Diskussion des Bochumer Programms - Anmerkungen zu Daniels Kritiken (Proletarische Plattform)

  • verfasst von Robert Schlosser(R), 19.12.2012, 11:28


    Hallo zusammen,
    Daniels Kommentar zu „Zur Diskussion des Bochumer Programms“ ist aus meiner Sicht die erste zusammenhängende Kritik, die sich ernsthaft und gründlich auf die Inhalte einlässt und dabei auf jedes Einsortieren in irgendwelche überkommenen „Richtungs-Schubladen“ verzichtet! Allein das verdient Anerkennung unsererseits und eine entsprechend ernsthafte Diskussion!
    Was wir bisher - im Nao-Prozess - zu hören bekamen, das waren belehrende Statements (z.B.: in Sachen Arbeitszeitverkürzung hätten wir mal von MLPD und SAV zu lernen), Einsortierungen (die Liste ist schon fast zu lang, ums sie aufzuzählen ;-): „Gradualismus“, „Reformismus“, „Syndikalismus“. Wir haben uns fast aller „kleinbürgerlichen Sünden“ schuldig gemacht, derer man sich schuldig machen kann. Immerhin ist das doch eine stolze Leistung mit einem so knappen Programmvorschlag!) und Aburteilungen (das Urteil war immer gesprochen, wenn das Etikett aufgeklebt war. Das erspart lästige Auseinandersetzung in der Sache).


    Für mich bleibt das Bochumer Programm ein Vorschlag, von dessen inhaltlicher Orientierung und Praxistauglichkeit ich überzeugt bin. Das schließt ständiges Überprüfen im Detail nicht aus, zumal, wenn inhaltiche Kritiken vorliegen, die sich um sorgfältige Argumentation in der Sache bemühen.
    Meine Einlasssungen auf Daniels Kritik werden auch deutlich machen, an welchen Punkten ich selbst Unklarheiten habe und weiteren Klärungsbedarf - zumindest für mich - sehe.


    I.
    Informationsfreiheit. Zugang zu allen betrieblichen Daten für Unternehmensangehörige.
    (in der revidierten Version: Öffentlichkeit aller betrieblichen Daten für Unternehmensangehörige)
    Ich gehe nicht davon aus, dass diese Forderung auch die „Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht“ bedeuten würde, wie Daniel schreibt. Sofern bei werksärztlichen Untersuchungen etc. Daten anfallen, sind und bleiben das „persönliche Daten“ und keine „betrieblichen Daten“. Für diese „persönlichen Daten“ kann und darf es natürlich keine Informationsfreiheit geben.
    Statt der Forderung nach „Informationsfreiheit“ etc. schlägt Daniel vor, die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses zu verlangen (übrigens eine Forderung aus Trotzkis Übergangsprogramm von 1938).


    Folgende Anmerkungen dazu:
    In seinem Beschluss vom 14. März 2006, dem eine Verfassungsbeschwerde der Deutschen Telekom zugrunde lag, führte das Bundesverfassungsgericht aus:
    Als Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse werden alle auf ein Unternehmen bezogene Tatsachen, Umstände und Vorgänge verstanden, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat. Betriebsgeheimnisse umfassen im Wesentlichen technisches Wissen im weitesten Sinne; Geschäftsgeheimnisse betreffen vornehmlich kaufmännisches Wissen. Zu derartigen Geheimnissen werden etwa Umsätze, Ertragslagen, Geschäftsbücher, Kundenlisten, Bezugsquellen, Konditionen, Marktstrategien, Unterlagen zur Kreditwürdigkeit, Kalkulationsunterlagen, Patentanmeldungen und sonstige Entwicklungs- und Forschungsprojekte gezählt, durch welche die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebs maßgeblich bestimmt werden können (vgl. Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2001, § 30 Rn. 13 m.w.N.; K. Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker, GWB, Kommentar zum Kartellgesetz, 3. Aufl. 2001, § 56 Rn. 12 m.w.N.). [1]
    http://de.wikipedia.org/wiki/Betriebs-_und_Geschäftsgeheimnis


