Der Sozialstaat ist der ganze Stolz der bürgerlichen Demokraten. Im jährlichen Datenreport des Statistischen Bundesamtes, aus dem die hier aufgeführten Zahlen stammen, heißt es: „Eine der Grundlagen der Akzeptanz der Demokratie in Deutschland ist der Sozialstaat.“ (2006, 644) Und einige Seiten weiter: „Der Sozialstaat ist eine der Quellen der Legitimität der Demokratie in Deutschland.“ (2006, 648).
Das bedeutet für radikale Linke: So lange sie den Sozialstaat nicht wirksam kritisieren können, können sie die kapitalistische Gesellschaft nicht wirksam kritisieren.
Was ist der Sozialstaat? „Als Kern des bundesrepublikanischen Sozialstaats wird die Absicherung der Bürger bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, im Alter und in Notsituationen bezeichnet.“ (2006, 648)
Arbeitslosigkeit ist ein Lebensrisiko, das nur im Kapitalismus existiert.
Zugegeben, Not, Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Alter gab es zu allen Zeiten, aber in vorkapitalistischer Zeit haben die (Groß)Familien diese Risiken getragen. Grundlage dieser Familien war eigenes Eigentum. Indem der Kapitalismus die kleinen Eigentümer ruinierte, entzog er den alten Familienstrukturen die Basis für die Versorgung der Armen, Kranken und Alten.
Der Sozialstaat ist keine Wohltat, sondern eine bürokratische Lösung für Probleme, die erst durch den Kapitalismus geschaffen wurden.
Der Sozialstaat ist keine Wohltat, weil er keine Geschenke verteilt, sondern Leistungen bürokratisch verwaltet und verteilt, für die die Versicherten gezahlt haben.
In der folgenden Grafik sind die Leistungen des Sozialstaats und die wichtigsten Geldquellen gegenübergestellt:
Folgendes fällt daran auf:
1. Was im offiziellen „Sozialbudget“ der Bundesregierungen auftaucht, ist mit allen möglichen Leistungen aufgebläht, die wir niemals unter „Sozialleistungen“ rechnen würden.
Fangen wir oben an: Steuern, auf die der Staat z.B. durch Ehegattensplitting verzichtet, werden hier als „Sozialleistung“ aufgeführt. Da wird als „Leistung“ gerechnet, dass das Finanzamt nicht einen noch höheren Steuerbescheid ausstellt. Das ist Bürokratenlogik.
Alle Maßnahmen der „Familienförderung“ tauchen hier als „Sozialleistung“ auf, darunter die „Küchenprämie“, die Mütter bekommen, die ihre Kinder nicht in den Hort schicken. Unterstützungszahlungen an Landwirte und Beamte werden hier ebenso eingerechnet wie Kriegsopferentschädigungen.
Überflüssigerweise tauchen im regierungsamtlichen Sozialbudget auch die Betriebsrenten auf, die ohne Einschaltung des Staates auf Unternehmensebene zwischen Kapital und Lohnarbeit vereinbart werden.
2. Die Regierungsstatistik rechnete im Jahr 2008 rund 755 Mrd. Euro zum „Sozialbudget“ (Wenn diese Zahl um Doppelzählungen etc konsolidiert wird, bleiben noch 723,4 Mrd Euro).
Vorsichtig gerechnet, kommt man vielleicht auf 550 Mrd. Euro Sozialleistungen im Jahr - immer noch eine beträchtliche Summe. Wer trägt zu dieser Summe bei?
3. Betrachten wir die Einnahmenseite:
Die gesetzlichen Sozialabgaben der Lohnarbeiter machten 2008 153,6 Mrd. Euro. Dazu kommen noch 162,9 Mrd durch die Arbeitgeberbeiträge. Macht zusammen 316,5 Mrd Euro.
