Was denken wir eigentlich?

  • Hallo Franziska,


    in deinem Blog hast du ein weiteres Fass aufgemacht. Da man in dem Blog nur kurz kommentieren, aber nicht wirklich diskutieren kann, stelle ich meine Antwort hierher.
    Hier ein paar Einwände zu deinen Gedanken.
    Ad 1)
    Du sprichst vom „Ausgang aus autoritärem Zutrauen in fremde Urteile“. Ich denke, so einen Ausgang erlebt jeder einzelne Mensch mehrmals als Kind, als Jugendliche/r, als Erwachsener. Ich sehe nirgendwo Autoritäten, die nicht angezweifelt würden: Eltern, Lehrer, Ärzte, Vorgesetzte, Professoren, Manager, Ökonomen, Wissenschaftler, Politiker, usw.
    Auch Karl Marx ist längst keine Autorität mehr. (Auch wenn es vielleicht anders aussieht, aber ich präsentiere hier keinen einzigen Gedanken von Marx, den ich nicht für mich durchdacht habe und für gut und richtig befinde.)


    Jeder Einzelne ist auf eigenes Denken angewiesen. Jeder Einzelne ist für sein Denken und Tun verantwortlich. Selbst im juristischen Normalfall gilt kein: „Das habe ich nicht gewusst!“ Und niemand lässt mehr eine Entschuldigung durch „Befehlsnotstand“ gelten. In diesem Punkt sind Du und ich (wahrscheinlich) ein "Wir". ;)


    Ad 2)
    Du sprichst vom „Vernünftigen“ und schränkst das ein, indem du das Vernünftige individualisierst. Gibt es ein „privat Vernünftiges“? Ich denke nicht. Das Vernünftige betrifft immer ein „Wir“. Das Vernünftige ist ein "Wir". Das „Wir“ ist aber niemals der konträre Gegensatz vom „Ich“. Ein Wir ist immer nur eine Ergänzung des Ich, wie das Wasser eine notwendige Ergänzung für den Fisch ist.
    Allerdings: Das „Wir“ kann eine Einbildung sein, etwas Hypostasiertes.
    Oder auch: Das „Wir“ ist immer bloß eine Hypothese. Das "Wir" ist eine Hypothese, die bei jedem Streit, bei jeder Meinungsverschiedenheit in Frage gestellt und bei jeder Trennung zerstört wird.


    Von Marx wird allerdings weniger von „Vernunft“, als von „Interesse“ gesprochen. Ein Interesse ist weniger weich und gallertartig wie die Vernunft. Marx meinte: „Die Idee (die Vernunft) hat sich noch jedes Mal blamiert, wenn sie nicht mit dem Interesse übereinstimmte.“


    Ad 3)
    Ja, Kopfgucken ist ein Herrschaftsinstrument. Es wird ja in aller Regel von solchen angewandt, die durch Kopfguckerei fremde Gedanken und fremde Interessen analysieren, um sich dann als Repräsentant dieser fremden Interessen aufzuspielen. Ohne Kopfguckerei ist Repräsentation gar nicht möglich. Was bleibt von den Linken, wenn sie auf Kopfguckerei verzichten (müssen)?


    Zum Schluss:
    Niemand kann oder will alles selbst überprüfen und alles selbst durchdenken. Jeder von uns, macht es so, wie Hegel alles Denken und alle Wissenschaft beschrieb: Wir schließen von einer Klaue auf das gesamte Tier.


    Immer haben wir nur Teilkenntnisse, Teilinformationen, die wir zu einem Gesamtbild ergänzen. So ist unser Hirn organisiert. Dagegen können wir uns nicht wehren. Durch Wiederholung und Gewöhnung entsteht dann eine (Schein)Sicherheit. Unser Alltag besteht aber fast nur aus Wiederholung und Gewöhnung.
    Das macht es so schwierig, fremde Schädel mit einem neuen Gedanken zu erreichen.
    Ohne private und allgemeine Krise, ohne Erschütterung des Gewohnten ist da nicht viel zu erreichen. Darin haben die Linken schon recht.
    „Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elements, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. ... Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen. K. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, 386.


