Naturwissenschaft und Technik
Die Naturwissenschaft erforscht die Natur, ihr Gegenstand ist die Erklärung von Naturgesetzen und -zusammenhängen. Die Kenntnis der Naturgesetze wird besonders deshalb betrieben, da sie das Potenzial birgt, aus ihr Methoden zur Beherrschung der Natur für die Zwecke des Menschen herzuleiten. Die Technologie ist die Wissenschaft, die mithilfe dieser Kenntnisse die Natur nach Maßgabe der Bedürfnisse der Menschen manipuliert. Die Disziplinen der Naturwissenschaft sind nach der vorhandenen natürlichen Wirklichkeit systematisiert, ihr Objekt ist unabhängig von der menschlichen Gesellschaft und mithin ahistorisch (1). Die Technologie hingegen besteht aus Fachrichtungen, die vom Stand der Kultur abhängig sind und im Besonderen die Stufe des Produktionsniveaus erfasst, dessen Entwicklung sie erzeugt hat. Die Technologie stellt sich als eine Forschung eigener Art dar, sie beschäftigt sich mit Erfindungen zur Beeinflussung der Natur und verbindet verschiedene Fachgebiete der Naturwissenschaft.
Quote„Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffene Organe des menschlichen Hirns; vergegenständliche Wissenskraft. Die Entwicklung des fixen Kapitals [Technologie, Maschinerie, Gebäude etc.] zeigt an, bis zu welchem Grad das allgemeine gesellschaftliche Wissen zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des allgemeinen Verstandes gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind.“ (MEW 42, 602)
Wie Wissenschaft unter der Obhut vom Staat und seiner Marktwirtschaft stattfindet
Der bürgerliche Staat übernimmt in seinem Interesse die naturwissenschaftliche Forschung, dies aus verschiedenen Gründen. Sie würde für den einzelnen Kapitalisten zu hohe Kosten verursachen, da die bloße Kenntnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge kein unmittelbares Anliegen der Unternehmen ist. Denn mit dem basalen Wissen wie bspw. das Gravitationsgesetz oder dem Gen als Bestandteil aller Zellen lässt sich kein Profitchen gewinnen.
Quote„Einmal entdeckt, kostet das Gesetz über die Abweichung der Magnetnadel im Wirkungskreise eines elektrischen Stroms oder über die Erzeugung von Magnetismus im Eisen, um das ein elektrischer Strom kreist, keinen Deut.“ (MEW 23, 407)
Ob sich aus dem erweiterten Wissen etwa „Innovationen“ (Produktinnovation – neuartige, marktfähige Produkte; Prozessinnovation – Entwicklung von rentableren Produktionsverfahren) entwickeln lassen, aus denen ein rentables Geschäft gemacht werden kann, ist stets ungewiss. Insbesondere die Grundlagenforschung birgt also das Problem, dass grundlegendes naturwissenschaftliches Wissen schwerlich privatisiert werden kann, um als Konkurrenzvorteil einzelner Unternehmen zu dienen. Naturgesetze sind keine Ware. Hier bricht sich der Widerspruch Bahn, Wissen als gesellschaftlicher Gegenstand in Form von „geistigem Eigentum“ für private Zwecke zu verhüllen und geheim anzuwenden. Somit besteht zum einen das hohe Risiko, falls das Unternehmen für seinen Wettbewerbsvorteil forschen lässt, dass die Forschung aus dem Zufall der Erkenntnis überhaupt erst keine Innovationen produziert, die die Kosten der Forschung gar wettmachen würden. Und zum anderen würden die allgemeinen Naturkenntnisse gleich verbreitet werden, sodass sie nicht mehr einzelnen Wettbewerbsvorsprung darstellen.
Der Staat will durch die „Freiheit der Wissenschaft“ zum einen die Objektivität derselben gewährleisten, statt dass private Interessen wissenschaftliche Ergebnisse zu deren momentanen Vorteil verfälschen. Zum anderen erlaubt die Staatsgewalt damit die freie Ausweitung der Fachgebiete, um möglichst große Potenziale auszuschöpfen. Dies kann für den gesamten nationalen Wirtschaftsstandort nützlich sein, insbesondere wenn er gegen andere Staaten und ihre Ökonomien auf dem Weltmarkt antreten muss. Die Freiheit dient also dieser gesellschaftlichen Produktion, die auf Naturbeherrschung angewiesen ist.