Hinzu kommen freiwillige Versicherungsbeiträge der Lohnarbeiter von 6,1 Mrd. und (mehr oder minder) freiwillige Versicherungskosten der Kapitalisten auf Betriebsebene (Beiträge zur Unfallversicherung und zu den Betriebsrenten etc.) von 69,8 Mrd. Euro. Damit liegen wir bei knapp 400 Mrd Euro, die aus Versicherungsbeiträgen des Lohns finanziert werden. Denn selbstverständlich und völlig zu Recht buchen die Kapitalisten ihre Arbeitgeberbeiträge für die Sozialkassen und betrieblichen Rentenkassen zu den Lohnkosten. Die Sozialleistungen werden zu rund drei Viertel aus Versicherungsbeiträgen finanziert.
Rechnen wir noch die Lohnsteuern hinzu, dann wird das (bereinigte) Sozialbudget zu mehr als 100 Prozent aus dem Lohn finanziert.
4. Und wer bezahlt den Lohn? Natürlich die Kapitalisten. In seiner Kritik der politischen Ökonomie des Kapitals schildert Marx wie sich „Geldbesitzer“ und „Arbeitskraftbesitzer“ auf dem Arbeitsmarkt gegenüberstehen. Die Kapitalisten zahlen den gesamten Lohn, und damit zahlen sie auch alle Abgaben und alle Steuern, die aus dem Lohn bezahlt werden.
Soweit die Lohnarbeiter Ausgaben aus dem Nettolohn bestreiten, kann man sagen: Das bezahlen die Lohnarbeiter selbst. Aber die Bruttobestandteile des Lohns bekommen sie gar nicht in die Hände. Die Lohnarbeiter haben weder Einfluss darauf, wie hoch diese Lohnbestandteile sind, noch haben sie Einfluss darauf, was damit gemacht wird. Deshalb ist es falsch, zu denken, die Lohnarbeiter würden den Sozialstaat finanzieren. Der Sozialstaat wird von den Kapitalisten finanziert. Der Sozialstaat ist eine kapitalistische Einrichtung. Das ist die ungeschminkte Wahrheit, die nicht allen Linken schmecken wird. Diese Wahrheit wird vor allem den Linken nicht schmecken, die bei allem und jedem fordern: „Die Kapitalisten sollen zahlen!“ Wer von den Kapitalisten etwas fordert, das sie tagtäglich tun, dessen Kapitalismuskritik ist nichts wert.
Die liberale Alternative zum Sozialstaat würde für die Kapitalisten bedeuten, dass sie in jedem individuellen Lohn auch alle individuelle Risikovorsorge zahlen müssten, die die Lohnabhängigen dann individuell ansparen. So waren die Verhältnisse im 19. Jahrhundert. Das kam für die Kapitalisten vergleichsweise teurer als die moderne staatliche Zwangsversicherung. Und das ließ Raum für selbstverwaltete Kassen der Arbeiterbewegung. Siehe dazu: Die Sozialstaatslüge.
5. Der Ruf nach dem Staat ist auf den ersten Blick die einfachste und bequemste Lösung für alle Probleme, die der Kapitalismus verursacht. Die Aussage: „Der Staat muss dafür sorgen, dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat“, wird von gut 90 Prozent der deutschen Bevölkerung unterstützt.
Wenn der Staat nicht für Sozialleistungen sorgt? Wer dann? Scheinbar ist der Sozialstaat im Kapitalismus alternativlos.
Ich persönlich und die Initiatoren des „Bochumer Programms“ halten weder den Sozialstaat noch den Kapitalismus für alternativlos. Was die Sozialleistungen betrifft, sind wir für die wirkliche Selbstverwaltung der Sozialversicherungskassen auf kommunaler Ebene. Das kostet uns sicherlich mehr Engagement als wenn wir die Verwaltung der Sozialkassen an Staatsdiener abschieben. Aber nur bei einer wirklichen Selbstverwaltung der Versicherungskassen hätten wir Versicherte dann auch wirklichen Einfluss bei der Höhe und der Vergabe der Leistungen und wären die bürokratischen Schikanen los.
Gruß Wal Buchenberg