Das Industriekapital ein Opfer von Gier und Maßlosigkeit der Banken und des Handelskapitals?

  • verfasst von Robert Schlosser(R), 24.09.2012, 16:03


    Nachfolgend habe ich ein paar Thesen aufgeschrieben, die möglicher Weise zur Diskussion anregen. Das knüpft wieder an an die hier geführte Diskussion über die Kontroverse Sandleben/Zeise, über die „Herrschaft des Finanzkapitals“. Das Thema ist für mich noch lange nicht durch. :-)


    I.
    Folgt man einer bestimmten Sorte von linker Kapitalismuskritik, dann gilt es, die „Herrschaft des Finanzkapitals“ über die „Realwirtschaft“ zu brechen. Dies verlange Kontrolle des Finanzkapitals. Was die Lohnabhängigen davon hätten?
    Man stellt in Aussicht, dass solch schwere Krisen, wie die von 2008/2009 nicht mehr stattfinden und folglich die verheerenden sozialen Folgen vermieden werden könnten. Die „Finanzkrise“ selbst wird auf die „Herrschaft des Finanzkapitals“ über die „Realwirtschaft“ zurück geführt, auf Maßlosigkeit und Gier des Finanzkapitals.


    Solche Art Kapitalismuskritik lässt sich weiter treiben. Schaut man sich die „Realwirtschaft“ genauer an, dann lassen sich wieder unterschiedliche Sorten von Kapital ausmachen: vor allem das Handels- und das Industriekapital. So, wie das Finanzkapital der „Realwirtschaft“ im Nacken sitzt, so sitzt das Handelskapital dem Industriekapital innerhalb der „Realwirtschaft“ im Nacken. In bestimmten Branchen lässt sich konkret zeigen, wie das große Handelskapital den zuliefernden Industriekapitalen Lieferbedingungen aufzwingt, die in der Produktion maßlose Ausbeutung und Umweltzerstörung nach sich ziehen.


    II.
    Zum Beispiel Bekleidungsindustrie:
    „Entgegen der kapitalintensiven Produktion in der Textilindustrie ist die Bekleidungsindustrie durch eine generell hohe Arbeitsintensität gekennzeichnet. Die Möglichkeiten der Automatisierung sind durch die so genannte „biegeschlaffe“ Beschaffenheit der zu verarbeitenden textilen Vormaterialien, die unterschiedlichen Eigenschaften der Oberflächen verschiedener Textilien sowie die teilweise kleinen Losgrößen, die durch die Modevielfalt bedingt sind, stark eingeschränkt. Bereits in den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts waren hier die Grenzen der Automatisierung der bekleidungsindustriellen Produktion erreicht, sodass die Auslagerung der arbeitsintensiven Konfektionierung in das lohnkostengünstigere Ausland einsetzte. Bot die westdeutsche Bekleidungsindustrie in der Bundesrepublik 1973 noch 360.000 Beschäftigten einen Arbeitsplatz, waren im Jahr 2002 in Gesamtdeutschland nur noch 55.000 Personen beschäftigt, und es kann davon ausgegangen werden, dass weitere 250.000 Beschäftigte im Ausland auf der Lohnliste deutscher Unternehmen stehen. Diese Entwicklung macht die massive Produktionsverlagerung der lohnintensiven Teile der Bekleidungsindustrie, d.h. die eigentliche Produktion, in Niedriglohnländer seit Anfang der 70er Jahre deutlich.“
    (Matthias Grüger, „Die Vertikalisierung der Textilwirtschaft durch Handelsmarken- Produktdesignteams, Shop-in-Shop- und Concession-Konzepte , Überlegungen zur Variation der Arbeitsteilung zwischen Bekleidungsindustrie und Handel “, Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln 2007, http://kups.ub.uni-koeln.de/2141/)