Wissen wird dabei zu einer selbständigen Produktionspotenz und seine Schöpfung ist gleich nur bestimmten Berufsständen vorbehalten, in der kapitalistischen Klassengesellschaft mit starrer Arbeitsteilung. Damit wälzt der Staat die Kosten der Wissenschaft auf die ganze Gesellschaft ab, um das Kapitalwachstum, dessen Zwang eine funktionierende Marktwirtschaft unterliegt, auf seinem Binnenmarkt zu gewährleisten. Vor allem müssen naturwissenschaftliches Grundlagenwissen und gefundene Naturgesetze öffentlich und frei zugänglich werden, damit die entsprechende Ausbildung der Fachkräfte gelingt und auch nötige Forschungsarbeit. Demgegenüber steht am offensichtlichsten die Technologie im Dienst der Kapitalisten, da ihr Wissen unmittelbar eigenständige Produktionspotenz ist für die private Kapitalvermehrung, die damit insgesamt auch Staatsinteresse ist und sich somit ausschließlich unter die Kriterien der ökonomischen Akteure beugen muss – dies impliziert die Notwendigkeit der einkalkulierten Schäden an Verbraucher, Arbeiter und Umwelt, wenn einzig hohe Rentabilität den Zweck der technischen Anwendung darstellt. Der bürgerliche Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ will „Wachstum“ in seiner Nationalökonomie produziert sehen, der Herrschaftsapparat will so möglichst viel Reichtum aus seinem Volk abschöpfen, um seine Macht zu speisen.
Das Ingenieurwesen selbst ist vorwiegend dazu berufen, durch Prozessinnovation die Produktivität zu steigern, was zur Konsequenz hat, dass man weniger Arbeitszeit für dasselbe Ergebnis an produzierten Waren benötigt. Die technische Steigerung der Produktivkraft der Arbeit aber führt in dieser Gesellschaft nicht zur Aufteilung der geringeren Arbeitszeit unter der Belegschaft, sondern zur Entlassung eines Teils in die Arbeitslosigkeit und die Entledigung ihres Lebensunterhalts, und umgekehrt zur gleich langen und intensiven Ausbeutung der übrigen Arbeiter. Die Produktivität wird also nicht zum Wohle der Arbeitenden entwickelt, damit diese weniger arbeiten müssen für dieselbe Masse an Produkt, sondern um die Kapitalproduktivität zu steigern – kurz: um die Lohnkosten zu senken, indem weniger Arbeitskraft angestellt und entlohnt werden muss.
Quote„Wahrhaft reich eine Nation, wenn statt 12 Stunden 6 gearbeitet werden. Reichtum ist nicht Kommando von Surplusarbeitszeit (2)“ (realer Reichtum), „sondern verfügbare Zeit außer der in der unmittelbaren Produktion gebrauchten für jedes Individuum und die ganze Gesellschaft.“ („The source and remedy of the national difficulties...“, London 1821, p.6 nach MEW 42, 602)
Die Produktpreise wiederum senkt ein Unternehmen jedoch nicht im Interesse der Kunden, sondern um deren Kaufkraft mit billigeren Preisen auf sich zu locken und gleichzeitig die Konkurrenz auf dem Markt auszustechen.
Jede neue Erfindung und technische Entwicklung muss sich letztlich an der geldwirtschaftlichen Verwertbarkeit der Anwendung bewähren und damit dem Interesse von Unternehmen und dem bürgerlichen Staat - der wohl auch die gesellschaftlichen Bedingungen ("Infrastruktur") für das nationale Wachstum bereitstellt ohne darin nur total den Standpunkt Rentabilität gelten zu lassen. Die staatlich organisierte technologische Forschung geschieht in Zusammenarbeit mit den Unternehmen, mittels Auftragsforschung wollen sie Recht auf Patente erlangen und mit diesen ein Geschäft machen. Zum Beispiel haben Unternehmen wie erwähnt einen Konkurrenzvorteil durch Steigerung der Produktivität mit verbesserten Produktionsverfahren, erzielen Einnahmen durch die Lizenzvergabe der entwickelten Verfahren an andere Unternehmen, indem sie das Monopol an diesen weiterhin behalten. Ebenso können sie durch Weiterentwicklung der Produkte die Konkurrenz ausspielen oder gar durch neuartige Artikel Marktnischen erschließen. Hier kommt wieder der Widerspruch von „geistigem Eigentum“ zum Ausdruck, weshalb Industriespionage und Wirtschaftsspionage im Kapitalismus auftritt, wobei letzte im Auftrag eines Staates gegenüber anderen Nationen organisiert wird und in seinem Interesse steht, dem nationalen Wirtschaftsstandort.