    Daraus wird schon deutlich, welche „heilige Kuh“ Betriebs- und Geschäftsgeheimnis für das Kapital sind. Sie zählen zu den notwendigen Rahmenbedingen, die im Interesse des Einzelkapitals liegen, um sich in der Konkurrenz zu behaupten. Zugleich aber sind sie ein Mittel der Geheimhaltung gegenüber LohnarbeiterInnen, um sie bei Gelegenheit mit „(Arbeits-)Kosten senkenden Maßnahmen“ zu überraschen.
    Aus meiner Sicht, die wesentlich durch betriebliche Erfahrung geprägt ist, geht es zunächst um folgendes:
    Konzernleitungen, Geschäftsführungen etc. planen und entscheiden auf der Basis „betrieblicher Daten“ unter dem Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnis. LohnarbeiterInnen sind entweder direkt (Personalplanung) oder indirekt (Investitionen) Gegenstand dieser Planungen und Entscheidungen. Konzernleitungen, Geschäftsleitungen halten ihre Planungen geheim, fällen eine Entscheidung und teilen diese den „MitarbeiterInnen“ dann mit, wenn deren Umsetzung unmittelbar ansteht. Sie wollen vermeiden, dass es in den Belegschaften frühzeitig Diskussion, Verständigung und Widerstand gibt und unterbinden daher jede frühzeitige Information über ihre Absichten. Sofern es Betriebsräte gibt, werden diese so spät wie möglich informiert – je nach Ausmaß der installierten „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ -, meist erstmal mit dem Hinweis auf die im Betriebsverfassungsgesetz verankerte „Schweigepflicht“. Ziel dieses Verfahrens ist die Ohnmacht von Belegschaften, die Verhinderung von Verständigung unter LohnarbeiterInnen und deren Widerstand. Überrumpelung heißt die Devise! Das habe ich in vielen Jahren und einigen Betrieben immer wieder so erfahren. Eine Forderung, die auf Beseitigung dieses lähmenden Zustandes orientiert ist, sollte möglichst präzise auf diesen „Missstand“ bezogen sein. Momentan habe ich keinen alternativen Formulierungsvorschlag, greife aber die Kritik von Daniel gern auf, um die Dringlichkeit weiterer Diskussion - für mich ;-) - zu unterstreichen. Die im Bochumer Programm verlangte „Informationsfreiheit“ gehört aus meiner Sicht zunächst zu den „Schutzrechten“ (Schutz vor Überrumpelung und Eröffnung von Widerstandsmöglichkeiten), um die es im Kapitalismus zu streiten lohnt. Mit einer „Übergangsforderung“ hat das insoweit erst mal wenig zu tun. Aus Sicht einzelner Belegschaften, wie der LohnarbeiterInnen insgesamt, geht es also unmittelbar um Offenlegung aller Planungsvorhaben, die soziale oder ökologische Auswirkungen haben.


    Eine generelle Abschaffung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnis hätte aber sehr viel weiter rechendere Konsequenzen. Das beträfe nicht zuletzt das durch die Konkurrenz selbst, wie durch die moderne Kommunikation immer stärker in Frage gestellte Recht auf „geistiges Eigentum“. Generelle Abschaffung - vor allem des Betriebsgeheimnisses - wäre ein „Anschlag“ auf die Konkurrenz, weil es z.B. Patente gegenstandslos machen würde. Welchen Sinn eine solche Abschaffung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnis in einem normalen kapitalistischen Betrieb haben soll, ist mir nicht klar.


    II.
    Streikfreiheit
    Daniels Ausführungen zu diesem Punkt verstehe ich nicht! Selbst wenn seine Ausführungen zum (grund-)gesetzlich garantierten Streikrecht unanfechtbar wären, besteht die höchstrichterliche Einschränkung dieses Streikrechts. Von einer „Streikfreiheit“ kann meiner Meinung nach nicht die Rede sein. Die bestehenden Einschränkungen sind gravierend und betreffen etwa betriebliche „wilde“ Streiks, die Verpflichtung von Betriebsräten auf „Frieden“ oder auch politische Streiks zur Durchsetzung oder Verhinderung von Gesetzen.
    Daniel möchte eine „zielgenauere“ Formulierung, etwa: „Keinerlei gesetzliche Einschränkung des Streikrecht“. Damit könnte ich auch leben, aber sehe darin keine wirkliche Verbesserung. Eher das Gegenteil, weil nicht der Inhalt (Streikfreiheit), sondern die Form (Streikrecht), in der der bürgerliche Staat diese Freiheit gewährt, hervorgehoben wird. Ich würde auch immer die Forderung nach „Meinungsfreiheit“ der Forderung nach „Recht auf freien Meinungsäußerung“ vorziehen, nicht zuletzt, weil ich es für ganz wichtig halte, den Bürgerlichen „den Freiheitsbegriff“ streitig zu machen.
    (Schließlich ist unser Grundanliegen die soziale Emanzipation!) Auf gesetzliche Regelungen pochen, sie hervorheben, würde ich nur, wo es um die Einschränkung der (Bewegungs-)Freiheit des Kapitals geht, um elementaren Schutz von „Mensch und Natur“ vor dem „Raubbau“ des Kapitals geht. (Dazu gleich mehr.)