    Vormarsch der Giganten
    „Entwicklungsländer haben seit den 1950er Jahren die arbeitsintensive Textil- und Bekleidungsindus­trie als Einstieg in eine exportorientierte, nachholende Industrialisierung genutzt. Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) beschäftigte diese Industrie 2004 knapp 30 Millionen Menschen weltweit. Die Zahl der informell Beschäftigten dürfte deutlich darüber liegen. ...
    In der EU sind noch rund 176.000 Unternehmen in dieser Branche tätig, in China etwa 50.000. Doch sie stehen in wachsendem Maße unter dem Druck und dem Preisdiktat globaler Handelshäuser und -ketten. Einige von ihnen wie Adidas haben früher selbst Kleidung hergestellt, organisieren jetzt aber nur noch als beherrschende Glieder ein globales Produktionsnetzwerk. Wo, was, wie viel und zu welchem Preis produziert wird, bestimmt eine immer kleinere Zahl solcher großer Anbieter in den Hauptabsatzmärkten. Sie sind die wirklichen Profiteure der Liberalisierung. Ihr Handlungsspielraum hat sich enorm vergrößert. Sie vergeben ihre Aufträge dorthin, wo der Preis und die Qualität stimmen.
    Da die Hauptabsatzmärkte gesättigt sind und deshalb immer schnellere Modewechsel erforderlich sind, um mehr zu verkaufen, verkürzen sich auch die Lieferzeiten. Das wiederum führt in den Lieferländern zu einer zunehmenden Verschränkung von formeller und informeller Produktion: Die direkten Lieferanten fangen Auftragsspitzen mit Hilfe von Sublieferanten auf, die zum Teil formell, zum Teil informell in kleinen Klitschen und in Heimarbeit arbeiten. Dicken spricht von einer händlergesteuerten Lieferkette im Unterschied zu produzentengesteuerten Lieferketten wie der Automobilindustrie.
    China beliefert die ganze Welt
    Die Liberalisierung im Textil- und Bekleidungshandel hat die Welthandelsströme umgeleitet. Sie konzentrieren sich zunehmend auf Asien, wie der WTO-Vergleich der zehn größten Bekleidungs-Exporteure zeigt. 2007 wuchs der Wert des Weltbekleidungshandels um 12 Prozent auf 345 Milliarden US-Dollar (Textilien: 238 Milliarden US-Dollar), der Wert der chinesischen Bekleidungsexporte wuchs sogar um 21 Prozent auf 115 Milliarden US-Dollar. Der chinesische Anteil am Welttextilmarkt ist von 13,5 Prozent im Jahr 2002 auf 23,5 Prozent im Jahr 2007 gestiegen.
    China hat also, anders als vor 2005 vermutet, noch nicht die Hälfte des globalen Textil- und Bekleidungsmarktes erobert. Doch zeigen die Entwicklungen im EU-Markt 2008 und im US-Markt im ersten Quartal 2009, dass das chinesische Wachstumspotenzial noch nicht ausgeschöpft ist: Der Anteil Chinas an den Textil- und Bekleidungseinfuhren Deutschlands ist von Januar bis September 2008 im Vergleich zum Vorjahr von 24 auf 26,2 Prozent gestiegen. China hatte bereits zwischen 2004 und 2007 enorme Wachstumsraten im EU-Markt verzeichnet: Im Bereich Textil erhöhten sich die Einfuhren von 18,5 Prozent auf 26 Prozent, im Bekleidungssektor von 25,6 Prozent auf 37,7 Prozent. Für die USA gilt seit Januar 2009 vergleichbares: Die chinesischen Importe stiegen im ersten Quartal 2009 um bis zu 36 Prozent. Durch die Wirtschaftskrise schrumpften zwar die Textil- und Bekleidungsexporte Chinas Anfang 2009 deutlich (das chinesische Konjunkturprogramm federte mit Hilfen für die Branche den Einbruch ab, was von der US-amerikanischen Textil- und Bekleidungsindustrie bereits als Exportsubventionierung angeprangert wurde). Doch hat China weiterhin die besten Karten auf diesem Markt. Das zeigen auch Zahlen für Afrika: Bis Mitte 2006 ist der chinesische Anteil an den Textil- und Bekleidungsimporten Südafrikas auf 75 Prozent gestiegen. ...
    Die Discounter sind auf dem Vormarsch und gehören zu den führenden Anbietern von Textilien und Bekleidung. Aldi wird bereits seit 1987 auf der Liste der größten Anbieter geführt; mittlerweile sind Lidl, Tchibo, Tengelmann (mit Kik und Plus, wobei Plus seit Ende 2008 zu Edeka gehört) und andere nachgerückt. Insbesondere der Discounter Kik macht seit einigen Jahren den „alten" Discountern Konkurrenz ....
    Warum dieser Trend so bemerkenswert ist, formuliert eine neue Studie der internationalen Kampagne für Saubere Kleidung in aller Deutlichkeit: Das Spezielle an Wal-Mart, Tesco, Carrefour, Lidl und Aldi „ist ihre Größe: ihre globale Reichweite und ihre großen Marktanteile in vielen Ländern. Diese Giganten erledigen ihr Geschäft, indem sie ihre Zulieferer dominieren und sie dazu bringen, niedrigere Preise anzubieten." Der Studie zufolge tragen die Arbeiterinnen und ihre Familien die Kosten dafür, dass die Giganten ihre Bekleidungslieferanten auf niedrigere Preise und schnellere Umschlagszeiten drängen ....
    Die „Discounterisierung" des Marktes verschärft die Preiskonkurrenz und somit die Kostensenkung in der Produktion - zu Lasten der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Konsumenten in den Hauptabsatzmärkten profitieren hingegen von fallenden Preisen infolge der „Discounterisierung". Der Umsatz mit Textilien und Bekleidung in Deutschland ist zwischen 1995 und 2007 von 65 Milliarden Euro auf 60,8 Milliarden Euro gesunken. Entsprechend ist der Anteil der Bekleidung an den gesamten Konsumausgaben der Haushalte gesunken. Weniger als jeder zwanzigste Euro des privaten Konsums wird für Bekleidung ausgegeben - mit leicht fallender Tendenz in den vergangenen Jahren.
    Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise wird den Wettlauf um Kostensenkung und Konzentration im internationalen Textil- und Bekleidungshandel vermutlich verschärfen.“
    (http://www.welt-sichten.org/ar…rmarsch-der-giganten.html)


