Wo ist das Problem sinkender Wachstumsraten?

  • Hallo Forum,


    ich weiß, das hier ist kein VWL-Forum. Gerade deshalb aber finde ich meine Frage hier gut platziert:


    Wenn man sich mit ökonomischem Wachstum beschäftigt, stößt man immer wieder auf das Problem der sinkenden Wachstumsraten; auch hier im Forum. So wird häufig thematisiert, dass das nachlassende Wachstum des BIP Ausdruck mangelnder ökonomische Aktivitäten sei, zu Verteilungskonflikten führe und langfristig den Lebensstandard beeinträchtige. Ich verstehe jedoch nicht, wieso diese Zwanghaftigkeit eintreten sollte. Beispiel Deutschland: Hier fand stets ein lineares Wachstum statt. In jeder Dekade wurde das zusätzlich Produzierte also in etwa ähnlichem Umfang größer. Folge: Mathematisch zeigen sich bei gleich hohem (absolutem) Wachstum sinkende Wachstumsraten. Wo ist nun das Problem? Wenn das zusätzliche Mehr fast immer gleich groß ist, dürfte es doch kein Ausdruck ökonomischer Schwäche sein, oder?


    Danke für die Hilfe!

  • Hallo Konkordanz,

    aus sozialistischer/kommunistischer Sicht mag ein gleichmäßiges absolutes Wachstum genügen. Aus Sicht des Kapitals genügt das keineswegs.

    Im folgenden möchte ich das anhand eines Einzelkapitals aufzeigen. Ich setze voraus, dass etwas, das für ein Einzelkapital schlecht ist, auch für das Gesamtkapital schlecht sein muss.


    Zunächst also das absolute Wachstum eines Einzelkapitals:


    Folgendes hat sich ergeben:

    (vgl. die Spalten der Tabelle von links nach rechts)

    1) Das Gesamtkapital hat sich fast verdreifacht (von 1.000 auf 2.885).

    2) Das konstante Kapital hat sich mehr als vervierfacht (von 500 auf 2.340).

    3) Die Zahl der Arbeiter hat sich um knapp 10 % erhöht. (Bei unveränderter Lohnhöhe und Arbeitszeit stieg die Lohnsumme von 500 auf 545).

    4) Die Mehrwertmasse stieg um fast die Hälfte (von 500 auf 725). Gleichzeitig sank die relative Größe des Mehrwerts zum Gesamtkapital (= Profitrate) von 50 auf 25 (vgl. Tabelle 2).

    5) Der akkumulierte Mehrwert hat sich mehr als verdoppelt ( von 125 auf 310).

    6) Der Konsumtionsfonds (Revenue) der Kapitalisten ist um 10 % gestiegen (von 375 auf 415).

    7) Die Zusammensetzung des Kapitals hat sich von 50 c + 50 v auf 81 c + 19 v erhöht.


    In Summa lassen sich diese Zahlen so interpretieren, dass man sagen kann: "Ist doch noch alles im grünen Bereich!"


    Betrachten wir denselben Vorgang in relativen Zahlen:


    In relativen Zahlen ausgedrückt bedeutet das:

    8 ) Die Ausbeutungsrate stieg von 100 % auf 133 %.

    9) Die Profitrate halbierte sich von 50 % auf 25 %.


    Das alles zusammengenommen sind die Bedingungen und Umstände, die Karl Marx für den Fall der Profitratebeschrieb.


    Ein Sinken der Profitrate von 50% auf 25% ist für kein Kapital bedrohlich. Aber der Prozess setzt sich ja fort. Irgendwann sinkt die Profitrate auf 10%, auf 5% und dann auf Null Prozent. Da aber jedes Kapital sich verwerten muss, wird kein Kapitalist mehr sein Kapital investieren wollen.

    Deine Fragestellung, was denn am relativen Wachstumsrückgang so schlimm sei, entspricht ganz der Fragestellung des Mannes, der aus dem 20 Stockwerk springt und zwischen dem 18. und dem 4. Stockwerk meint: „Bisher isses jut gegange!“

    Der Rückgang der Profitraten setzt sich jedoch fort, bis es nicht mehr "gut geht".