    III.
    „Über alle Abweichungen vom Normalarbeitstag entscheidet die Belegschaftsversammlung“
    Diese Forderung steht – im Bochumer Programm – im Kontext der Forderung nach Beschränkung der Nacht- und Schichtarbeit. Daniels Kritik bezieht sich einmal darauf, dass „Normalarbeitstag“ hier offensichtlich nicht auch die Arbeitszeit mit einbezieht, sondern sich lediglich auf einen Arbeitstag ohne Nacht- und Schichtarbeit meint. Die Kritik bezieht sich anderseits darauf – und das ist der harte Kern seiner Kritik – dass letztlich einzelne Belegschaften das Recht und die Macht haben sollen, über die Einführung von Nacht- und Schichtarbeit zu entscheiden. Meiner Meinung nach weist er sehr zu Recht darauf hin, wie sehr einzelne Belegschaften auf Grund der Konkurrenz erpressbar sind („ökonomische Notwendigkeit“). Ich halte dieses Argument für richtig, weil jede „Selbstbestimmung“ von Belegschaften im Kapitalismus durch die ökonomische Konkurrenz gebrochen wird. Solange die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bestehen und für den Markt produziert wird, lässt sich daran nichts ändern. „Selbstbestimmung“ bleibt unter diesen Voraussetzungen letztlich immer ein frommer Wunsch.


    Aus dem Kampf der sich entwickelnden Arbeiterbewegung um die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit zog Marx daher in Kapital Bd. 1 folgende Schlussfolgerung:


    „Zum "Schutz" gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen. An die Stelle des prunkvollen Katalogs der "unveräußerlichen Menschenrechte" tritt die bescheidne Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags, die "endlich klarmacht, wann die Zeit, die der Arbeiter verkauft, endet und wann die ihm selbst gehörige Zeit beginnt". Quantum mutatus ab illo! <Welch große Veränderung!>“
    http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_7


    Er rechnete also mit der verheerenden Wirkung der ökonomischen Konkurrenz, den „Sachzwängen“, die LohnarbeiterInnen dazu bringen, „durch freiwilligen Kontrakt“ langen Arbeitszeiten etc. zuzustimmen. Diese „freiwillige“ Zustimmung z.B. zu Überstunden etc. ist kapitalistischer Alltag, bestätigt sich immer wieder aufs Neue. Sofern sich „Kontrolle sozialer Produktion durch soziale Ein- und Vorsicht“ (Marx) im Kapitalismus durchsetzen lassen, erfordert das immer allgemeinverbindliche Regeln, Gesetze, die dem Kapital in seiner Bewegungsfreiheit Schranken setzen. Ich halte also Daniels Einwände für berechtigt und wir sollten diese Frage erneut diskutieren.


    Von Bedeutung ist das aus meiner Sicht auch für die Praxis genossenschaftlicher Betriebe im Kapitalismus. Je ungezügelter die Konkurrenz der Kapitale ihr Werk verrichten kann, desto mehr geraten solche Genossenschaften unter Druck, es gleich zu tun; sprich lange Arbeitszeiten, Nacht- und Schichtarbeit einzuführen etc. Nur wenn es auf gesellschaftlicher Ebene gelingt der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital Grenzen zu setzen, bleibt auch der Zwang zur „Selbstausbeutung“ in genossenschaftlichen Experimenten beschränkt.