    „Bei einer allgemeinen Wirtschaftsblüte, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein.
    Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten. Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krise. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese. K. Marx, Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 98.


    Es wäre allerdings bequem, nur auf die „große Krise“, den „großen Zusammenbruch“ zu warten: Krise und Erschütterung des Gewohnten erzeugt der Kapitalismus jeden Tag im Kleinen und im Großen. Und in der Verunsicherung, die jede Erschütterung des Gewohnten bringt, braucht es Antworten und Erfahrungen, die über die Krise hinausführen.


    „Aber innerhalb der bürgerlichen, auf dem Tauschwert beruhenden Gesellschaft, erzeugen sich sowohl Verkehrs- als Produktionsverhältnisse, die ebenso viele Minen sind, um sie zu sprengen.
    (Eine Masse gegensätzlicher Formen der gesellschaftlichen Einheit, deren gegensätzlicher Charakter jedoch nie durch stille Metamorphose zu sprengen ist.
    Andererseits, wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche lächerliche Donquichoterie.)“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 77.


    Gruß Wal


  • Danke, Wal, dass du dir die Mühe einer Erwiderung auf den Beitrag machst.
    (Den ursprünglichen Beitrag hab ich noch um etliches Material ergänzt. Die Grenze zur Unlesbarkeit dürfte leider an vielen Stellen überschritten sein.)


    Du sprichst zurecht von EINWÄNDEN, die du erhebst. Deine Gedanke widersprechen genau den Zuspitzungen, durch die die von mir vorgetragenen Auffassungen sich allenfalls von "normaleren" abheben.


    Meine Anspielungen auf die Kant'sche Formal, wonach Aufklärung der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist, verweisen auf das Hohle darin. Die Aufforderung "Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" (das "hör auf mich!" darin ist ähnlich performativ widersprüchlich wie in: Sei spontan!) führt nicht sehr weit, wo solche Verhältnisse herrschen, wie du sie beschreibst, Wal: "Immer haben wir nur Teilkenntnisse, Teilinformationen, die wir zu einem Gesamtbild ergänzen. So ist unser Hirn organisiert." Und welcher Verstand kommt schon (" Dagegen können wir uns nicht wehren-") gegen sein Hirn an...


    Es ist damit aber das tatsächlich Individualisierende angesprochen, das auch in meinem Text ständig mitbetrachtet wird: Der individuelle Erfahrungsstand, auf den allenfalls die allen gemeinsame Vernünftigkeit angewendet werden kann. Nicht Vernünftigkeit wird dadurch individualisiert und als individuell besondere behauptet, sondern eben der Ausschluss vom gesellschaftlich Verfügbaren, der je besondere Stellungen und Stelungnahmen dazu erzeugt.
    Selbst das Expertenwissen ist oft schon durch zig Köpfe und (schreibende) Hände gegangen, bevor es an andre Experten (desselben Fachs) gelangt...
    Das autoritäre Dranglaubenmüssen beginnt ja hier: Wem von ihnen können wir vertrauen (und, schwieriger, wem warum womöglich nicht?)


    Daran ist nicht die gestaltpsychologische Gesamtverfassung unseres Hirns schuld, die zeigt sich allenfalls in ein paar exotischen Details unseres flüchtigen Wahrnehmens.
    Es ist nichtmal irgendein anderes Konstrukt von der Art eines "SowindwirMenschennunmalgestrickt" verantwortlich.
    Sondern erstmal und vor allem die gegenwärtige modern-hocharbeitsteilige Weise der (Re)Produktion der weltweiten Industriegesellschaft(en).
    Wenn in diesen Gesellschaften das Wissen, nein nicht aus zweiter sondern aus (s.o.) zig-ster Hand nicht vertrauensvoll akzeptiert würde - wie könnte ihre Arbeitsteilung einen Moment länger dauern?