Es soll noch einmal der Unsinn betont werden, statt allen Wissenschaftlern die Entwicklung von Produkten und Prozessen zu ermöglichen, damit sie organisiert gemeinsam die bestmöglichen Fortschritte machen, um die Arbeit zu erleichtern, Material einzusparen, schöne neue Erfindungen zu entwickeln usw. usf. – stattdessen konkurrieren einzelne Unternehmen mit diesem Wissen, für das sie privat ein Monopol für sich veranschlagen und in eigener Initiative ein paar Forschungen nach ihren kapitalistischen Gesichtspunkten beauftragen.
Naturwissenschaft und Technik neben den bürgerlichen Sozialwissenschaften
Naturwissenschaft und Technologie („MINT“-Disziplinen) in der bürgerlichen Gesellschaft unterscheiden sich von den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften dadurch, dass Erste korrektes Wissen ermitteln, wohingegen die bürgerlichen Sozialwissenschaften dieses Ziel ausdrücklich nicht verfolgen oder gar erreichen. Letzte sind zur Produktion von Ideologie zuständig, zur Rechtfertigung der Ausbeutergesellschaft, und ihr ohnehin plurales Wissen dient den Mächtigen vorwiegend zur moralischen Apologie (3). Da der Staat mit dem Zweck Wachstum auf seinem Wirtschaftsstandort auf tatsächliche Naturerkenntnisse angewiesen ist und ebenso die Industrie wesentlich keinen Nutzen aus falschen Erkenntnissen zieht, deshalb strebt diese Wissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft nach Richtigkeit ihrer Kenntnisse und Erklärungen. Jedoch bestehen Ausnahmen wegen der gesellschaftlichen Ordnung: Unternehmen können für Werbezwecke oder die Umgehung rechtlicher Beschränkungen usw. Interesse an verfälschten wissenschaftlichen Ergebnissen hegen. Und auch wird so mancher Forscher rechtlich belangt, weil er, um seinen Lebensunterhalt in seinem Beruf bzw. seiner Karriere zu bewahren, für ihn günstige Studienergebnisse zurechtgedreht hat und aufgeflogen ist. Daneben tauchen insbesondere in der Technologie sog. empirische Formeln auf, sprich für die praktische Anwendung nützliche Gesetze oder Annäherungen, die jedoch theoretisch nicht gerechtfertigt bzw. erklärt werden können – was oft auch gar nicht notwendig ist, solange man mit den Formeln die entsprechenden Apparate funktionstüchtig bauen kann.