    Betonen möchte ich an dieser Stelle eine Gemeinsamkeit mit Daniel und wohl der ganzen Proletarischen Plattform … und die bezieht sich auf die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung.
    In der Frage der Arbeitszeitforderung stimmen wir offensichtlich darin überein, dass eine Verbindung mit der Forderung nach vollem Lohnausgleich nicht sinnvoll ist.


    IV.
    Selbstverwaltung und Finanzierung der Sozialversicherungen
    (speziell Arbeitslosenversicherung)
    In der Frage der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen und ihrer Bedeutung sehe ich keinerlei Widersprüche. In der Frage der Finanzierung gibt es auf jeden Fall Diskussionsbedarf.
    Daniel plädiert offensichtlich dafür, dass alle Beiträge zu den Sozialversicherungen direkt von den Kapitalisten an die Kassen zu überweisen seien. Auf diese Weise sei es möglich, „die Frage der Höhe dieser Abgaben von vornherein als Sache der ganzen Klasse durchsichtig“ zu machen.
    Gegen die Finanzierung der Sozialversicherungen ausschließlich aus den ausbezahlten Löhnen (was natürlich voraussetzte, dass die bisher als „Arbeitgeberanteil“ ausgewiesenen Lohnbestandteile ebenfalls ausbezahlt würden) wendet er ein, dass bei „knappen Kassen“ es zum Streit kommen müsse zwischen jenen, die einzahlen und jenen, die Leistungen erhalten. Er bezieht das speziell auf die Arbeitslosenversicherung. Gegen diese Argumentation möchte ich folgendes einwenden:
    1. Auch „Arbeitgeberanteil“ an den Beiträgen zur Sozialversicherungs gehört zum Lohn. Die Kapitalisten zahlen auf jeden Fall 100% des Lohnes, egal in welcher Form Teile davon an die Sozialversicherungen abgeführt werden.
    2. Das Problem der „knappen Kassen“ stellt sich unabhängig davon, wie die Beiträge an Sozialversicherungen abgeführt werden. Wie voll oder leer die Kassen sein können, das hängt ab vom Umfang der Massenarbeitsosigkeit und davon, welche Lohnerhöhungen die LohnarbeiterInnen durchsetzen können. Wenn die Dringlichkeit einer vollen Kasse der Arbeitslosenversicherung am größten ist (infolge tiefer Wirtschaftskrise) wird die „Knappheit“ der Arbeitslosenversicherung ebenfalls am größten sein. Wie die LohnarbeiterInnen mit dem Problem umgehen, ist so oder so eine Frage des Klassenbewusstseins, speziell zunächst eine Frage von Solidarität und dann der Bereitschaft, den Kapitalismus in sozialer Revolution zu überwinden.
    3. Was die Frage der Durchsichtigkeit als „Sache der ganzen Klasse“ anbetrifft, so würde ich gerade umgekehrt argumentieren. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Frage der tatsächlichen Selbstverwaltung. Sie allein kann die Angelegenheit zu einer „Sache der ganzen Klasse“ machen. Je unabhängiger die Verwaltung der Sozialversicherungen von der Einflussnahme des Kapital organisiert ist, desto transparenter ist die Angelegenheit.
    Solange Lohnbestandteile noch als „Arbeitgeberanteile“ bezeichnet werden, ist damit ausgedrückt, dass eigentlich gar kein Anspruch darauf besteht, es sich eher um soziale Wohlfahrt des Staates handelt. Genauso gut könnte man den ganzen Lohn als „Arbeitgeberanteil“ an der Reproduktion der LohnarbeiterInnen bezeichnen. Erst wenn der ganze Lohn an die LohnarbeiterInnen ausbezahlt wird, können deren Beiträge zu den Sozialversicherungen als „Sache der ganzen Klasse“, nämlich der LohnarbeiterInnen durchsichtig werden. Solange „Arbeitgeber“ da etwas abführen, erscheint dieser Teil des Lohnes eher als eine „Sache der ganzen Klasse“ der „Arbeitgeber“, die vom Staat zu diesem „sozialen Verhalten“ genötigt werden. Aus meiner Sicht stärkt also die Beitragszahlung zu den Sozialversicherungen direkt durch die LohnarbeiterInnen die Selbstverwaltung und macht transparent, worum es sich dreht.