    Was hilft es uns denn, wenn wir "kritische Verbraucher" sind? Wo sollen wir kaufen, und was? Kritisch und misstrauisch mögen wir ja sein, und zB die einschlägigen Warnungen, die in ebenso kritischen Fernsehsendungen ausgebreitet werden, bereitwillig aufgreifen (ach - und warum soll man nun den Journalisten und "kritischen" Experten, die aus solchem Warnen ein Geschäft machen, eher vertrauen?) Es ist ja garnicht so sehr die flagrante Lüge und der Betrug (das gibts dann noch als Sahnehäubchen)... es ist (schon eher) die allgemeine Überfordertheit durch schiere Masse an Gesichtspunkten, die auch Sachverständige nicht mehr so genau hinschauen lässt.. aber am Ende... ist es das Prinzip, das ganz einfache, nach dem auch die Experten entscheiden: Verwenden wir Chemikalien NUR WENN ihre Ungefährlichkeit FESTSTEHT (wie beweist man das?) - oder andersrum, wenn ihre Gefährlichkeit (wofür? im Verbund mit welchen andern?)


    Das Vertrauen in Experten und ihre Wissenschaft ist konstitutiv für unsre Produktionsweise. Wir haben keine andre. Da gehts schon los.


    Und es hört nicht auf bei dem, was Linke als "Herrschaft" denunzieren: Für den Normalbürger ist das nur die Fortsetzung der gesamt-gesellschaftlichen Arbeitsteilung mit anderen Mitteln (etwa Wahlstimmen, Meinungsvoten usw).
    Es muss ja nur mal ein geringfügig höheres Niveau der Konsensbildung ins Auge gefasst werden, sagen wir ein rätedemokratisch verwaltetes kommunistisches Gemeinwesen, um die Bodenlosigkeit der derzeitigen radikalen Kritik des Bestehenden zu ahnen.
    Die Standard-Argumente hierzu, die erstmal entkräftet werden müssten, lauten (ich trag sie nicht zum ersten Mal vor): Das funktioniert garnicht - das funktioniert nicht besser - das funktioniert im besten Fall nicht soviel besser, dass der Änderungsaufwand lohnt - das löst die eigentlichen Probleme nicht.


    Tja. Da kann noch viel Krise passieren, individuell wie "gesellschaftlich", bis an diesen Argumenten sich was ändert.


    "Wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfinden, sind alle Sprengversuche lächerliche Donquichoterie." Genau.
    Und wo sind diese Bedingungen und Verhältnisse?
    Wer stellt sie her?
    Sie.. sich?


    "Es braucht Antworten und Erfahrungen, die über die Krise hinausführen." Genau.
    Darüber reden wir hier.

  • "Es braucht Antworten und Erfahrungen, die über die Krise hinausführen." Genau.
    Darüber reden wir hier.


    Eben nicht oder wen meinst Du jetzt hier mit: "Wir"?


    Falls Du mich, Wal und Dich meinst, ist mein Eindruck da ein anderer...
    Ich werde hier gefühlt ständig von Dir ermahnt, daß ich zu Antworten und Erfahrungen kommen muß, die dann über die Krise hinausführen.
    Das macht für mich einen entscheidenden Unterschied.
    Ich für mich habe nämlich schon welche, Wal uU auch und Du möglicherweise ebenso.


    Laß uns über unsere reden.


    Wer hier nicht mitredet, kann seine Erfahrungen und Antworten halt nicht einbringen. So wie wir es nicht für sie tun (können und soll(t)en).
    Mich interessieren einstweilen auch nicht die, die sich nicht aus dem Kapitalismus heraus bewegen wollen; die die es wollen und wenn das hier jetzt nur Wat., Wal und franziska sind, dann reden eben diese Drei.
    ... und auch nicht über andere.


    Btw. versuche bitte nicht, mich weiter für Deine Methodik zu erwärmen, auch wenn Du sie vielleicht seit 30 Jahren praktizierst, darum muß sie a) nicht 'richtig' sein, habe ich b) meine eigene und andere evtl. auch.


    Liebe Grüße - Wat.

  • Ich versuche es noch einmal anders, vielleicht wird so deutlicher, warum ich mich so 'genervt' fühle.


    Du scheinst immer davon auszugehen, daß Deine Antworten und Erfahrungen nur nicht richtig erklärt sind, daß sie Menschen nicht erreichen.
    Ist ja schon mal gut, daß sie Dir nicht zu dumm sind Dich zu verstehen, aber den Spieß nur einfach umdrehen, Dich/uns zu schlechten Erklärern 'zu machen', scheint mir nicht der Ausweg.