    III.
    Armes Industriekapital! Bedrängt durch Finanzkapital und Handelskapital! Um „gute (Lohn-) Arbeit“ zu bekommen, muss nicht nur die Macht des Finanzkapitals beschnitten werden, sondern auch die Macht des Handelskapitals. Die eine Kontrolle verhindert dann die Krisen, die andere elende Arbeitsbedingungen und Umweltzerstörung. Alles könnte so schön sein in der kapitalistischen Marktwirtschaft, wenn man nur Gier und Maßlosigkeit von Banken und Handel zügeln würde!


    Ist das Kapital erstmal sauber unterteilt in die Herrschaftsbereiche verschiedener Sorten von Kapital, der allgemeine Begriff vom Kapital und seiner Reproduktion aufgelöscht, dann bleibt vom Verständnis und der Kritik der kapitalistischen Produktionsweise selbst nicht mehr viel übrig. Der Heißhunger nach unbezahlter Mehrarbeit erscheint dann als das originäre und zu korrigierende Ergebnis des zinstragenden Kapitals und des Handelskapitals.


    Schaut man sich die Sache unter Berücksichtigung der Mehrwerttheorie an, dann stellen sich die Zusammenhänge anders dar. Finanzkapital wie Handelskapital erscheinen dann bloß als verselbständigte Funktionen innerhalb des Reproduktionsprozesses von produktivem Kapital, also innerhalb der Produktion und Realisierung von Mehrwert. (Vergl. Kapital Bd. II „Die Metamorphosen des Kapitals und ihr Kreislauf“) Als zu besonderen Kapitalen verselbständigte Funktionen des produktiven Kapitals existieren Finanzkapital und Handelskapital nur, indem sie einen Teil des Mehrwerts für sich realisieren und zugleich einen effektiven Beitrag leisten zur erweiterten Reproduktion des Gesamtkapitals. Ihren Profit realisieren sie in den besonderen Kreisläufen des Geld- und Warenkapitals in Form von Zins und kommerziellem Profit als verwandelten Formen des Mehrwerts, als Anteil an diesem Mehrwert.
    In diesen Verselbständigen des Zusammenhörigen (das produktive Kapital muss innerhalb seines Reproduktionsprozesses abwechselnd bestimmte Formen annehmen und wieder abstreifen) liegen zugleich die Möglichkeiten der Störung, in der sich die Einheit des Zusammengehörigen sozusagen gewaltsam Geltung verschafft.)
    Als Spezialisten für Warenabsatz, Vermarktung, und für die Verwandlung von Geld in Leihkapital scheint Banken und Handelsketten die „Herrschaft“ über das Industriekapital geradezu in den Schoß zu fallen, können sie doch einzelnen Industriekapitalen Bedingungen diktieren. Aus Sicht der angesprochenen Kapitalismuskritik scheint demzufolge aller Druck auf die Lohnabhängigen, die Unsicherheit und Prekarität ihrer Existenz, von großen Handelsketten und Banken auszugehen. Tatsächlich bleibt Handelskapital und Bankkapital vollständig abhängig von der Produktion des Mehrwerts und ihr Druck, den sie innerhalb der Konkurrenz auf das Industriekapital ausüben ist nichts, als der konkrete Ausdruck des Strebens nach maximaler Verwertung von Wert, das den Gesamtreproduktionsprozess bestimmt.


