Labour.net: Die komplizierte Tarifrunde im Einzelhandel (Doku)

  • Fragen von Daniel Behruzi (jw) Antworten von B. Franke.
    Bernhard Franke ist Leiter des Fachbereichs Handel im ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg

    Im Einzelhandel finden schon seit einigen Wochen bundesweit Arbeitsniederlegungen statt. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie?


    Die Streikbereitschaft ist beeindruckend. Wir haben eine hervorragende Beteiligung in nahezu allen gewerkschaftlich organisierten Betrieben. Die Kolleginnen und Kollegen zeigen eine große Entschlossenheit und eine enorme Ausdauer. Einzelne Belegschaften in Baden-Württemberg haben seit Mai bereits vier Streikwochen hinter sich. Bundesweit sind die Erfahrungen ähnlich. Die Mobilisierung hat mittlerweile durchaus die Dimension der großen Tarifauseinandersetzung von 2007/2008. Hinzu kommt eine außergewöhnlich gute Mitgliederentwicklung: Allein in Baden-Württemberg sind seit Jahresbeginn rund 2500 Einzelhandelsbeschäftigte ver.di beigetreten.


    Kernpunkt des Konflikts ist die Kündigung der Manteltarifverträge durch die Unternehmer. Was wollen Sie damit erreichen?


    Die Arbeitgeber wollen massive Verschlechterungen bei der Eingruppierung durchsetzen. Ihr Ziel ist eine Kostensenkung zu Lasten der Beschäftigten. So sollen die Gehälter der Kassiererinnen in Verbrauchermärkten und SB-Warenhäusern, die in den meisten Tarifgebieten eine Entgeltgruppe höher eingruppiert sind als die Verkäuferinnen, abgesenkt werden. Für Auffüllkräfte, also diejenigen, die in den Märkten für den Warennachschub sorgen, soll eine neue Niedriglohngruppe eingeführt werden. Zudem sollen Spät- und Nachtzuschläge für diese Kollegen wegfallen. Damit ist klar: Den Arbeitgebern geht es um Lohndrückerei, nicht um eine »Modernisierung« des Tarifvertrags.


    Die »Modernisierung« der veralteten Tarifverträge ist aber das zentrale Argument der Unternehmer – das auch in den Medien gerne wiedergegeben wird. Ist die nicht notwendig?


    Dem haben wir noch nie widersprochen, schließlich stammen unsere Tarifverträge in ihrer Grundstruktur aus den 1950er Jahren. So ist zum Beispiel nicht einzusehen, warum für eine voll ausgebildete Verkäuferin nach sechs Berufsjahren mit 2248 Euro brutto Schluß sein soll. Es gibt hoch qualifizierte Verkaufstätigkeiten, die sich im Tarifvertrag nicht abbilden. Auch brauchen wir moderne Arbeitszeitregelungen, die den Beschäftigten sowohl Planungssicherheit als auch individuelle Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Es gibt also bei vielen Themen Modernisierungsbedarf. Erpressungsversuche der Arbeitgeber, die das mit Gehaltskürzungen verbinden wollen, können wir aber nicht akzeptieren. Das hat mit Modernität nichts zu tun.


    Trotz der Streiks bleiben die meisten Läden geöffnet. Ist ver.di überhaupt in der Lage, die Einzelhandelskonzerne ökonomisch unter Druck zu setzen?


    Auch wenn es in den meisten Fällen nicht gelingt, die Läden zu schließen, haben die Streiks doch deutliche Auswirkungen. Insbesondere bei längeren Arbeitsniederlegungen gerät die Warenversorgung ins Stocken, der Streikbrechereinsatz kostet viel Geld. Der ökonomische Druck ist also schon da, zumindest wenn länger oder auch überraschend gestreikt wird. Wir haben sehr flexible Arbeitskampfstrategien entwickelt, bei denen aus dem laufenden Betrieb heraus gestreikt wird. Das macht den Arbeitgebern schon zu schaffen.


    Sie reagieren zudem sehr allergisch darauf, wenn wir die Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit tragen, wenn wir die Kundinnen und Kunden ansprechen und sie auffordern, an Streiktagen nicht in bestreikten Betrieben einzukaufen. Auch das erzeugt Druck.


    Erzwungene Teilzeitbeschäftigung, Leiharbeit und Werkverträge sind im Einzelhandel allgegenwärtig. Wie geht ver.di im Arbeitskampf damit um?


    Klar ist: Streiks im Einzelhandel finden unter sehr schwierigen Bedingungen statt. Wir versuchen den Beschäftigten Ängste zu nehmen, zum Beispiel indem wir Gemeinschaftserlebnisse wie größere Demonstrationen und Aktionen organisieren. Das ist gerade wegen der vielen kleinen Betriebe wichtig und vermittelt ein Gefühl für die eigene Stärke. Mit flexiblen Streikformen versuchen wir, die besondere Situation von Teilzeitbeschäftigten zu berücksichtigen.


    Der Einzelhandel ist der zweitgrößte Tarifbereich von ver.di. Welche Bedeutung hat der Konflikt für die Gewerkschaft insgesamt?


    Die Auseinandersetzung ist exemplarisch: Der Einzelhandel ist eine wichtige Branche, die zunehmend in prekäre Beschäftigung abdriftet. Ob es gelingt, einen solchen Bereich weiterhin per Flächentarif zu regulieren, ist für uns eine Nagelprobe. Das hat ver.di verstanden, entsprechend groß ist die Unterstützung – nicht nur in Worten, sondern auch in Taten.


    2007/2008 haben die Unternehmer schon einmal einen Generalangriff auf den Flächentarif gestartet. Erwarten Sie jetzt eine ähnlich langwierige Auseinandersetzung?


    Die Arbeitgeber sind nach wie vor unnachgiebig. Deshalb wird die Tarifrunde nicht nur am Verhandlungstisch, sondern auch in den Betrieben und auf der Straße womöglich noch sehr lange andauern.


    Quelle: Junge Welt

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