Hallo Franziska,
in deinem Blog hast du ein weiteres Fass aufgemacht. Da man in dem Blog nur kurz kommentieren, aber nicht wirklich diskutieren kann, stelle ich meine Antwort hierher.
Hier ein paar Einwände zu deinen Gedanken.
Ad 1)
Du sprichst vom „Ausgang aus autoritärem Zutrauen in fremde Urteile“. Ich denke, so einen Ausgang erlebt jeder einzelne Mensch mehrmals als Kind, als Jugendliche/r, als Erwachsener. Ich sehe nirgendwo Autoritäten, die nicht angezweifelt würden: Eltern, Lehrer, Ärzte, Vorgesetzte, Professoren, Manager, Ökonomen, Wissenschaftler, Politiker, usw.
Auch Karl Marx ist längst keine Autorität mehr. (Auch wenn es vielleicht anders aussieht, aber ich präsentiere hier keinen einzigen Gedanken von Marx, den ich nicht für mich durchdacht habe und für gut und richtig befinde.)
Jeder Einzelne ist auf eigenes Denken angewiesen. Jeder Einzelne ist für sein Denken und Tun verantwortlich. Selbst im juristischen Normalfall gilt kein: „Das habe ich nicht gewusst!“ Und niemand lässt mehr eine Entschuldigung durch „Befehlsnotstand“ gelten. In diesem Punkt sind Du und ich (wahrscheinlich) ein "Wir".
Ad 2)
Du sprichst vom „Vernünftigen“ und schränkst das ein, indem du das Vernünftige individualisierst. Gibt es ein „privat Vernünftiges“? Ich denke nicht. Das Vernünftige betrifft immer ein „Wir“. Das Vernünftige ist ein "Wir". Das „Wir“ ist aber niemals der konträre Gegensatz vom „Ich“. Ein Wir ist immer nur eine Ergänzung des Ich, wie das Wasser eine notwendige Ergänzung für den Fisch ist.
Allerdings: Das „Wir“ kann eine Einbildung sein, etwas Hypostasiertes.
Oder auch: Das „Wir“ ist immer bloß eine Hypothese. Das "Wir" ist eine Hypothese, die bei jedem Streit, bei jeder Meinungsverschiedenheit in Frage gestellt und bei jeder Trennung zerstört wird.
Von Marx wird allerdings weniger von „Vernunft“, als von „Interesse“ gesprochen. Ein Interesse ist weniger weich und gallertartig wie die Vernunft. Marx meinte: „Die Idee (die Vernunft) hat sich noch jedes Mal blamiert, wenn sie nicht mit dem Interesse übereinstimmte.“
Ad 3)
Ja, Kopfgucken ist ein Herrschaftsinstrument. Es wird ja in aller Regel von solchen angewandt, die durch Kopfguckerei fremde Gedanken und fremde Interessen analysieren, um sich dann als Repräsentant dieser fremden Interessen aufzuspielen. Ohne Kopfguckerei ist Repräsentation gar nicht möglich. Was bleibt von den Linken, wenn sie auf Kopfguckerei verzichten (müssen)?
Zum Schluss:
Niemand kann oder will alles selbst überprüfen und alles selbst durchdenken. Jeder von uns, macht es so, wie Hegel alles Denken und alle Wissenschaft beschrieb: Wir schließen von einer Klaue auf das gesamte Tier.
Immer haben wir nur Teilkenntnisse, Teilinformationen, die wir zu einem Gesamtbild ergänzen. So ist unser Hirn organisiert. Dagegen können wir uns nicht wehren. Durch Wiederholung und Gewöhnung entsteht dann eine (Schein)Sicherheit. Unser Alltag besteht aber fast nur aus Wiederholung und Gewöhnung.
Das macht es so schwierig, fremde Schädel mit einem neuen Gedanken zu erreichen.
Ohne private und allgemeine Krise, ohne Erschütterung des Gewohnten ist da nicht viel zu erreichen. Darin haben die Linken schon recht.
„Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elements, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. ... Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen. K. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, 386.
„Bei einer allgemeinen Wirtschaftsblüte, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein.
Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten. Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krise. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese. K. Marx, Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 98.
Es wäre allerdings bequem, nur auf die „große Krise“, den „großen Zusammenbruch“ zu warten: Krise und Erschütterung des Gewohnten erzeugt der Kapitalismus jeden Tag im Kleinen und im Großen. Und in der Verunsicherung, die jede Erschütterung des Gewohnten bringt, braucht es Antworten und Erfahrungen, die über die Krise hinausführen.
„Aber innerhalb der bürgerlichen, auf dem Tauschwert beruhenden Gesellschaft, erzeugen sich sowohl Verkehrs- als Produktionsverhältnisse, die ebenso viele Minen sind, um sie zu sprengen.
(Eine Masse gegensätzlicher Formen der gesellschaftlichen Einheit, deren gegensätzlicher Charakter jedoch nie durch stille Metamorphose zu sprengen ist.
Andererseits, wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche lächerliche Donquichoterie.)“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 77.
Gruß Wal