Hallo Franzika,
deine interessantesten Beiträge versteckst Du gerne im Blog. Robert Schlosser hatte vor einiger Zeit so einen Beitrag ins Forum geholt und daraus entwickelte sich eine lange Kontroverse. Ich hole auch mal einen Beitrag von Dir ins Forum, hoffe aber, dass die Diskussion nicht genau so in unfruchtbarem Streit endet.
Schon deine Überschrift erreicht episches Ausmaß: Zwischenbemerkung 2: Produktivkräfte? Produktionsverhältnisse? oder welche Kategorien benötigt eine "materialistische" Theorie der Geschichte und Epochengliederung? Ein paar Anmerkungen dazu von mir.
Dein Thema und deine Analyse ist recht ambitioniert, wenn du „die Stadien der Industriegeschichte“ beschreiben willst. Gut finde ich, dass du als Messlatte den Gegensatz von „Kommandierenden und Kommandierten“ nimmst. Das deckt sich ganz mit dem Erkenntnisinteresse von Marx, wenn dieser sich mit der Trennung des Arbeiters (im weiten Sinn von „homo faber“) von seinen Arbeitsbedingungen befasst, juristisch ist das die Trennung von Arbeit und Eigentum.
Allerdings siehst du hier nur einen Ausgangspunkt: das antike Großreich, Marx sah da zwei frühe Ausgangspunkte.
Mit der Sesshaftigkeit (seit ca. 8000 v. Chr.) entwickelt sich das Gemeineigentum entweder zu einem patriarchalen Despotismus (Sumerer, Ägypter, Inder, Chinesen = „asiatische Produktionsweise“) oder zur patriarchalen antiken Demokratie (frühe Griechen und frühe Römer, Germanen)
„Es kann ferner die Gemeinschaftlichkeit innerhalb des Stammwesens mehr so erscheinen, dass die Einheit in einem einzigen Haupt der Stammfamilie repräsentiert ist (= patriarchaler Despotismus) oder als die Beziehung der Familienväter aufeinander (= patriarchale Demokratie). Danach entwickelt sich eine entweder mehr despotische oder demokratische Form dieses Gemeinwesens.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 377.
Während die universitäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert sich fast nur mit der patriarchalen Demokratie befasst hatte, habe ich den Eindruck, dass man sich heute fast nur noch mit den antiken Flächenstaaten befasst.
Ich habe ja eine ausführliche Untersuchung der Entwicklung der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft gemacht. Diese Darstellung liegt ganz auf der Linie deines Analyseansatzes. Vielleicht findest du mal die Zeit, diese Untersuchung zu lesen (sie liest sich ganz leicht und locker und erwartet keine Vorkenntnisse) und hast dann noch die Zeit und Muße dazu hier im Forum kritische Anmerkungen zu machen.
Die Frage, die ich hier aufwerfen möchte, ist: Was hilft uns der Blick in die gesellschaftliche Vergangenheit? Der Marxismus-Leninismus suchte in der Vergangenheit eine stringente Entwicklungslinie. Für den M-L ist Vergangenheit immer ein Verweis auf die Gegenwart, wenn auch ein Verweis, der in "Epochen" durchbrochen ist. Die bürgerliche Wissenschaft sucht in der Vergangenheit die Identität, die Gemeinsamkeit mit Heute. Auch für die bürgerliche Wissenschaft ist die Vergangenheit immer ein Verweis auf die Gegenwart.
Für Marx war die Vergangenheit vor allem das Andersartige, ein Gegensatz zu Heute:
„Die ursprüngliche Einheit zwischen Arbeiter (d. h. Produzent) und Arbeitsbedingungen ... hat zwei Hauptformen: das orientalische Gemeinwesen (naturwüchsigen Kommunismus) und die kleine Familienagrikultur (womit Hausindustrie verbunden ist) in der einen oder anderen Form. Beide Formen sind Kinderformen und gleich wenig geeignet, die Arbeit als gesellschaftliche Arbeit und die Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit zu entwickeln. Daher die Notwendigkeit der Trennung, der Zerreißung, des Gegensatzes zwischen Arbeit und Eigentum (womit zu verstehen Eigentum an den Produktionsbedingungen). ... Die äußerste Form dieser Zerreißung, worin zugleich die Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit am mächtigsten entwickelt werden, ist die des Kapitals. Auf der materiellen Basis, die es schafft, und vermittelst der Revolutionen, die im Prozess dieser Schöpfung die Arbeiterklasse und die ganze Gesellschaft durchmachen, kann erst wieder die ursprüngliche Einheit hergestellt werden.“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert III, MEW 26.3, 414f.
Der Marxismus-Leninismus wie auch die bürgerlichen Wissenschaftler behaupten irgendwie eine mehr oder minder direkte Entwicklung aus der Vergangenheit in die Gegenwart - entweder als geradlinige Entwicklung oder als stufenförmige Entwicklung.
Karl Marx war solchen Versuchen gegenüber durchaus skeptisch. Er wies darauf hin, dass man die früheren Gesellschaften nur versteht, wenn man den heutigen Kapitalismus verstanden hat. Es ist aber nicht möglich, aus den früheren Gesellschaft Erklärungen und Analysen für den heutigen Kapitalismus abzuleiten. Man kann ein Lebewesen aus seiner entwickelten Gestalt bis zum Embryo zurückverfolgen, aber nicht umgekehrt aus einem Embryo die entwickelte Gestalt vorhersagen.
"Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung, gewährt daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangnen Gesellschaftsformen, mit deren Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch unüberwundne Reste sich in ihr fortschleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben etc. Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc. Keineswegs aber in der Art der Ökonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen. Man kann Tribut, Zehnten etc. verstehn, wenn man die Grundrente kennt. Man muß sie aber nicht identifizieren. Da ferner die bürgerliche Gesellschaft selbst nur eine gegensätzliche Form der Entwicklung, so werden Verhältnisse frührer Formen oft nur ganz verkümmert in ihr anzutreffen sein, oder gar travestiert. Z.B. Gemeindeeigentum. Wenn daher wahr ist daß die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie eine Wahrheit für alle andren Gesellschaftsformen besitzen, so ist das nur cum grano salis <in ganz bestimmter Richtung> zu nehmen. Sie können dieselben entwickelt, verkümmert, karikiert etc. enthalten, immer in wesentlichem Unterschied. Die sogenannte historische Entwicklung beruht überhaupt darauf, daß die letzte Form die vergangnen als Stufen zu sich selbst betrachtet und, da sie selten und nur unter ganz bestimmten Bedingungen fähig ist, sich selbst zu kritisieren...“ K. Marx, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, 636.
Überspitzt formuliert: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit bringt nichts/wenig für das Verständnis der Gegenwart. Umgekehrt gilt: Die Kritik der Gegenwart ist die unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis der Vergangenheit.
Salopp formuliert: Das geringe Interesse der lohnabhängigen Mehrheit an der Vergangenheit steht ganz im Einklang mit dem Geschichtsverständnis von Karl Marx.
Gruß Wal