Verrechnet! (Kleiner Bericht zur gestrigen Demonstration in Frankfurt)

  • Mit rund 300 Leuten hatten die Organisatoren der Demo von Occupy Frankfurt gerechnet. Die Polizei gab die Zahl der TeilnehmerInnen später mit 6500 an. Seit 1967/68 habe ich an vielen Demonstrationen teilgenommen und bilde mir ein – auch ohne abzuzählen – ganz gut einschätzen zu können. Ich würde sagen, es waren 10.000 plus x. Die Organisatoren nannten später die Zahl von 12000. Das kommt wohl der tatsächlich Zahl sehr nahe.
    Da demonstrierten jung und alt, Menschen aus den unterschiedlichsten politischen Zusammenhängen und Organisationen und Menschen, die sich keinem dieser Zusammenhänge und Organisationen zuordnen lassen.
    Ohne lange „Aktionseinheitsverhandlungen“, ohne „politische Führung“ hat man sich versammelt, um für Versammlungsfreiheit und gegen deren Einschränkung durch reaktionäre Politik und Polizei zu demonstrieren.
    Der „Kessel von Frankfurt“, die brutalen Übergriffe der Polizei, waren u.a. mit der „Vermummung“ der Demonstranten mittels Regenschirmen und Sonnenbrillen begründet worden. Wir versammelten uns daher auch, um uns massenhaft zu „vermummen“, mit Regenschirmen und Sonnebrillen. Demonstranten verlangten ferner eine Kennzeichnungspflicht von zu Kampfmaschinen vermummten Polizisten, damit man sie für die Übergriffe zur Rechenschaft ziehen kann! (Zum Thema "Vermummung" gab es allerhand nette Einfälle: z. B. ein Bild von Heino mit Sonnenbrille und darunter der Text "Seit 50 Jahren vermummt." Ferner gab es einige "schwarze Blöcke" in Gestalt von Plakaten oder Kostümierung.)


    Es war eine jener 1-Punkt-Bewegungen, die es ermöglichen, dass so viele Menschen daran teilnehmen und dass viele politische Differenzen in den Hintergrund treten. Man sah eine breites und buntes Sammelsurium an Organisationfahnen (Ver.di, IGM, GEW, IG Bau, Attac, Piraten, MLPD, FAU, Naturfreunde, Jusos, usw. usf.). „Reformisten“ und „Revolutionäre“ (in allen möglichen Varianten) marschierten Seite an Seite … ohne übereinander herzufallen, verbunden nur in dem genannten Ziel, Versammlungsfreiheit zu fordern, und soweit durch Recht zugestanden, auch zu verteidigen.
    Niemand wurde daran gehindert, etwa für seine weitergehenden antikapitalistischen Ziele die Werbetrommel zu rühren und andere politische Richtungen zu kritisieren. Aber diese Abgrenzungen voneinander spielten praktisch keine Rolle! Sie standen hinten an!


    Selbst Leute mit einem dramatischen Realitätsverlust konnten ungehindert ihre Denunziation von Demonstrationen für „demokratische Rechte“ verteilen. So erhielt ich ein Flugblatt unter dem Titel „Gegen die demokratische Sehnsucht“, das – wie so oft - mit der Phrase endete „Für den Kommunismus“. Dass die Freiheit der Organisation, der Meinung und der Versammlung eine Bedingung für Kommunismus ist, gegen deren Einschränkung, Außerkraftsetzung etc. durch den bürgerlichen Staat sich der Kampf schon auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entwickelt und entwickeln muss, davon hat der sektiererische Kommunismus keine Ahnung und davon will er nichts wissen. Solche Sekten verstehen nicht einmal, welchen Umständen sie es zu verdanken haben, dass sie ihre Positionen weitgehend ungehindert verbreiten können. Sie verdanken das nämlich den in der Form des Rechts eingeschränkt zugestandenen Freiheiten im bürgerlichen Staat …. und vor allem solchen breiten Bewegungen, die sich gegen die konkreten Einschränkungen durch den bürgerlichen Staat zur Wehr setzen! Die einzelnen Sekten selbst können in ihrer Bedeutungslosigkeit und Einflusslosigkeit gar nichts!! Der bürgerlich-demokratische Staat, den sie so „schonungslos“ kritisieren, könnte jede einzelne dieser Sekten von heute auf morgen „mundtot“ machen … und kein Hahn würde danach krähen. Sie alle verdanken ihre Existenz, die Möglichkeiten ihrer Meinungsäußerung, gerade solchen Bewegungen!!!