    Wenn es heißt: "Es braucht Antworten und Erfahrungen, die aus der Krise herausführen", dann meint das mE die Krise(n), die gerade sind resp. die, die Menschen gerade als solche empfinden.


    Kapitalismus ist (für sie) nicht in der Krise, den los zu werden steht doch gar nicht zur Debatte.
    Also brauchst Du dafür auch keine Antworten und Erfahrungen zu geben, nimmt Dir eh 'keiner' ab.


    Es geht eben mE nicht um eine andere Methodik, den Menschen den Kapitalismus madig zu machen, das schafft der gut selber.
    Was er immer wieder im kleinen macht, das scheinen Menschen durchaus als (ihre jeweilige) Krise zu empfinden.
    ... und da kann ich doch meine Antwort und meine Erfahrung einbringen, so wie Du Deine, Wal seine, Mario seine, etc.


    Ich werde Dir (und wenn Dir der Satz auch schon zum Hals raushängt) keine Rezepte anbieten - nicht nur, weil ich es nicht kann - Weil ich es nicht möchte!


    Auf die große Frage: Wie kommen wir aus dem Kapitalismus raus - gibt es nur eine Antwort: Durch Emanzipation.


    Auf welchen Wegen, das müssen wir herausfinden und das geht definitiv nicht theoretisch. Eines scheint mir sowohl theoretisch wie praktisch klar: Es wird viele verschiedene geben (müssen).
    Der Deine ist einer, nicht meiner, muß es ja hoffentlich auch nicht sein.
    Der meine ist auch nur einer, ein anderer eben.
    Beide sind emanzipatorisch und das ist gut so.

  • Hallo Wat.,
    ja, das merkt man deinem Beitrag an, dass du dich "genervt" fühlst.
    Ich denke, du hast nicht wirklich Grund, genervt zu sein.
    Wenn du mit einem Beitrag von Franziska nicht einverstanden bist, ist das ein schlechter Grund, genervt zu sein.
    Wir haben hier und da unterschiedliche Ansichten, das wird auch so bleiben. Trotzdem respektieren wir uns als Gesprächspartner. Das ist mehr als anderswo im linken Umfeld üblich ist.
    Zu diesem Respekt gehört auch, dass wir nicht versuchen, dem/der Anderen ein Thema oder eine Sichtweise aufzudrängen.
    Gruß Wal

  • Ich hatte das eher als Zustimmung von Wal zu deinem Punkt verstanden - dies einander nichts Aufdrängenwollen ist doch zwischen uns nicht strittig.
    Ich weiss auch nicht, wo jemand hier gerade dagegen verstösst.
    -------------------------------------------
    Liebe Wat - nein, ich suche nicht nach dem endgültig erfolgversprechenden Agitationsmaterial, mit dem man, nun aber endgültig, auf "die Menschen" losgehen kann. Vielmehr versuche ich mir zu erklären, warum so etwas keinen Sinn hat. Dabei nehme ich alle Beteiligte absolut ernst, grade auch die, die mir fern bis sehr fern stehen und dadurch fremd sind.


