Russland und der Westen von Alexander II. bis Putin

  • Vorbemerkung:
    Staatsmedien und Politiker im Westen wollen uns glauben machen, bei dem Konflikt zwischen Russland und dem Westen handele es sich um einen Systemwettbewerb: freie Demokratien hier gegen korrupte Diktatoren dort.
    Einige kritische Geister kehren diese Parteinahme für die Nato-Staaten einfach um. Mit der raschen und unblutigen Annexion der Krim ist der russische Präsident Putin zum Idol aller Frustrierten aufgestiegen. Für die von der eigenen Staatsführung Frustrierten ist Putin ein Held, der den Nato-Bully ausgeknockt hat. Für frustrierte Linke handelt es sich um einen Systemwettbewerb zwischen Staatskapitalismus und Privatkapitalismus. Sie orten den Staatskapitalismus eher auf ihrer Seite, den Privatkapitalismus ("Neoliberalismus") eher "rechts".


    Ich denke, jede Begeisterung für Staatsaktionen und Staatsinterventionen ist ein „inneres Ermächtigungsgesetz“, mit dem wir uns selbst kleiner und die Machthaber größer machen.
    Ich will im Folgenden ein paar historische Fakten und Trends aufzeigen, die nicht einzelne Machthaber in den Mittelpunkt rücken, sondern die Konkurrenz der Staaten, die auf der Konkurrenz der Kapitalien aufbaut.


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    Ich zitiere dafür ausgiebig aus dem Werk von Paul Kennedy: „Aufstieg und Fall der Großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000“. Dieses Werk wird quer durch die politischen Lager gelesen und respektiert.


    1. Russland 1856 - 1917
    „Vier Jahrhunderte hatte es (Russland) sich nach Westen, Süden und Osten ausgedehnt, und trotz einiger Rückschläge gab es keine Anzeichen dafür, dass es damit aufzuhören gedachte. Seine stehende Armee war im ganzen 19. Jahrhundert die gewaltigste Europas....“ (Kennedy, S.354)
    Die Ausdehnung nach Westen wurde jedoch durch den Krimkrieg gestoppt.
    „Die relative Macht Russlands sollte in den Jahrzehnten des internationalen Friedens und der Industrialisierung nach 1815 am meisten abnehmen – obwohl dies bis zum Krimkrieg (1854 bis 1856) nicht vollständig offensichtlich war. (Kennedy, S. 266)
    ".. Das restliche Europa bewegte sich einfach weit schneller und Russland verlor an Boden." (Kennedy, S. 268)
    „Der Krimfeldzug von 1854 bis 1855 bestätigte die russische Rückständigkeit auf schockierende Weise.“ (Kennedy, S.270)
    „Die alliierten Truppen und Verstärkungen konnten von Frankreich und England aus auf dem Seeweg binnen dreier Wochen die Krim erreichen, während russische Truppen aus Moskau manchmal drei Monate brauchten, um zur Front zu gelangen.“ (Kennedy, S. 272)
    Der verlorene Krimkrieg beendete die lange russische Expansion und beschleunigte in Russland Reformbewegungen und die Abschaffung der Leibeigenschaft.
    "... Russlands Macht und Einfluss (hatte) im Laufe des 19. Jahrhunderts .... abgenommen...“(Kennedy, S.367)


    Afrikakonferenz 1884-85 in Berlin („Kongokonferenz“)
    „Die großen Mächte stritten sich nicht mehr ausschließlich um europäische Fragen – wie es 1830 oder auch 1860 der Fall gewesen war -, sondern um Märkte und Territorien auf dem ganzen Globus.“ (Kennedy, S.303).
    „Auch Russland nahm an der Konferenz teil; aber ... schon in der Form der Einladung hatte sich ausgedrückt, dass Russland als zweitrangig betrachtet wurde, und auf der Konferenz spielte es keine Rolle ...“ (Kennedy, S.301).


