R. Lauterbach (Doku): 150.000 Demonstranten in Warschau

  • Rund 150000 polnische Gewerkschafter sind am Samstag in Warschau gegen die Sozialpolitik der Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk auf die Straße gegangen. Die Zahl ist ein Mittelwert zwischen den Angaben der Stadtverwaltung und denen der Veranstalter. Da angesichts der großen Zahl der Demonstranten zu keinem Zeitpunkt alle Protestler auf einem Platz versammelt waren, ist eine realistische Schätzung schwierig. Nach Einschätzung aller polnischen Kommentatoren war es jedoch die größte Gewerkschaftsdemonstration in Polen seit 1989.


    Der Sternmarsch stand unter der Parole »Schluß mit der Geringschätzung der Gesellschaft«. Auf der Bühne der Abschlußkundgebung forderten die Vorsitzenden der größten Gewerkschaftsverbände Solidarnosc, OPZZ und Gewerkschaftsforum die Rücknahme der Rente mit 67, ein Ende der prekären Arbeitsverhältnisse mit Kettenbefristungen (»Drecksverträge«) und eine Erhöhung des Mindestlohns von derzeit umgerechnet knapp 400 Euro. Damit allerdings endete die Einheit der Gewerkschaften bereits. Sollte die Regierung die Forderung nicht erfüllen – womit zu rechnen ist – will die Solidarnosc Unterschriften für vorgezogene Neuwahlen sammeln. Die OPZZ kündigte dagegen Straßenblockaden im ganzen Lande an. Einige hundert Anarchosyndikalisten demonstrierten unter schwarz-roten Fahnen mit und riefen Parolen für einen Generalstreik und für Erleichterungen des Streikrechts.


    Selbst Gegner der Gewerkschaften lobten nachträglich die gute Organisation der Proteste und ihren gewaltlosen und »würdigen« Verlauf. Die Arbeitnehmerschaft habe gezeigt, daß es sie gebe, gab Aleksander Smolar, Chef der liberalen Batory-Stiftung, eine Überraschung zu Protokoll. Politiker der Regierungspartei PO bezeichneten die Demonstration dagegen als »leeres Ritual« – und sie haben nicht einmal unrecht damit. Denn mit Ausnahme des anarchosyndikalistischen Blocks wurden so gut wie keine politischen Parolen gerufen. Die wenigen Transparente, die die Delegationen der Solidarnosc mitführten, waren eher nationalistisch-parteipolitisch (»Hochverräter Tusk«) als sozial in der Aussage. Der Großteil der Demonstranten lief hinter den Schildern ihrer Betriebe oder Wohnorte unter Verbandsfahnen schweigend durch die fast ausgestorbene Warschauer Innenstadt. Die einzige Äußerung von ihrer Seite war unentwegtes Blasen aus Tausenden von Vuvuzelas, die die Organisatoren kartonweise verteilten. Die Demonstration hatte so den Charakter eines Aufmarschs der Provinz gegen die sprichwörtlichen »feinen Leute aus Warschau«; es war ein lautstarker Schweigemarsch. Immer dann, wenn das Häuflein der Anarchisten Parolen wie »Kampf der Klassen, nicht der Nationen« rief, stießen die umstehenden Solidarnosc-Ordner aus vollen Backen ins Horn, damit derlei staatsfeindliches Geschrei nur nicht außerhalb des Marsches hörbar werde. Flugblattverteiler der Linken berichteten über Anmache durch Rechte am Rand der Veranstaltung. Es gab aber auch alte Leute, die vom Straßenrand mit geballter Faust grüßten.


    Leicht gekürzt und ungefragt eingestellt aus: jw

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