    Ich stelle mir zentrale Fragen ähnlich wie Marx (so wie es in den von Wal zitierten Sätzen nochmal deutlich zum Ausdruck kommt):
    1. Gibt es da etwas, das den emanzipatorischen Aktivitäten entgegenkommen muss, damit sie gelingen können, und das sich von selbst, ohne dass jemand die Absicht dazu hat, "entwickelt" haben muss? Dazu sage ich: Ja, eine ganze Menge. (Wenn ich auch noch anderes nennen würde als Marx und Wal.)
    2. Eine andere Frage ist die: Ob dies Entgegenkommende eine gewisse "Dichte" und "Gleichzeitigkeit" erreicht haben muss - naja das muss es wohl in jedem Fall, die Frage ist eher, wieviel davon. Auch da gebe ich eine andere Antwort als andre Emanzipations-orientierte Leute: Ich vermute, dass es schon eine nicht ganz kleine Minderheit in der Bevölkerung der fortgeschrittenen modernen Industriestaaten ist, wo dies Entgegenkommende zeitgleich, genügend verdichtet auftritt; aber bei weitem nicht die ganze Gesellschaft; und nicht gebunden oder gar gefördert durch "Krise" oder Zuspitzungen.
    3. Als dritte Zentralfrage versuche ich auch noch die zu beantworten: Was wäre denn aus dem "Entgegenkommenden" zu machen, was müssen die Emanzipationswilligen, die sich ihm gegenübersehen, dann tun? - Die Pointe MEINER Antwort dabei ist: Dass das "Entgegenkommende", so wie ich es sehe, GERADE DARIN BESTEHT, dass bestimmte Leute sich zusammentun, auf sehr elementaren Ebenen der Lebens- und Alltagseinrichtung. So elementar, dass es ZUNÄCHST um Grössenordnungen von Unternehmungen wie "DER Übernahme DER Produktionsmittel" entfernt ist. Obwohl da schon auch Produktionsmittel im Spiel sind: was zum Wohnen, und das auf Dauer (aus eigenen Mitteln), was zum Erzeugen der eigenen Nahrungs- und Arbeitsmittel (und das auf Dauer). Über die genaue Art der Aussagen, die man hier vorgreifend*) machen könnte, müsste sehr viel genauer geredet werden: Sie sind nämlich, wie ich glaube, WEDER von der Art: Diesunddies WIRD stattfinden (also Prognose), noch von der Art: Dies und dies SOLL stattfinden, weil es ratsam, effizient etc wäre.


    *) (in meinem Blogbeitrag hab ich vor Vorgriffen im Punkt 4 ebenso wie Mario (aber aus andern Gründen; ich teile nicht seine überschwänglichen
    Erwartungen an "nichtlineare Prozesse") gewarnt)
    -------------------------------
    Ich möchte noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen - darin ist auch das Hauptmotiv dafür enthalten, dieses "Fass aufzumachen" und die Blogbeiträge über fundamentale Defizite ("Denkblockaden") der gegenwärtigen emanzipatorischen Theorien zu schreiben.
    Obwohl "Materialisten" vermutlich auf der Stelle zustimmen würden, wenn man ihnen sagt: Alle Aussagen über "Gesellschaft" müssen in Aussagen über das Handeln einzelner Gesellschaftsmitglieder (und eben aller zusammen) übersetzbar sein, und sind ihrerseits nur abgekürzte Versionen über massenhaftes Einzelhandeln - obwohl also solche Nicht-Idealisten keineswegs "die Gesellschaft" für ein Subjekt eigenen Rechts, eine unbestimte eigene Riesenperson halten, die über alle ihre Mitglieder hinaus ist, klüger, mächtiger, informierter als sie alle ist und daher bevormunden darf - obwohl das also so ist, sind die Begriffe, um diese eigentliche, die Real-Ebene des gesellschaftlichen Geschehens zu beleuchten und zu beschreiben, sehr wenig entwickelt.
    Dies wiederholt sich in der ausser-marxistischen Gesellschaftstheorie: Dort gibt es eine Makro- und eine Mikrosoziologie. Aber die Modelle und Beschreibungen jedes der beiden "Ansätze" schaffen nicht die Durchbindung zu den Kategorien des je andern. Die materialistische Erwartung, dass die Übersetzung hin und her prinzipiell gelingen müsse, die Begriffe beider Ebenen in feste Beziehung zueinander gebracht werden können müssten, bleibt uneingelöst.


    Genau dazu ist das, was ich vorzutragen hätte (als das, wonach MEINE Erfahrungen mich dringend zu fragen genötigt haben), ein Versuch; dieser Versuch enthält an zentralen Stellen etwas KRITISCHES, er beschreibt ein MISSLINGEN: Die Einzelnen GLAUBEN vergesellschaftet zu sei, verlassen sich darauf, auch aufeinander, haben dementsprechend Erwartungen aneinander und HANDELN vo allem auch im Sinne dieser Erwartungen; dieses Handeln ist die Realität, die sie (alle zusamen) hervorbringen - das (gemeinsame) Handeln IM GLAUBEN vergesellschaftet zu sein, ist das, worin die Realität von "Gesellschaft" einzig besteht. Es GIBT also sehr wohl reales Handeln, und das massenhaft - es ist sogar (wegen der relativen Konformität der Erwartungen) einigermassen abgestimmt, geordnet - aber wehe, wenn die Erwartungen diese Konformität verlieren, weil plötzlich Herausforderungen auftauchen, auf die niemand eingestellt war, oder sich konformitäts-begründende Generations-Erfahrungen in eine unübersichtliche Vielzahl von Einzel-Erfahrungen hinein fortsetzen, die ganz unterschiedliche Konsequenzen für Einzelne wie (aus ihrer Sicht) Viele, die Andern, nahelegen - das ist der Grund für die "Krisenanfälligkeit" dieser höchst prekären Art der Koordination des Handelns so grosser Mengen von Leuten.