Ursache der Schäden: Nicht Wissen (Mittel), sondern nur ein entsprechendes Interesse (Zweck), das Wissen entsprechend anwendet (!), kann schädlich sein
Die kapitalistische Anwendung von Naturerkenntnissen erzeugt notwendig so allerlei Schäden für Arbeiter, Umwelt und Verbraucher. Die höchste Gewalt setzt diesen Standpunkt des wirtschaftlichen Kapitalwachstums gesellschaftlich durch und ernennt ihn zu ihrem Zweck, damit zum Zweck aller Untertanen, aller Bürger, die sich in dieser freien Konkurrenz ums Eigentum bewähren müssen. Dabei tauchen verschiedene falsche Vorstellungen der Bürger unter der Pauschalisierung namens „Fortschritt“, „die Technik“, „die Industrie“, „technisch-rationales Denken“ oder gar „die Zivilisation“ usw. auf. Ist „Fortschritt“ Fluch oder Segen? Die besagten Schäden sind jedoch notwendiges Ergebnis der kapitalistischen Verwertungslogik, die ein bürgerlicher Staat als festen Rahmen seiner Wirtschaft mit der Institution des Privateigentums herrschaftlich durchsetzt, schützt und fördert. Die Wissenschaft der Natur, bloße Naturerkenntnisse, bedingt jedoch mitnichten eine zwangsläufige Anwendung, die als Schaden und Gefahr des menschlichen Lebens betrachtet werden kann. Es ist ein Zweck und ein entsprechender Wille nötig – und die Unterordnung gegenüber diesen –, der gefundenes Wissen zu einer bestimmten Anwendung bringt, denn korrektes Wissen über die Welt kann nur ein Mittel sein. Wissen über brennbare Stoffe und Ballistik oder Radioaktivität und Atomtheorie lässt noch lange nicht den einzigen Schluss zu, Kriegs- und Atomwaffen sowie AKW zu konstruieren. Dazu sind etwa Staatsgewalten nötig, die ihre internationale politische Machtstellung beweisen wollen und mit diesem Interesse die Forscher beauftragen, die das naturwissenschaftliche Wissen für die ingenieurstechnische Planung von Kriegsgerät einsetzen und dieses durch entsprechend organisierte Produktionen herstellen lassen. Ebenso sind die sog. „Maschinenstürmer“ im 18. und 19. Jahrhundert teilweise dem Irrtum verfallen, die technische Entwicklung an sich würde Folgen höherer Arbeitslosenzahlen zeitigen – wobei im Kapitalismus Erwerbslosigkeit mit Mittellosigkeit gleich noch einhergeht solange man zur besitzlosen, unterdrückten Klasse gehört –, oder einseitige, unangenehme und schädliche Arbeit bedeuten – wie sie in der kapitalistischen Klassengesellschaft in starre Hierarchien unter dem Kommando des Kapitals und der Staatsgewalt organisiert ist usw.
Fußnoten:
1 Natürlich ist der Gegenstand der Naturwissenschaft im weiteren Sinne in Teilen historisch, da die Biologie nur betrieben werden kann, solange Lebewesen existieren, wohingegen jedoch Wissenschaft per se ein selbstbewusstes intellektuelles Lebewesen wie den Menschen voraussetzt. Und ganz konkret verändert sich der biologische Sachgegenstand wegen der Evolution, Lebewesen sterben aus, werden verändert von der Natur oder gar durch den bewussten Eingriff von Menschen. Die Welt der Lebewesen oder Arten ist in historischen Momenten eine verschiedene, wobei mögliche Fossilien nur eingeschränktes wissenschaftliches Objekt darstellen. Jedoch lassen sich trotz dessen allgemeine Gesetze der Evolution aufstellen oder der Biologie der Lebewesen prinzipiell.
2 Mehrarbeitszeit, Überschussarbeitszeit über das technisch und sozial Notwendige; also jede Arbeitszeit über solche hinaus, die die Reproduktion der Gesellschaft betreffen, d. i. Lebensunterhalt des Arbeiters, Produktionskosten, notwendige gesellschaftliche Aufgaben usw.
3 Um diese Kritik an den bürgerlichen Sozialwissenschaften von dem Phänomen, das man als Verschwörungstheorie bezeichnen könnte, abzugrenzen, soll erwähnt sein, dass nicht die empirische Sachlage bestritten werden soll, auf die auch die Gesellschaftswissenschaft zurückgreifen mag. Staaten führten und führen Kriege dann und dort, so viele Leute sind dabei umgekommen, diese und jene Gesetze existieren in einem Staat, so und so hart darf ein Straffälliger demnach bestraft werden usw. usf. Die Verschwörungstheorie will die Informationen über eine Sachlage bestreiten, die demokratische Sozialwissenschaft und demokratische Öffentlichkeit usw. verbreiten. Hier soll jedoch um die Erklärung dieser empirischen Wirklichkeit gestritten werden, um die Gesellschaftstheorie.
Literaturverzeichnis:
„Der bürgerliche Staat“, K. Held (Hrsg.), 1980, Resultate Verlag, §5 b)
„Die Leistungen der Naturwissenschaft (2. Teil)“ in Marxistische Streit- und Zeitschrift Heft 87/02
(Beides zu finden unter http://www.dearchiv.de; „zum Archiv“, „Archiv Marxistische Gruppe“)
Wichtiger umfassender Vortrag zum Thema: „Hochschule+Wissenschaft für Kapital+Nation - Peter Decker – 2004“