    Sofern das Bankkapital an die Vergabe von Krediten Bedingungen knüpfen kann, sofern das Handelskapital an den Ankauf von Waren Bedingungen knüpfen kann, erscheinen beide als Herrscher über das Mehrwert erzeugende Industriekapital. Sofern das Bankkapital seinen Profit als Zins realisiert, sofern das Handelskapital seinen Profit als kommerziellen Profit realisiert, bleiben beide jedoch vollständig abhängig von der kapitalistischen Warenproduktion selbst und von den Einkommen (Profit und Lohn), die innerhalb dieser Warenproduktion entstehen.
    Unterstellen wir mal, dass die vielen kleinen Hausbesitzer in den USA ab 2007 nicht zahlungsunfähig, sondern zahlungsunwillig gegenüber den Banken gewesen sind. An der ökonomischen Wirkung hätte das ja nichts geändert, weil die „Finanzkrise“ auch dann mit den gleichen Resultaten ausgebrochen wäre. Was hätten unsere Macht- und Herrschaftstheoretiker dann erklärt? Die „Herrschaft der kleinen Leute“ über das Finanzkapital? Dass man die „Herrschaft der kleinen Leute“ beenden und sie sozial kontrollieren muss? Dass hinter der „Herrschaft des Finanzkapitals“ die „Herrschaft der kleinen Leute“ steht?


    In der ständigen Neuzusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals durch Entwicklung besonders der internationalen gesellschaftlichen Arbeitsteilung erkennen und kritisieren manche linken Kritiker nur noch die Herrschaft eines Kapitals über ein anderes Kapital. Das praktische Bestreben geht folgerichtig dahin, die Herrschaft von Kapital über Kapital zu brechen oder einzuschränken. Das Bestreben nach sozialer Emanzipation bleibt dagegen stecken in Forderungen nach UmFairTeilen und FairTrade.