    Sofern hier im Forum über "Gesellschaft" diskutiert wird, möchte ich diese meine Auffassung gerne mit einbringen und zur Diskussion stellen: "Die Menschen" da draussen gehen aus von einem VIEL höheren als dem tatsächlich zwischen ihnen bestehenden Niveau an Verständigtheit (und Koordiniertheit bzw. Koordinierbarkeit ihrer Einzelhandlungen). Sie tun es aufgrund der zwischen ihnen bestehenden "Verhältnisse" und der von ihnen allen gemeinsam (mit viel zu hohen Erwartungen an deren Leistungsfähigkeit) benutzten "Koordinations- oder Vergesellschaftungs-MECHANISMEN": staatlich beaufsichtigte Märkte, demokratische Prozeduren der Konsensfindung (incl. Rechtstaatlichkeit), Medien (Öffentlichkeit), vorbestehende und zuverlässig tradierbare bzw. vermittelbare Normensysteme (als Basis für Auseinandersetzungen in deren Rahmen und auf deren Grundlage).


    Man könte kurz und bündig sagen: Die Leute da draussen tun massenhaft so, als lebten sie bereits in einer Art Kommunismus - nur ohne Absprache und Verständigung; sie glauben, etwas Vergleichbares mit ihren Mechanismen zustandezubringen, und sich die Mühen (und Kosten) ihrer Abstimmung und Koordination auf der Stufenleiter, auf der sie operieren, sparen zu können.
    ------------------------------
    Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich in diesem Zusammenhang die MATERIELLEN Herausforderungen, die diese illusorische Vergesellschaftsungsform (dh. eigentlich: die Menschen, die an sie glauben) durch ihre gegenwärtige modern-industrielle, hoch-arbeitsteilige, exzessiv-informations- und wissensbasierte Produktionsweise zu bewältigen hat, immer wieder ins Gedächtnis rufe und damit eigentlich starken Grund-Intuitionen des Marxschen Denkens entspreche (wohingegen die linksradikale Debatte der letzten Jahrzehnte eine geiwsse Politik- und Gesellschaftslastigkeit aufwies, und diesen Punkt als einen spezifisch mit zu berücksichtigenden doch stark in den Hintergrund geschoben hat).
    In diesem Zusammenhang stehen auch meine Feststellungen über das Versagen der etablierten Koordinations-"Mechanismen" angesichts der Anforderungen de materiellen Reproduktionsprozesses, für den sie eigentlich eingerichtet sind: Das Missverhältnis kann man so umschrieben, dass man sagt "diese Mechanismen sind dafür zu primitiv", die Reproduktion wächst weit über jede Bewältigbarkeit mit SOLCHEN Mitteln hinaus. Und... das ist nun mal ein Mangel, der sich als Defizit, sowohl der Fähigkeiten, als der gezeitigten Resultate, im Leben "der Menschen" massiv bemerkbar macht. Dies ist nichts weniger als eine Beleidigung und will auch keine sein. Es beschreibt nur (mit grosser Bestürzung und Besorgtheit; das ist, was Wal immer wieder meinen "Pessimismus" nennt) eine aus meiner Warte bestehende katastrophale historische Ausgangslage für die epochal neuen emanzipatorischen Bemühungen. Diejenigen, die sich darauf konzentrieren, müssen mit der latenten Drohung leben, dass ihre Umgebung zu ständigen kleineren und grösseren, ja existenz-zerstörenden Zusammenbrüchen ("Krisen") neigt, und dagegen kaum etwas wirklich wirksames getan werden kann - ausser eben, mitten in und zwischen diesen prekären Verhältnissen robustere Formen der arbeitsteiligen Reproduktion und Wissensverarbeitung aufzubauen.
    Vielleicht versteht man, warum ich "Krise" zwar (eben wegen der historischen Zurückgebliebenheit der herrschenden Verhältnisse) als unvermeidlich und chronisch, aber eben leider (darum) auch als Hindernis und Dauerbelastung betrachte, jedenfalls nicht als "Chance". Verbesserungsbedürftige Verhältnisse sind nun mal keine angenehme Randbedingung ihrer Verbesserung - wenn die, die sie bessern sollen, sich zugleich (noch) IN ihnen aufhalten müssen. Das war das Schicksal aller bisherigen historischen Fortschrittsbewegungen.