    V.
    Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
    Kurz und bündig:
    Ich halte Daniels Kritik für richtig, weil mit dieser Formulierung in der Tat das gängige Vorurteil bedient wird, als bekämen die LohnarbeiterInnen ihre Arbeit bezahlt. Dabei bedarf es eigentlich nur einer kleinen Korrektur, um dieses Missverständnis zu vermeiden. Also besser „für“ durch „bei“ ersetzen und so formulieren:
    Gleicher Lohn bei gleicher oder gleichartiger Arbeit.



    VI.
    Kommunalisierung und Demokratisierung
    Zu diesem Punkt gibt es - davon gehe ich aus - die größten Differenzen und/oder womöglich den größten Diskussions- und Klärungsbedarf.


    Daniel schreibt:
    „Wie unseren programmatischen Eckpunkten zu entnehmen ist, insbesondere deren viertem, halten wir von einer „Demokratisierung“, von der „Ausschöpfung der Demokratie“, wie wir das nennen, durchaus eine Menge. Zugleich wenden wir uns dort aber gegen eine „Verklärung demokratischer Herrschaft zum Endziel aller Emanzipation“ und verweisen darauf, dass noch die folgerichtigste, sozusagen allerdemokratischste Demokratie gleichwohl immer eine Herrschaft von Menschen über Menschen bleibt, mit einer klassenlosen Gesellschaft also nicht zusammenpasst. Die Aussage des Bochumer Programms, dass „Durch Demokratisierung … alle Gesellschaftsmitglieder … die unmittelbare Verantwortung und direkte Kontrolle über Gemeinschaftsaufgaben [übernehmen]“, können wir daher nicht unterschreiben. Dagegen spricht schon auf den ersten Blick das allgemeine Prinzip aller demokratischen Verfahren, dass die – wie auch immer zusammenkommende, wie auch immer festzustellende – Mehrheit entscheidet, eine Minderheit dabei also regelmäßig unterliegt.“


    Auch mir liegt es fern, „demokratische Herrschaft zum Endziel aller Emanzipation“ zu verklären. So verstehe ich auch das Bochumer Programm nicht. Demokratie bedeutet schließlich nicht Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, aber sie ist die politische Form, in der sich soziale Emanzipation vollziehen kann. Zwischen der politischen Form und dem Inhalt sozialer Emanzipation gibt es allerdings einen notwendigen Zusammenhang. Die „allerdemokratischste Demokratie“ ist nicht identisch mit der klassenlosen Gesellschaft, aber ohne eine solche Demokratie gibt es keinen Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Die „allerdemokratischste Demokratie“ besteht für mich darin, dass die große Masse der Lohnabhängigen „die unmittelbare Verantwortung und direkte Kontrolle über Gemeinschaftsaufgaben“ (ich ergänze: in den Kommunen) übernehmen. Ich sehe keinen anderen Weg zur Zurücknahme der vom Staat wahrgenommen „öffentlichen Aufgaben“ in und durch die Gesellschaft.


    Daniel schreibt weiter:
    „Demokratie ist eine zivilisierte Methode nicht zur Verständigung über gemeinsame Angelegenheiten (es entschiede dann das Urteil in der Sache und nicht die schiere Anhäufung von Meinungen), sondern um soziale Kräfte aneinander zu messen, die in der Sache unversöhnlich, weil ihre Interessen in den sie gemeinsam betreffenden Angelegenheiten miteinander unvereinbar sind. Das Proletariat braucht die Demokratie, um sich Raum zur Verständigung in eigener Sache zu verschaffen. Es braucht die Freiheit, sich in scharfer Abgrenzung von jeglichem bürgerlichen Interesse (sei es das des Arbeitsplätze gewährenden Standorts oder das der den Kapitalismus verfluchenden Krauter, Freelancer etc. pp,) zusammenzufinden. Und allein vom Boden eines solchermaßen wiedergewonnenen, wieder zum Bewusstsein gekommenen Klassenzusammenhangs der ganz auf eigene Rechnung ihre Emanzipation betreibenden Lohnabhängigkeit aus erhielte ein Programm der „Kommunalisierung und Demokratisierung“, wie es die Bochumer formulieren, ein Programm des „wir hier unten gegen die da oben“, seinen bestimmten Sinn: als ein Programm, womit das Proletariat die kleinbürgerliche Demokratie, die keine Klassen kennt, auf seine Seite zieht.“


