidarität, Geistesleben: Das sind die Werte, die wir um jeden Preis zurückerobern müssen..."

    S.142: "Tatsächlich gibt es auch eine Kritik von rechts an der Moderne. ... Es ist nicht verwunderlich, dass sich die rechte Kritik an der Arbeitsgesellschaft und am Produktionismus aus denselben Argumenten speist wie unsere Kritik."

    S.143: "... radikale Kritik an der Moderne (kommt) öfter von der Rechten als von der Linken ...."
    Mein Kommentar:
    „Relokalisierung“ ist ein Ziel, für das Kommunisten, Kommunalisten und Degrowth-Anhänger gemeinsam kämpfen können.
    Serge Latouche


    S.57: Es geht darum, im Norden wie im Süden autonome, sparsame, solidarische Gesellschaften aufzubauen."

    S.63: "Relokalisierung. Damit ist natürlich gemeint, dass vorwiegend auf lokaler Ebene produziert werden sollte."

    S.64: "Dazu gehört auch, dass ökonomische, politische und kulturelle Entscheidungen ebenfalls auf lokaler Ebene getroffen werden müssen, wo immer das möglich ist."

    S.77: "Zum Programm der Relokalisierung gehört zunächst die Suche nach einer autarken Versorgung mit Lebensmitteln, dann nach ökonomischer und finanziellerAutarkie."
    Gruß Wal Buchenberg
  • Die Kapitalisten produzieren nicht für den wirklichen Bedarf, sondern für die zahlungsfähige Nachfrage. So entsteht im Kapitalismus Verschwendung neben Unterernährung, Überproduktion neben Unterkonsumtion.
    Ein zentrales emanzipatorisches Versprechen der nachkapitalistischen Gesellschaft ist, dass sie nicht für Profit, sondern für den Bedarf produziere. Damit werde einerseits die Unterversorgung der heutigen Armen beseitigt und andererseits werde Überproduktion vermieden und deshalb sparsamer und umweltschonender produziert werden.



    Es ist die allgemeine Überzeugung von Linken, Sozialisten, Kommunisten und auch von den „Postwachstumlern“ , dass sich der wirkliche Bedarf der Gesellschaft wenigstens als Minimum, als „notwendiger Bedarf“ oder „Grundbedarf“ wissenschaftlich, also von „Außen“ oder von oben herab, bestimmen lasse.
    Ich halte das für eine bestenfalls wohlmeinende, schlimmstenfalls für eine gefährliche Illusion.



    Nehmen wir ein kollektives Frühstück als einfaches Beispiel. Es ist eine liebenswürdige, aber naive linke Vorstellung, dass der Kommunismus wie ein kollektives sonntägliches Frühstücksbuffet funktioniert: Jeder geht hin, und nimmt sich, was er braucht und was ihm gefällt.



    Es kann aber nicht verzehrt werden, was vorher nicht eingeplant, produziert und aufgetischt worden ist. Was soll also für das kommunistische Frühstücksbuffet eingeplant und produziert werden?
    Einfach ein bestimmter Kalorienbedarf? Dann wären wir mitten in der faschistischen Kriegswirtschaft. Wie soll sonst ein „notwendiger Bedarf“ oder ein „Grundbedarf“ beim kollektiven kollektiven Sonntagsfrühstück aussehen? Ich weiß es nicht.



    Jeder weiß aber, dass es unter uns Diabetiker gibt, die besondere Lebensmittel benötigen. Es gibt Menschen, die keine Laktose, keine Gluten oder keine Fruktose vertragen. Es gibt Leute, die kein Histamin vertragen. Dann gibt es Menschen, die aus religiösen Gründen oder aus Tradition nur speziell zubereitete Speisen (halal, koscher) essen wollen und essen dürfen. Und dann kommen noch alle Vegetarier und Veganer.
    Bis hierhin ist die individuelle Speisenauswahl wirklich „notwendig“ und unverzichtbar.
    Nun kommen aber noch besondere Vorlieben: die einen trinken zum Frühstück nur Kaffee (entkoffeiniert oder nicht?), die anderen trinken nur Tee (Kräutertee oder Schwarzer Tee?), Kinder mögen lieber Kakao. Die einen essen gerne Brötchen (mit Körner oder ohne?), die anderen lieber Brot (weißes, graues, schwarzes?), die dritten hätten gerne Müsli. Niemand meint, diese individuellen Vorlieben seien ein „Luxus“.



    Ich wüsste nicht, wie anders diese unterschiedlichen Bedürfnisse alle befriedigt werden könnten, wenn nicht dadurch, dass die Leute ihren individuellen Bedarf rechtzeitig anmelden, damit die Produktion und Herstellung darauf ausgerichtet werden kann.



    Karl Marx meinte: „Nur wo die Produktion unter wirklicher vorherbestimmender Kontrolle der Gesellschaft steht, schafft die Gesellschaft den Zusammenhang zwischen dem Umfang der gesellschaftlichen Arbeitszeit, verwandt auf die Produktion bestimmter Artikel, und dem Umfang des durch diese Artikel zu befriedigenden gesellschaftlichen Bedürfnisses.“K. Marx, Kapital III, MEW 25, 197.



    Ich denke, mit „vorherbestimmende Kontrolle der Gesellschaft“ meinte Karl Marx tatsächlich die Gesellschaftsmitglieder in ihrer Gesamtheit - in unserem Beispiel alle, die an dem Frühstücksbuffet teilnehmen wollen, und keine "Experten", die behaupten im Namen der Gesellschaft „wissenschaftlich“ planen zu können.
    Gruß Wal Buchenberg

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