  • Wat: „versuche bitte nicht, mich weiter für Deine Methodik zu erwärmen, auch wenn Du sie vielleicht seit 30 Jahren praktizierst, darum muß sie a) nicht 'richtig' sein, habe ich b) meine eigene und andere evtl. auch.“


    Es geht um Theorie, weniger um Methodik. Falls ich nicht davon überzeugt wäre, dass Marx Theorie zur Erklärung der politischen und ökonomischen Wirklichkeit mehr taugt als die der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft, sie also unter vielen Aspekten für richtig halte, würde ich nicht viel darüber reden, sie nicht zu verstehen, zu erklären und zu verbreiten versuchen. Falls ich meine theoretischen Ansichten nicht für richtig fände, dann kann ich es auch gleich lassen. Falls du Emanzipation nicht als notwendige Bedingung für ein besseres Leben der Lohnarbeiter ergo nicht für richtig hieltest, würdest du dich wohl kaum so engagiert dafür einsetzen.


    Woran messen wir denn die Richtigkeit einer Theorie im politisch ökonomischen Sinn? Daran ob sie uns Lohnarbeiter weiter bringt, weiter hinsichtlich unsrer allgemein miserablen Lebensbedingungen. Wenn so was theoretisch gefasst wird, wie es u. a. Marx gemacht hat, dann ist das ein immer vorläufiger, aber notwendiger Versuch dieses Ziel zu erreichen. Notwendig deshalb, weil sich die Lohnarbeiter zumindest über einige wesentliche Dinge, wie sie von Marx oder hier von Wal franziska und anderen angesprochen werden, klar im Kopf sein müssen, wenn sie nicht vom Regen (Kapitalismus) in die Traufe (Faschismus, Realsozialismus, Islamismus) stolpern wollen.


    Richtige (materialistische) politische oder ökonomische Theorien beruhen nicht auf ideologischen Dogmen, sondern unterliegen der verstandesgemäßen Kritik. Ihre Thesen lassen sich prüfen und (möglichst) beweisen und sind für die Widerlegung offen. Richtige Theorien werden dadurch korrigiert oder verbessert. Aber das wirklich Entscheidende dabei ist, ob der Einzelne sein Eigeninteresse im Sinne der Verbesserung seiner Lebenssituation vertreten sieht und daran die Theorie messen kann. Das ist der Ausgangspunkt jeder materialistischen Theorie, wenn sie richtig sein will. An sie knüpft die (Konsens-) Diskussion unter Einzelnen an, aus der sich die Lösungen ergeben sollen, wie das Lebensbedürfnis im besonderen und die allgemeinen Bedürfnisse des Einzelnen ausreichend berücksichtigt und weitest erfüllt werden können. So was ist keine aufgesetzte avantgardistische Theorie, die sich auf irgendein blödes zentrales oder höheres Prinzip (Revolution, Gesellschaft, Sozialismus usw.) stützt, sondern eine, die das menschliche Individuum, den Einzelnen und seine Bedürfnisse zum Maß aller politischen und ökonomischen Handlungen und Zielsetzungen nimmt. Und da frage ich mich, warum es daran etwas von jemand zu meckern gibt, für den die Emanzipation der Lohnarbeiter im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns steht.


    Beste Grüße
    Kim

  • Newly created posts will remain inaccessible for others until approved by a moderator.