    Die Bedeutung von Demokratie beschränkt sich aus meiner Sicht nicht auf den Raum, den sie für Verständigung unter Lohnabhängigen im Klassenkampf schafft! Das, was im Bochumer Programm unter „Kommunalisierung und Demokratisierung“ zusammengefasst ist, geht über den „Raum zur Verständigung in eigener Sache“ hinaus. Dafür würden Forderungen nach Meinungs-, Organisations-, Streikfreiheit etc. reichen. Die Ziele, die wir formuliert haben, betreffen nach unserem Verständnis durchaus „die eigene Sache“ der LohnarbeiterInnen selbst, weil diese nicht nur in kapitalistischen Betrieben unter mehr oder weniger ruinösen Bedingungen gegen Lohn unter fremdem Kommando arbeiten, sondern danach sich an ihrem Wohnort unter nicht weniger fremd bestimmten Bedingungen reproduzieren. Zu diesem Teil ihres Lebens gehören die Wohnung, Krabbelstuben, Kindergärten, Schulen usw. usf. Teils sind diese (Versorgungs-)Einrichtungen in „öffentlicher Hand“, teils private Dienstleistungen. (Der Logik des Kapitals folgend wird die Tendenz zur Privatisierung sich immer wieder als dominant erweisen, sofern sie nicht auf massenhaften Widerstand trifft). Sich über gemeinsame Ziele/Forderungen in diesen Fragen zu verständigen, gehört aus meiner Sicht unbedingt zum „Parteibildungsprozess“ der „ihre Emanzipation betreibenden“ LohnarbeiterInnen.


    In etlichen Kommunen gibt es Widerstand etwa gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, gegen die diversen „Sparprogramme“ zur Reduzierung der Schuldenberge, gegen verschwenderische Großprojekte etc. Das sind Initiativen und Bewegungen, die sich in Entscheidungsprozesse der kommunalen Räte und Verwaltungen einmischen, also demokratische Initiativen und Bewegungen. Formal orientieren sie oft auf „Bürgerentscheide“. Die Frage der Demokratie ist also nicht nur eine Frage des Raums für Verständigung im Klassenkampf, sondern auch eine Frage der Entscheidungsmacht über „öffentliche Angelegenheiten“. Als solche ist sie auch nach einer Revolution von Bedeutung. Auch wenn die „öffentliche Gewalt“ ihren politschen Charakter, also ihren Klassencharakter, verloren hat, gibt es noch „öffentliche Angelegenheiten“, die gemeinschaftlich zu regeln sind. Das muss und kann nur geschehen durch quantitative Erweiterung der Demokratie ... vielleicht bis zu dem Punkt, an dem nur noch Konsensentscheidungen gefällt werden und keine Minderheit sich mehr einer Mehrheit beugen muss. ;-) Aus meiner Sicht sind die Kommunen der entscheidende Ort, an dem diese Erweiterung der Demokratie geschehen muss und kann. Ohne Bruch mit der bestehenden staatlichen Ordnung wird das nicht funktionieren. Womit ich beim letzten Punkt wäre.


    Daniel schreibt:
    „Auf der anderen Seite scheint es mir allzu bescheiden, die Kommunalisierung nur als Verlagerung „möglichst vieler gesellschaftlicher Aufgaben“ auf die lokale Ebene zu verstehen. Bei Marx jedenfalls ist der Begriff sehr viel weiter gefasst, nämlich als Demontage des verselbständigten, selbstherrlichen Staatsapparats, seine Rücknahme ins Gemeinwesen ..., das auch damals längst nicht mehr die bloße Summe einer Vielzahl nur lose zusammenhängender lokaler Gemeinden war, sondern an sich selbst „ein mächtiger Faktor der gesellschaftlichen Produktion“[8]. Die erste Voraussetzung dafür war seinerzeit im Frankreich der Kommune die Beseitigung aller „bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht“[9], allen voran des stehenden Heeres. Und auch hier und heute wäre jede „Kommunalisierung“ bloßer Zierrat, die nicht zuerst solche Machtorgane wie Bundeswehr und ‑polizei ins Visier nähme. Darüber hinaus wäre in Deutschland der Umstand zu berücksichtigen, dass beträchtliche Teile des Staatsapparats, beispielsweise der größte Teil des Polizeiwesens, weil in der Hoheit der Bundesländer, gleich in sechzehnfacher Ausfertigung vorkommen. Sechzehn ziemlich komplette Ansammlungen von Ministerialbürokratien mit zahlreichen angeschlossenen Behörden – das macht eine schöne Menge Extra an Staat, die zweifellos auch jede Menge Extra an Geld verschlingt. Eine Last, die insbesondere die Kommunen gehörig drückt. Gar nicht zu reden davon, dass just diese Länderbürokratien es sind, die in Bundesdeutschland die Kommunen am Gängelband halten[10] (und übrigens auch das Bildungswesen kontrollieren). Kommunalisierung ohne die heilige Kuh des deutschen Föderalismus zu schlachten – das geht hierzulande gar nicht.“


