Seit Tagen demonstrieren in vielen türkischen Städten die Menschen gegen das harte Vorgehen der Regierung Erdogan gegen einen „Ein-Punkt-Protest“ - den Widerstand gegen die Bebauung eines Parks mitten in Istanbul.
Manche Linke in Deutschland sehen da einen Zusammenhang zu den Polizeiübergriffen gegen die Occupy-Demo in Frankfurt. Auf Seiten der Polizei und der Regierungen ist sicherlich ein Zusammenhang. Auf Seiten der Linken in Deutschland und der Linken in der Türkei kaum.
Über Jahre und Jahrzehnte hinweg meinten einflussreiche linke Parteien und Organisationen in der Türkei die Verhältnisse mit Waffengewalt ändern und bessern zu können. Andererseits meinten einflussreiche Kreise innerhalb der herrschenden Klasse, die Machtverhältnisse mittels militärischer Gewalt stabilisieren zu können. 1971 und noch einmal 1980 putschte sich das türkische Militär an die Schalthebel der Macht. Ich denke, militaristisches Denken auf beiden Seiten blockierte und festigte sich gegenseitig und machte dadurch zivilgesellschaftlichen Protest so gut wie unmöglich. In Syrien geschah in jüngster Zeit genau das Gleiche: Was als zivilgesellschaftlicher, demokratischer Protest mit breiter Unterstützung begann, wurde von militärischem Vorgehen auf beiden Seiten zerrieben und vertrieben.
Ich denke, es ist kein Zufall, dass der zivilgesellschaftliche Protest in der Türkei erst dann so machtvoll einsetzte, nachdem der bewaffnete kurdische Aufstand halb besiegt und halb politisch akzeptiert wurde.
Bis dahin riskierte jeder zivile und demokratische Protest in der Türkei mit der bewaffneten Guerilla in Zusammenhang gebracht zu werden. Bis dahin musste man bei jeder Teilnahme an einem Streik oder einer Demonstration nicht nur um seine Freiheit, sondern auch um sein Leben fürchten. Die Gleichsetzung von Protest und Widerstand mit bewaffnetem Kampf hatte auch in Südamerika die Emanzipationsbewegungen mehr gelähmt als befördert. Die Gleichsetzung von Protest und Widerstand mit bewaffnetem Kampf ist endlich und hoffentlich in der Türkei auf Dauer vorbei. Dieser große Fortschritt auf dem Weg der sozialen Emanzipation wird durch die gegenwärtige Protestbewegung deutlich und das erklärt nach meiner Meinung die breite Beteiligung an der Protestbewegung in der Türkei.
Und in Deutschland? Da fühlt sich die Linke vor allem als Opfer und appelliert an das Mitleid der Menschen. Die Occupy-Tage in Frankfurt waren – sorry für die harten Worte – eine aufgeblasene Selbstdarstellung der deutschen Linke. Die große Mehrzahl der Lohnabhängigen wurde von Occupy nicht angesprochen und sollte nicht angesprochen werden. Der Occupy-Bewegung geht es „ums Ganze“. Statt für einfache und naheliegende Forderungen zu streiten (Weg mit HartzIV, Mindestlohn 10 Euro, gegen Kernkraft und Fracking etc.), wurde in Frankfurt ein abstrakter Antikapitalismus mit europaweitem Gestus zur Schau getragen. Vielleicht gut fürs linke Ego, aber ohne Nutzen für die sozialen Bewegungen. Ein so selbstverliebtes Spektakel macht es der Staatsmacht leicht, zu intervenieren und den Protest an die Wand zu drücken.
Zum Vergleich: Die Bewegung in der Türkei entzündete sich an einem ganz greifbaren Konflikt: Dem Erhalt eines Stadtparks. Die Occupy-Bewegung in Deutschland entzündete allenfalls Mitleid. Dieser abstrakte Antikapitalismus ist um so schlimmer, als die Menschen in dieser Bewegung was tun und erreichen wollen und unsere Verhältnisse nach Veränderung rufen. Die Mitleidsdemo von Samstag mag ein Erfolg gewesen sein. Ein Schritt in die richtige Richtung war sie noch nicht,
meint Wal
Edit vom 22.06.2013: Für mich ziemlich überraschend hat dieses Wort "Mitleidsdemo" eine Lawine der Empörung ausgelöst. Das bedauere ich. Ich bedauere auch, dass eine sachliche Debatte über die politische Einschätzung dieser Demo inzwischen nicht mehr möglich scheint. Ich klammere mich aber nicht an dieses Wort. Ich entschuldige mich dafür bei allen, die sich durch diese Begrifflichkeit angegriffen oder beleidigt fühlten.
Wal Buchenberg, 22.06.2013