Kapitalismus in Elendsvierteln

  • Favelas gelten als „Elendsviertel“. Der Name „Favela“ kommt von einer brasilianischen Kletterpflanze. So ähnlich kleben und klettern die spontan entstandenen Siedlungen an den Bergenhängen von Rio de Janeiro hoch.

    In anderen Erdteilen nennt man sie „Slums“. Favelas oder Slums sind sichtbare Zeichen verbreiteter Armut.

    Slums entstehen überall da, wo den Landbewohnern die Existenzgrundlage entzogen wird, ohne dass den Zuzüglern in die Städte genügend Arbeitsplätze in der kapitalistischen Industrie geboten werden. Slums sind ein Produkt des Kapitalismus. Sie sind aber nicht nur das. Favelas und Slums sind auch Modelle prekären städtischen Lebens, die nicht von den Herrschenden kontrolliert werden. Sie zeigen in konzentrierter Form Lebensweisen, die überall, in jeder Stadt – auch in Deutschland ständig neu entstehen.



    Über mehrere Jahre hinweg hatten zwei NGOs in Brasilien den Complexo da Mare, mit 140.000 Bewohnern Rio de Janeiros größte Favela, besucht und untersucht.

    Die freiwilligen Helfer fanden heraus, dass die Favela da Mare keineswegs nur ein Wohngebiet ist. Die Helfer entdeckten in der Favela 8 Zahnkliniken, 21 Eiscremläden, 69 Computerläden, 138 Supermärkte, 307 Schönheitssalons und 660 Bars.

    Diese kapitalistische Schattenwirtschaft umfasste insgesamt 3.180 Shops mit 9.370 Angestellten unterhalb der staatlichen brasilianischen Aufsicht.

    Ich denke, man kann die Schlussfolgerung daraus ziehen, dass bloße Selbstorganisation – und die Favelas sind in Selbstorganisation entstanden –nicht das Entstehen kapitalistischer Strukturen verhindern. Kapitalistische Strukturen entstehen auch ohne staatliches Zutun spontan überall dort, wo die Menschen nicht nach gemeinsamen Lösungen suchen. Kapitalismus ist der Default, der quasi von selbst immer wieder neu entsteht, wo reguläre kapitalistische Strukturen noch gar nicht vorhanden sind oder wo reguläre Strukturen in einer großen Krise oder in einer kommenden Katastrophe zusammenbrechen.

    Slums sind nicht nur Produkte des Kapitalismus, sie sind auch ein Nährboden des Kapitalismus.

    Im Kleinen beginnt dieser „selbstorganisierte Kapitalismus“ in jedem Gefängnis und setzt sich „Draußen“ fort bei der Mafia, der Indrangetha oder bei arabischen Clans. Diesen selbstorganisierten Kapitalismus gab es in der Sowjetunion, in der DDR und überall in China. In China sind viele dieser „selbstorganisierten Kapitalisten“ inzwischen hochangesehene Mitglieder der KP.

    Mit staatlicher Gewalt und Unterdrückung ist diesem spontanen Kapitalismus nicht beizukommen. Man kann diesem Kapitalismus nur das Wasser abgraben, indem man den Leuten hilft, ihre Probleme und Bedürfnisse auf ein breiteres, funktionierendes Kollektiv zu gründen, als es eine Gang oder ein Clan bietet. Wo große Kollektive nicht funktionieren, entstehen notwendig viele kleine Kollektive, die miteinander und mit der „Macht“ konkurrieren.

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