    Russland auf dem Weg in die Revolution
    „.... gewinnt man jedoch den Eindruck, dass Russland in den Jahrzehnten vor 1914 gleichzeitig stark und schwach war. ... Zunächst einmal war es industriell viel stärker als zur Zeit des Krimkrieges.“(Kennedy, S.355)
    Die zaristische Regierung war „geradezu besessen“ von der Notwendigkeit, „den Status einer europäischen Großmacht zu erwerben und zu erhalten.“(Kennedy, S.359)
    „Der große Schub zur Modernisierung (kam) vom Staat und verband sich aufs engste mit dem militärischen Bedarf ...“(Kennedy, S.359)
    „Die Arbeiter in den schnell wachsenden Städten mussten sich mit fehlender Kanalisation, katastrophaler Hygiene, entsetzlichen Wohnbedingungen und hohen Mieten abfinden. ... Die Lebenserwartung war die kürzeste in Europa. Solche Zustände, die harte Disziplin innerhalb der Fabriken und das Ausbleiben jedes realen Anstiegs des Lebensstandards führten zu einer tiefempfundenen Ablehnung des ganzen Systems ...“ (Kennedy, S.360)
    „1917, so haben Historiker argumentiert, machten Italien, Österreich-Ungarn und Russland so etwas wie einen Wettlauf auf den Zusammenbruch zu ..., (der) Russland als erstes ereilte....“(Kennedy, S.399)


    2. Die Nachkriegsordnung 1919 - 1938
    „Die auffallendste Veränderung in Europa war unter territorial-rechtlichen Gesichtspunkten betrachtet das Entstehen einer Reihe von Nationalstaaten – Polen, die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Jugoslawien, Finnland, Estland, Lettland und Litauen – ... die früher Teil des Habsburg-, Romanow- oder Hohenzollern-Reiches gewesen waren.“(Kennedy, S.416)
    „Das ethnisch einheitlichere Deutschland (erlitt) weitaus kleinere territoriale Verluste in Osteuropa ... als die Sowjetunion oder das vollkommen aufgelöste österreichisch-ungarische Reich....“(Kennedy, S.416)
    „Es gab jetzt 27 statt wie vor dem Krieg 14 verschiedene Währungen in Europa und zusätzlich 20.000 Kilometer Grenze;“ (Kennedy, S.436)


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    „... selbst als die großen Schlachten (des Weltkriegs) zum Erliegen kamen, (gab es) durch die Grenzkonflikte, beispielsweise in Osteuropa, Armenien und Polen, immer noch Kämpfe und Massaker...“(Kennedy, S.420)
    Historiker nannten diese 20 Jahre zwischen zwei Weltkriegen einen „zwanzigjährigen Waffenstillstand“ – eine „düstere und zerrissene Zeit – voller Krisen, Betrug, Brutalität und Ehrlosigkeit ...“(Kennedy, S. 438)
    „Da die UdSSR den Anteil des privaten Konsums am Bruttosozialprodukt auf ein in der modernen Geschichte wahrscheinlich einmalig niedriges Niveau gedrückt hatte ... war der phantastische Anteil von ungefähr 25 Prozent des Bruttosozialprodukts für industrielle Investitionen einsetzbar ....“ (Kennedy, S. 486)
    „Der folgende Aufschwung des Produktionsvolumens und des Nationaleinkommens war – selbst wenn man nur die vorsichtigen Schätzungen akzeptiert – in der Geschichte der Industrialisierung beispiellos.“ (Kennedy, S. 486)
    „Da die UdSSR aus einem Krieg geboren wurde und sich von potenziellen Feinden – Polen, Japan, Großbritannien – akut bedroht fühlte, widmete sie fast die ganzen 20er Jahre hindurch einen großen Teil ihres Etats (12-16 Prozent) den Verteidigungsausgaben.“(Kennedy, S.488)


    Hitler-Stalin-Pakt
    „Angesichts der eigenen politischen Ambitionen in Osteuropa hatte Moskau weit weniger Vorbehalte gegen eine Zerstückelung der unabhängigen Staaten in dieser Region – wenn sein eigener Anteil groß genug war. Der überraschende deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939 verschaffte Russland zumindest eine Pufferzone an seiner westlichen Grenze und mehr Zeit, um aufzurüsten ...“(Kennedy, S.491)