    IV.
    In der letzten LunaPark21 kommentiert W. Wolf eine Statistik („Global 500“) des US-Wirtschaftsblattes „Fortune“, die Umsatz und Profite der 500 größten Konzerne auf der Welt (sortiert nach Branchen) 1999 und 2011 vergleicht. Er stellt u.a. fest:
    „Überraschend ist die Tatsache, dass der Finanzsektor zwar auch erheblich wuchs, jedoch unterproportional wuchs und damit deutlich an Gewicht verlor – und zwar beim Anteil an den addierten Umsätzen ebenso wie beim Anteil an den Profiten.“
    Seine Überraschung hält jedoch nicht lange an:
    „Nun sprechen alle Anzeichen für das Gegenteil: Der Finanzsektor wuchs in der genannten Periode überproportional zum sonstigen Wachstum. Des Rätsels Lösung: Das überproportionale Wachstum der „Finanzindustrie“ fand vor allem in den Bereichen statt, die von dieser Statistik nicht erfasst werden: bei den Hedge Fonds, den Private Equity Gesellschaften, den sonstigen Fonds und den Schattenbanken aller Art.“
    Damit ist die Welt des Autors wieder in Ordnung und er kann abschließend feststellen:
    „Eine Alternative ist notwendiger denn je – und diese Alternative bekommen wir nicht, ohne die real herrschende Wirtschaftsweise grundsätzlich in Frage zu stellen, nicht ohne die Eigentumsfrage bei den Konzernen der Global 500 und bei den hinter diesen stehenden Finanzkonzernen zu stellen.“
    (lunapark21, Heft 19, S. 13ff)
    Zur erkannten Weltordnung des Autors gehört eben, das „hinter“ den großen Konzernen der kapitalistischen Warenproduktion (Öl/Bergbau/Rohstoffe, Autoindustrie, Chemie, Pharma, Stahl/Maschinenbau, Flugzeugbau, Rüstung, Nahrung/Genuss, Elektro/Elektronik/PC/Software, Bau, Telekommunikation, Energie usw.) noch etwas steht – oder soll man sagen „steckt“?: die Finanzkonzerne. Warum die Finanzkonzerne angeblich hinter den Konzernen der „Realwirtschaft“ stehen und nicht die Konzerne der „Realwirtschaft“ hinter den Finanzkonzernen, das erklärt der Autor in diesem Artikel nicht. Geht man davon aus, dass der Zins nur Form und Teil des Mehrwerts ist, dann stehen die Konzerne der „Realwirtschaft“ hinter den Finanzkonzernen. Lässt man sich von den Verselbständigungen von Funktionen des produktiven Kapitals blenden, dann stehen die Finanzkonzerne hinter den Konzernen der „Realwirtschaft.
    Ferner: Wenn man eine andere „Wirtschaftsweise“ will, dann reicht es nicht, die bestehende Wirtschaftsweise und die Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen! (Wer soll da denn wem die Fragen stellen?) Die Fragen nach einer anderen „Wirtschaftsweise“ und nach anderen Eigentumsverhältnissen sind objektiv durch die sozialen und ökologischen Folgen der kapitalistischen Produktionsweise gestellt. Man muss sie subjektiv beantworten und man muss speziell die Frage nach den Eigentumsverhältnissen nicht nur beantworten für die „Konzerne der Global 500“ und der angeblich hinter ihnen stehenden Finanzkonzerne. Das greift erheblich zu kurz und legt den Verdacht nahe, dass diese Konzerne verstaatlicht werden sollen, was eine Aneignung durch die unmittelbaren ProduzentInnen eher ausschließt. Allein in der Aneignung der gegenständlichen Bedingungen ihrer Reproduktion durch die unmittelbaren ProduzentInnen liegt die Perspektive einer alternativen „Wirtschaftsweise“ und der sozialen Emanzipation. Wenn eine solche Perspektive heute unter den LohnarbeiterInnen nicht mehrheitsfähig ist, dann ist das kein Grund, sich nicht um die Beantwortung der objektiv aufgeworfenen Fragen zu kümmern, oder sie im Sinne von „Staatssozialismus“, „Sozialstaat“ etc. zu beantworten.


    Abschließend:
    Die überwältigende Mehrheit der LohnarbeiterInnen leistet weltweit ihre unbezahlte Mehrarbeit in der „Realwirtschaft“. Die angeblich „dahinter“ stehende „Finanzindustrie“ beschäftigt nur einen kleinen Bruchteil davon. Der ständige Fokus auf diese „Finanzindustrie“, ihre Umsätze und Gewinne mit fiktivem Kapital – so groß sie auch sein mögen, so bedeutend dieses fiktive Kapital auch für die Reproduktion des Gesamtkapitals geworden sein mag – desorientiert letztlich jeden sozialen Widerstand, weil die soziale Emanzipation (Selbstbefreiung!) der großen Masse der LohnarbeiterInnen nicht einmal mehr zum Thema gemacht werden kann. Die hervorgehobene Kritik am Finanzkapital endet immer in einer Reform des Systems der Lohnarbeit mit Hilfe politischer Macht. Denn wie sollte die überwältigende Mehrheit der LohnarbeiterInnen weiter LohnarbeiterInnen der „Realwirtschaft“ bleiben und das Finanzkapital kontrollieren? Die Antwort ist klar: mit Hilfe des Staates, mit Hilfe von Stellvertretern, Politikern, die das Finanzkapital im Interesse der LohnarbeiterInnen kontrollieren und für UmFairTeilung sorgen.
    Die Macht, die großen Banken und Handelsketten zugewachsen ist, ist ein notwendiges Produkt der sich immer weiter ausdifferenzierenden kapitalistischen Produktionsweise (gesellschaftliche Arbeitsteilung), sie ist ein notwendiges Produkt der Entwicklung von Mehrwertproduktion selbst und trägt dazu bei, die Aneignung unbezahlter Mehrarbeit zu forcieren. Sie als zu korrigierende „Fehlentwicklung“ misszuverstehen, bedeutet, den Widerstand gegen das Kapital auf eine sozialstaatliche Reform und Regulation zu orientieren und sich von der sozialen Emanzipation zu verabschieden.


    Robert Schlosser


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