    Zum letzten Punkt kann ich wiederum nur zustimmen. Wenn es mit Kommunalisierung was werden soll, dann muss der deutsche Föderalismusmus fallen. Darüber sollten wir unbedingt nochmals diskutieren.
    Was ich wiederum nicht verstehe, warum die Kommunalisierung „zuerst solche Machtorgane wie Bundeswehr und Polizei ins Visier“ nehmen soll, sie ansonsten „bloßer Zierrat“ wäre. Was soll das heißen, dass wir zuallerst die Machtfrage stellen müssen, bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hat, bevor man sich über emanzipatorische Ziele verständigt hat?
    Historisch ist das natürlich richtig: der Versuch der „Kommunalisierung“ in Frankreich 1871 beruhte auf der Macht der Nationalgarde, auf bewaffneten LohnarbeiterInnen. Gestützt auf diese Macht bildete sich die Kommune von Paris, wurde die Skizze einer Kommunalverfassung erarbeitet, Dekrete erlassen, wie das Nachtarbeitverbot für Bäcker etc. Die Pariser Kommune war Produkt einer spontanen Entwicklung, weder programmatisch ersonnen noch in langen politischen Auseinandersetzungen vorbereitet.
    Mit dem Bochumer Programm haben wir den Versuch unternommen eine „revolutionäres Minimalprogramm“ zu formulieren, das - unter den erheblich veränderten Bedingungen eines hochentwickelten Kapitalismus mit bürgerlicher Demokratie - Grundlage und Orientierung bieten soll für einen langwierigen politischen Kampf um „Kommunalisierung und Demokratisierung“, für die „Selbstregierung der Kommunen“. In einem solchen Programm vor allem Bundeswehr und Polizei ins Visier zu nehmen, dass würde bedeuten, dass das Programm untauglich wäre für die anstehenden Aufgaben. Zu allererst diese Unterdrückungsorgane der Bourgeoisie ins Visier zu nehmen, dass würde bedeuten, dass diese Organe aktuell das wichtigste Hindernis für die Entwicklung einer selbständigen politischen Bewegung der LohnarbeiterInnen ist. Sind sie aber zweifellos nicht. Oder es würde bedeuten, dass heute bereits der Bruch mit den Verhältnissen unmittelbar anstünde. Das ist auch nicht der Fall.


    Soweit erstmal fürs erste von meiner Seite. Bin gespannt, was die anderen UnterzeichnerInnen des Bochumer Programms zu Daniels Kritik und meiner Stellungnahme zu sagen haben.


    Viele Grüße
    Robert


    p.s. Was mir noch eingefallen ist, beim Lesen von Daniels Kritik:
    Das Bochum Programm ist bewusst kurz gehalten und möglichst „populär“ formuliert, weil es ein Programm für politischen Praxis sein soll und kein theoretisches Grundsatzprogramm. Trotzdem muss es sich natürlich der theoretischen Kritik stellen, die eben auch populäre Formulierungen überprüft und aufs Korn nimmt. Also sollten wir auch bereit sein diese zu überprüfen.


    Link zum alten Forum:
    http://marx-forum.de/diskussion/forum_entry.php?id=8003&page=3&category=0&order=time

  • Newly created posts will remain inaccessible for others until approved by a moderator.