    Deutschlands Russlandfeldzug
    „Unweigerlich änderte dann Hitlers schicksalsträchtige Entscheidung, im Juni 1941 in Russland einzumarschieren, die gesamten Dimensionen des Konfliktes. ... Das Wichtigste war jedoch, dass die gewaltigen geographischen Ausmaße und die logistischen Anforderungen der Hunderte von Kilometern nach Russland hineinreichenden Feldzüge den größten Vorteil der Wehrmacht untergruben“ die operative Wendigkeit. (Kennedy, S.514)
    „Der Dezember 1941 markierte den zweiten wichtigen Wendepunkt eines inzwischen weltweiten Krieges. Die russischen Gegenangriffe um Moskau im selben Monat bestätigten, dass zumindest hier der Blitzkrieg versagt hatte.“ (Kennedy, S.516)
    „Russland konnte sich einen entsetzlichen Verlust an Menschen und Material und die Aufgabe von einer Million Quadratkilometer Land leisten, ohne geschlagen zu sein; die Einnahme Moskaus oder vielleicht sogar die Gefangennahme Stalins selbst hätte Russland – dank der außerordentlich großen Reserven des Landes – nicht unbedingt zur Kapitulation gezwungen.“(Kennedy, S. 515)


    Das deutsche Reich hatte seine maximale Machtausdehnung erreicht.
    „Berlin (hatte sich), wie auch Tokio, überdehnt....“(Kennedy, S.526)


    3. Nachkriegsordnung 1945 und Kalter Krieg
    Durch die unvermeidliche Niederlage Hitlerdeutschlands schlug das Ost-West-Pendel zurück und reduzierte Deutschland auf rund die Hälfte seines Staatsgebiets. „Obwohl sich die britischen und französischen Regierungen dagegen sträubten, gab es keinen Zweifel daran, dass ‚das europäische Zeitalter’ vorbei war.
    "... Europas Anteil am Produktionsvolumen der Welt war niedriger als zu irgendeiner anderen Zeit seit dem frühen 19. Jahrhundert;“(Kennedy, S.549)


    Nutznießer und territorialer Gewinner war die Sowjetunion.
    „Der große Sieg an der westlichen Front führte zu einer Umkehr der äußerst schwachen Position, die Russland nach 1917 in Europa gehabt hatte;“(Kennedy, S. 539)
    „Westlich und südwestlich dieses vergrößerten Russlands lag ein neuer Cordon Sanitaire aus Satellitenstaaten: Polen, Ostdeutschland, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien ...“(Kennedy, S. 539).


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    „Die Vereinigten Staaten und die UdSSR waren nun die beiden einzigen Nationen, die ... das Schicksal des halben Globus lenken konnten.“(Kennedy, S. 544)


    Die USA wollten und konnten neben sich keine zweite Supermacht dulden. Die Macht der Sowjetunion sollte „eingedämmt“ (Containment) und „zurückgetrieben“ werden (Roll back).
    Man könnte den Kalten Krieg „als den Krieg um die britische Nachfolge bezeichnen. Welche Mächte würden in den Regionen der Welt an Macht und Einfluss gewinnen, wo Großbritannien diese einst ausgeübt hatte.“ (John Charmley: Der Untergang des britischen Empires, 413).


    Tatsächlich befand sich nicht nur das Sowjetreich, sondern auch der westliche Kolonialismus und Imperialismus seit 1945 wegen der antikolonialen Bewegungen weiter in der Defensive. Da schien es passend, hinter all diesen Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen in Asien und Afrika Moskau als Strippenzieher zu vermuten.