    Der Überfluss von Kapital entsteht, wenn das Kapital nur noch Anlagemöglichkeiten findet, wo es sich schlechter verwertet als bisher. Der Überfluss von Kapital ist absolut, wenn sich neu investiertes Kapital zu einer Profitrate = Null verwertet.


    „Dieser Überfluss des Kapitals erwächst aus denselben Umständen, die eine relative Überbevölkerung (Arbeitslosigkeit) hervorrufen, und ist daher eine diese letztere ergänzende Erscheinung, obgleich beide auf entgegengesetzten Polen stehen, unbeschäftigtes Kapital auf der einen und unbeschäftigte Arbeiterbevölkerung auf der anderen Seite.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 261.

    „In der Wirklichkeit würde sich die Sache so darstellen, dass ein Teil des Kapitals ganz oder teilweise brachläge (weil es erst das schon fungierende Kapital aus seiner Position verdrängen müsste, um sich überhaupt zu verwerten) und der andere Teil durch den Druck des unbeschäftigten oder halbbeschäftigten Kapitals sich zu niederer Rate des Profits verwerten würde.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 262.


    Gegenüber einem Einzelkapital läuft der Prozess von sinkender Profitrate = sinkendes Wachstum = erlahmende Investitionsrate selbstverständlich viel langsamer ab, weil es dort noch expandierende Branchen geben kann. Aber die wirkenden Faktoren und Prozesse sind ganz die gleichen wie beim Einzelkapital.



    Dieser Punkt, wo Kapital keine profitable Verwertung mehr findet und dann in „Streik“ tritt, ist mindestens für Geldkapital schon erreicht, wenn die Geldkapitalisten für Staatsschuldpapiere Minuszinsen zahlen müssen.


    Dieser Punkt, wo Kapital (in Deutschland) keine profitable Verwertung mehr findet, führt einerseits dazu, dass immer mehr Kapital ins Ausland exportiert wird – damit werden auch die Arbeitsplätze ins Ausland exportiert. Und zweitens führt das dazu, dass in Deutschland immer weniger Kapital investiert wird. Die Investitionsrate sinkt, die Produktionsanlagen und die Infrastruktur in Deutschland wird zunehmend nicht ersetzt oder erneuert.

    Die Produktionsbedingungen in Deutschland werden zunehmen marode.





    Siehe zu dem Thema die ausführlichen und detaillierten Analysen von Michael Roberts (auf Englisch)


    https://thenextrecession.wordp…stment-and-profitability/


    https://thenextrecession.wordp…e-of-low-growth-surprise/


    https://thenextrecession.wordp…ty-investment-and-growth/


    https://thenextrecession.wordp…he-rate-of-profit-is-key/

  • Die WELT macht sich heute Gedanken, woher die Minuszinsen kommen und bringt

    folgende originelle Begründung:

    „Das Gros der Ersparnisse fließt in Anleihen und drückt damit die Zinsen. Gleichzeitig wird immer weniger Geld in der Wirtschaft benötigt. Die Digitalwirtschaft kommt mit weniger Kapital aus als etwa klassische Industrien: Investitionen in IT-Plattformen und Patente beispielsweise benötigen weniger Kapitaleinsatz als der Bau von Fabriken oder Großanlagen. Damit steigt das Angebot an Geld, während die Nachfrage zurückgeht.“


    Da wird aus dem Krankheitssymptom, dass die Kapitalisten immer weniger investieren, eine neue „Gesetzmäßigkeit“ entwickelt: Die Internet-Wirtschaft benötige weniger Kapital! Weil also (in Europa) die produktive Nachfrage nach Kapital fehle, gebe es Kapital im Überfluss.

    Diese originelle Theorie hält nicht lange vor. Jedem von uns fallen viele Bereiche ein, die marode und unterkapitalisiert sind: Straßen, Bahngleise, Bahnhöfe, Schulen, Brücken, Krankenhäuser, billiger Wohnraum, Nahverkehrssysteme usw. Dass in diese Bereiche nicht investiert wird, liegt nur daran, dass sie nicht profitabel genug sind.


    Die einfachste und überzeugendste Erklärung für die „Investitionsschwäche“ liefert immer noch Karl Marx: Das Kapital findet (in Europa) nicht genügend profitable Anlage. Deshalb gibt es einerseits Kapital im Überfluss und andererseits viele Lebensbereiche, die verarmen und verkommen.

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