    Füŕ mich gehört die Demonstration in Frankfurt zu den seltenen Ereignissen, die mir Mut machen und Hoffnung wecken, Hoffnung auf mehr. Auf der kurzen Auftaktveranstaltung zu Beginn der Demonstration hielt einer der Mitorganisatoren, eine ebenso kurze und klare wie interessante Rede, die hoffentlich alle, die hier im Forum das Bochumer Programm unterstützen, mit Freuden gehört hätten. (Falls ich irgendwie an diese Rede komme, werde ich sie später noch dokumentieren.)
    Während der Demonstration habe ich immer wieder bedauert, dass ich nicht wenigstens 100 und 200 Exemplare des Programms kopiert, mitgenommen und verteilt habe. Wahrscheinlich ist mein gegen Null tendierendes „Sendungsbewußtsein“ - gerade wenn man allein auf weiter Flur ist - der entscheidende Grund dafür; denn grundsätzlich gehe ich immer davon aus, dass solche 1-Punkt-Bewegungen das Zeug haben zu einer relativ breiten Bewegung, die auch ein Feld ist, das Diskussionsbereitschaft und „Öffnung“ fördert.
    Das Internet kann die Begegnung der Menschen im Kampf nicht ersetzen; es kann nur ein Mittel sein, sie zu fördern!!


    Viele Grüße
    Robert


    p.s. Übrigens nahm Urban Priol an der Demo teil und machte ein paar gekonnte kabarettistische Anmerkungen … und: ich werde noch ein paar Bilder hochladen.

  • Hallo
    Robert,




    Danke für Deinen Bericht.




    Es hat ja seit dem Fall der Mauer diverse Protestbewegungen gegeben
    (Anti-Globalisierung, Anti-G7, ...), denen man, ähnlich wie 'Bloccupy',
    vorwerfen könnte, dass Sie zu wenig oder gar keine konkreten Forderungen
    stellen. Forderungen, die von der Masse der LohnarbeiterInnen aufgegriffen
    werden können, eine Durchschlagskraft wie in der Türkei oder Brasilien
    entwickeln können, und somit die Emanzipation weiter voranbringen. Der Antikapitalismus
    dieser Bewegungen ist zu abstrakt, ihre Aktivisten galten und gelten als ‚Spinner‘.




    Diese Bewegungen haben allerding polizeiliche Repressionen erleiden müssen. Es
    hat sogar tödliche Opfer gegeben (Genua).




    Meine Frage an das "kollektive Gedaechtnis" des Marx-Forums: Wann
    haben derlei polizeilichen Repressionen in Deutschland eigentlich zuletzt einen
    vergleichbaren Protest ausgelöst? Ich kann mich täuschen, aber mein Eindruck
    war bisher, dass in Deutschland antikapitalistische AktivistInnen zwischen 1990 und 2010 nicht
    viel Solidarität erwarten durften.




    Unter dem Vorbehalt, dass ich mich nicht täusche,
    hat diese Demo folgendes gezeigt: Selbst wenn
    Bloccupy-Aktivisten vielleicht immer noch als "Spinner" betrachtet
    werden - und dafür mag es noch immer gute Gründe geben -, so scheint es
    irgendwie nicht mehr egal zu sein, dass diese "Spinner" mal so eben
    von Bullen zusammengeschlagen werden. Der unerwartete(!) Erfolg der Demo ist
    das xte Zeichen dafür, dass die Entfremdung zwischen Herrschern und
    Beherrschten voranschreitet, und sollte als solches von allen gewürdigt werden.
    (Vielleicht ist der Erfolg sogar das Zeichen für ein wachsendes Selbstbewusstsein,
    aber da hänge ich mich vielleicht zu weit aus dem Fenster...)




    Gruss,


    Antonio


  • Hallo Antonio
    Auf breite Empörung stieß zum Beispiel der Wasserwerfereinsatz gegen die Demonstranten von Stuttgart 21, der einem Menschen das Augenlicht kostete. Dieser Polizeieinsatz kostete (laut Spiegel) der CDU die Macht in BaWü.
    Man kann und muss aber auch andersherum fragen: Ist es nicht so, dass sich die Polizei stärker zurückhält, wenn die halbe Welt zuschaut (wie bei dem G8-Treffen in Deutschland) und wenn es der Protestbewegung tatsächlich um akzeptierte und populäre Konfliktpunkte geht: Flughafenerweiterung, Castor-Transport, aber auch HartzIV, Mietfragen oder Lohnauseinandersetzungen??


    • Antonio: Unter dem Vorbehalt, dass ich mich nicht täusche,
      hat diese Demo folgendes gezeigt: Selbst wenn
      Bloccupy-Aktivisten vielleicht immer noch als "Spinner" betrachtet
      werden - und dafür mag es noch immer gute Gründe geben -, so scheint es
      irgendwie nicht mehr egal zu sein, dass diese "Spinner" mal so eben
      von Bullen zusammengeschlagen werden. Der unerwartete(!) Erfolg der Demo ist
      das xte Zeichen dafür, dass die Entfremdung zwischen Herrschern und
      Beherrschten voranschreitet, und sollte als solches von allen gewürdigt werden.
      (Vielleicht ist der Erfolg sogar das Zeichen für ein wachsendes Selbstbewusstsein,
      aber da hänge ich mich vielleicht zu weit aus dem Fenster...)

      Hallo Antonio,
      Ja, ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, den ich nicht gesehen habe oder nicht sehen wollte. Ich hatte mein abschätziges Urteil quasi nach "Aktenlage" gefällt - nach mir bekannt gewordenen Stellungnahmen vor und im Umfeld der Demo.


    Gruß Wal

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