Wie sah Marx seine Rolle in der Arbeiterbewegung?

  • In seinem „Startup“ beschrieb Marx mit 26 Jahren seine Rolle in der Revolution so: „Wie damals der Mönch (Martin Luther, w.b.), so ist es jetzt der Philosoph (Karl Marx, w.b.) in dessen Hirn die Revolution beginnt“. (MEW 1, 385) Und weiter: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.“ (MEW 1, 391).

    Man darf ohne Übertreibung sagen, er meint damit: der Kopf der Emanzipation ist der einzelne Philosoph in Gestalt von Karl Marx.

    Diese Vorstellung, dass einzelne Theoretiker „Kopf“ der Emanzipation von Leuten seien - von Leuten, denen offenbar der eigene Kopf zum Denken fehlte, und die nur dadurch zum Denken kommen, dass sie sich alle die Gedanken dieses einen Kopfes aneignen, diese Vorstellung hat etliche Anhänger gefunden und ist eines der Grunddogmen des Parteimarxismus geworden.

    Hätte aber Marx an dieser Meinung festgehalten, hätte er seinen eigenen Erkenntnissen widersprochen.


    1. Woher kommen die richtigen Ideen?

    Schon zwei Jahre später, in der „Deutschen Ideologie“ kritisierten Marx und Engels diese Vorstellung, als könne ein Philosoph oder ein Theoretiker das Bewusstsein anderer Leute verändern:

    „Die wirkliche, praktische Auflösung dieser Phrasen, die Beseitigung dieser falschen Vorstellungen aus dem Bewusstsein der Menschen wird, wie schon gesagt, durch veränderte Umstände, nicht durch theoretische Deduktionen bewerkstelligt.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 40.

    Noch klarer ist das im „Kommunistischen Manifest“ formuliert:

    „Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, dass mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewusstsein sich ändert? Was beweist die Geschichte der Ideen anderes, als dass die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet? ... Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft revolutionieren; man spricht damit nur die Tatsache aus, dass sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben, dass mit der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hält. K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 480.

    Das ist eine klare Absage an der Position, die Marx anfangs vertreten hatte. Diese Absage mündete in die Erkenntnis, „dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss;“ (Statuten der IAA, MEW 16, 14).


    Lenin behauptete, das Klassenbewusstsein der Lohnarbeiter hätte seinen Ursprung bei den Intellektuellen, deren Lebensweise sich vom Proletariat unterscheidet.

    Marx widersprach dem. Es seien nicht die Intellektuellen, von denen das richtige Bewusstsein ausgehe, es ist die „Klasse, die die Mehrheit aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewusstsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den anderen Klassen vermittels der Analyse der Stellung dieser Klasse bilden kann.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 69.


    Und über die Kommunisten heißt es bei Marx und Engels: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung." K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 474f.


    Der "materialistische" Grundgedanke der Marxschen Theorie heißt: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9. Diesen Grundgedanken in einfachem Deutsch formuliert heißt: Das Denken folgt dem Tun. Die Menschen handeln erst und denken dann. Alle richtigen Ideen entstammen dem (gesellschaftlichen) Tun und dienen dem Tun.

    „... Ehe die Menschen argumentierten, handelten sie.“ F. Engels, Entwicklung des Sozialismus, MEW 19, 296.


    2. Zur Rolle der Individuen

    Wir haben uns angewöhnt, bestimmte Gedanken einzelnen Denkern zuzuordnen. Aber in der Menschheitsgeschichte wurden wichtige Entdeckungen und Erfindungen häufig mehrmals zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gemacht. Eine ähnliche Praxis der Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten führte notwendig zu ähnlichen gedanklichen Lösungen. Selbständig gefundene, aber mehr oder minder identische Lösungen begannen mit dem Töpfern, Kochen und Häuserbauen bis hin zur Infinitesimalrechnung, die der Engländer Newton und der Deutsche Leibniz zur gleichen Zeit, aber voneinander unabhängig entdeckten und entwickelten.


    So wie das menschliche Tun eine kollektive, gesellschaftliche Angelegenheit ist, so ist das menschliche Denken auch keine individuelle, sondern eine kollektive Angelegenheit:

    „Eine kritische Geschichte der Technologie würde überhaupt nachweisen, wie wenig irgendeine Erfindung des 18. Jahrhunderts einem einzelnen Individuum gehört.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 392 Anm. 89.

    „Allgemeine Arbeit ist alle wissenschaftliche Arbeit, alle Entdeckung, alle Erfindung. Sie ist bedingt teils durch Kooperation mit Lebenden, teils durch Benutzung der Arbeiten Früherer.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 114.

    „Was aber die souveräne Geltung der Erkenntnisse jedes Einzeldenkers angeht, so wissen wir alle, dass davon gar keine Rede sein kann, und dass nach aller bisherigen Erfahrung sie ohne Ausnahme stets viel mehr Verbesserungsfähiges als ... Richtiges enthalten. Mit anderen Worten: die Souveränität des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis, welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern; weder die eine noch die andere kann anders als durch eine unendliche Lebensdauer der Menschheit vollständig verwirklicht werden.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 80.


    Es gab und gibt immer noch Leute, die wollten den Theorien und Erkenntnissen von Karl Marx eine "souveräne Geltung" zubilligen, die wir ungeprüft übernehmen könnten. F. Engels hat das offenbar nicht gemacht.

    In aller Regel war diese Berufung auf den "souveränen Einzeldeniker Marx" gepaart mit grober Unkenntnis seiner Schriften und Gedanken.

    Die Erkenntnisse von Marx sind für uns heute nicht deshalb wertvoll, weil er eben ein Genie, also ein "souveräner Einzeldenker" gewesen wäre. Die Erkenntnisse von Marx sind für uns heute wertvoll, weil sie erstens aus einer Zeit stammen, in der sich der Kapitalismus (unser Kapitalismus!) noch stürmisch entwickelte, und seine Entwicklungsgesetze vielleicht deutlicher sichtbar waren - heute "verschwindet" einiges hinter Staatstätigkeiten -, und zweitens sind die Erkenntnisse von Marx für uns heute deshalb so wertvoll, weil Marx sich eben auf die Erfahrungen und die Intelligenz vieler Tausender Menschen gestützt hatte, die Erfahrungen und die Gedanken vieler Tausender Menschen aufgenommen und verarbeitet hatte - sowohl beim jahrelangen Studium in der Londoner Bibliothek, als auch bei seiner politischen Praxis während eines ereignisreichen Lebens mit drei europäischen Revolutionen: Der ersten Arbeiterrevolution in Paris 1830, der europäischen Revolution von 1848 und der zweiten Arbeiterrevolution in Paris, der Pariser Kommune von 1871. Karl Marx repräsentiert für uns das komprimierte Denken sehr vieler, auch vieler kluger Menschen, die in einer ereignisreichen Zeit gelebt hatten.

    Auch die Entdeckung der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital war keine individuelle Leistung von Marx, sondern eine Verarbeitung der Arbeitswertlehre von Smith, Ricardo und anderen, deren Erkenntnisse Marx „in ihrer klassischen Form ... vollständig und übersichtlich“ schilderte (F. Engels, ‚Karl Marx‘ 1869, MEW 16, 365).


    Wal Buchenberg, 21. Juni 2019


    Siehe auch:

    Warum Marx?

  • Lieber Wal,


    ich teile Deine Auffassung vollständig, dass Marx' Bedeutung einerseits in der vollständigen und übersichtlichen Analyse der kapitalistischen Verhältnisse seiner Zeit besteht und dass er andererseits - wie kein anderer - das Wissen seiner Zeit aufgenommen und verabeitet hat. Davon zeugen die Londoner Exzerpthefte, die Marx 1851-1853 während seiner Studien im British Museum füllte.


    Das Zitat, das Du anführst, sollte man vollständig wiedergeben. Engels schreibt:

    "Das Marxsche Buch hat aber auch noch nach anderer Seite hin ein Interesse. Es ist die erste Schrift, in der die tatsächlichen Verhältnisse, die zwischen Kapital und Arbeit bestehen, in ihrer klassischen Form, wie sie solche in England erlangt haben, vollständig und übersichtlich geschildert werden. Die parlamentarischen Untersuchungen lieferten hierzu ein reichliches, einen Zeitraum von fast vierzig Jahren umfassendes und selbst in England so gut wie ungekanntes Material über die Verhältnisse der Arbeiter in fast allen Industriezweigen, über die Arbeit von Weibern und Kindern, über Nachtarbeit usw.; dies alles ist hier zum erstenmal zugänglich gemacht." Das Zitat passt also eher zu Deiner ersten Aussage. Und in der Tat hat Marx eine unglaubliche empirische Basis für seine wissenschaftliche Arbeit geschaffen.


    Was Marx über alle Theoretiker der bürgerlichen Ökonomie erhebt, ist die Tatsache, dass er als erster imstande ist, die konkreten Erscheinungen, in den sich die kapitalistische Entwicklung zeigt, aus deren Wesen zu erklären. Was der klassischen bürgerlichen Ökonomie nämlich nicht gelang, war die Erforschung und Darstellung der inneren Beziehung zwischen Mehrwert und Profit, oder zwischen Wert und Produktionspreis.

    "Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen unmittelbar zusammenfielen". Das Kapital. Dritter Band, MEW, Bd. 25, S. 825Er schreibt 1858 an Lasalle: "

    Du wirst selbst bei Deinen ökonomischen Studien gefunden haben, daß Ricardo bei der Entwicklung des Profits in Widersprüche mit seiner (richtigen) Wertbestimmung gerät... Ich glaube, daß ich die Sache ins Reine gebracht habe."

    Marx an Lasalle v. 11.3.1858. MEW, Bd. 29, S.554



    Um die Methode von Marx zu verstehen, ist es völlig ausreichend, den Abschnitt 3 ("Die Methode der Politischen Ökonomie") aus der Einleitung zu den "Grundrissen" zu lesen.


    Die Botschaft von Marx an eine heutige Generation von Gesellschaftswissenschaftlern ist: Untersucht die realen Erscheinungsformen des Kapitalismus und weist nach, was die Ursachen für diese Entwicklung sind. Findet die Widersprüche heraus, die sich Bahn gebrochen haben und zu einer Weiterentwicklung des Kapitalismus geführt haben - ohne dass dieser seine grundlegende Qualität verloren hat. Denn:


    Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.“ Grundrisse... Vorwort. 1859. In: Marx-Engels-Werke. Band 13, S. 9.


    M.E. ist einer der entscheidenden Widersprüche, deren Entwicklung den heutigen Kapitalismus ganz maßgeblich prägt, ist der Widerspruch von Kapital und Wissenschaft. Wir wissen, dass Marx bereits eine Ahnung davon hatte, wie die Auflösung dieses Widerspruchs das Kapital an seine Grenzen treiben würde.

    (Vgl. das "Maschinenfragment"). Aber Marx wusste natürlich nichts von Informationstechnik und künstlicher Intelligenz. Aber das wäre das Erste, was er untersuchen würde, wenn er heute noch wissenschaftlich arbeiten könnte.


    Gruß camou


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