    „Aus Washingtons Sicht existierte ... ein definitiver ‚Plan’ zur Errichtung der kommunistischen Weltherrschaft, der sich Schritt für Schritt entfaltete und ‚eingedämmt’ werden musste.“ (Kennedy, S.579)
    Diese west-östliche „Verschwörungstheorie“ und die scheinbare Bipolarität der Welt beruhte auf einer grotesken Unterschätzung der Unabhängigkeitsbestrebungen in der „Dritten Welt“. Die scheinbar konkurrenzlose Machtfülle der beiden Supermächte wurde zunehmend unterhöhlt und untergraben.


    Die USA „verloren“ China, Teile von Korea, Vietnam und Kuba. Ägypten entzog sich durch den Suez-Konflikt 1956 der britischen Herrschaft. Die Ölkrise von 1973 weckte das Selbstbewusstsein der arabischen Länder.
    Im Osten lösten sich zuerst Jugoslawien und Albanien aus dem moskauhörigen Ostblock. Peking ordnete sich Moskau nicht unter. 1956 kam der ungarische Aufstand, 1968 die Reformpolitik in Prag.
    Die Studentenrevolte im Westen schwächte und delegitimierte alle „kalten Krieger“ in Ost und West.


    Und immer beschuldigte der Westen den Osten und der Osten den Westen, die Sache eingefädelt zu haben. Diese Rhetorik des „Kalten Krieges“ vertuschte und vernebelte die tatsächliche Entwicklung, durch die beide Supermächte gleichermaßen geschwächt wurden.
    Beide Supermächte verloren an wirtschaftlicher Macht und an politischem Einfluss.
    Dass die Supermacht USA den „kalten Krieg“ gegen die Supermacht Sowjetunion gewonnen habe, ist ein amerikanischer Selbstbetrug. Die USA haben den „Systemwettbewerb“ nicht gewonnen, allerdings hatte die Sowjetunion früher verloren.
    Tatsächlich war die Rivalität der beiden Supermächte ein „Wettlauf auf den Zusammenbruch zu“, der durch den Zusammenbruch der Sowjetunion noch kein Ende fand. Die USA verfolgen immer noch diesen desaströsen Kurs. Dieser Kurs führte zur Invasion im Irak und auch in Afghanistan.


    Der Machtverlust der USA schlägt sich in Wirtschaftsdaten, in Meinungsumfragen und in schwindenden „befreundeten Regierungen“ nieder. Der Machtverlust von Russland ist auch auf der Landkarte zu besichtigen.


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    5. Putin als „Retter aller Russen“?
    Wenn Putin nun die Krim ohne großen Aufwand „heim ins Reich“ geholt hat, dann beweist das, dass das Machtpendel nach der Überdehnung des Westens sich nun wieder gen Westen wendet. Es werden wieder Ländergrenzen von Ost nach West verlagert. Vermutlich wird es nicht bei dieser einen Grenzverlagerung durch die Krim-Annexion bleiben.


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    Wer hier im Westen nun meint, er müsse Putin applaudieren, macht sich zum nützlichen Idioten von Staatsinterventionismus – genau wie die, die im westlichen Chor von „freedom and democracy“ mitsingen.
    Den Konflikt um wirtschaftliche Einflusszonen und Staatsterritorien betreiben Geschäftsleute und Staatsfunktionäre. Bürger ohne Business und ohne Staatsamt haben in Territorialkonflikten nichts zu gewinnen. Ganz im Gegenteil: Sie sind und bleiben Leidtragende jeder Staatsmacht und jeder staatlichen Intervention.


    Hinzu kommt, dass es in Europa künftig immer weniger zu gewinnen gibt. Zwei Jahrtausende lang entschied sich in Europa und durch Europa das Schicksal der Menschheit.
    Im dritten Jahrtausend verschieben sich die wirtschaftlichen Schwerpunkte des Kapitalismus in alle Welt, vor allem aber in die asiatisch-pazifische Region.
    Früher konnte die Erfindung einer neuen Produktionstechnik in England Tausenden Europäern Wohlstand oder wenigstens gut bezahlte Lohnarbeit bringen, während Millionen Kleinproduzenten in Indien oder China außer Arbeit gesetzt und dem Hungertod preisgegeben wurden.
    Dieser europäische Konkurrenzvorteil ist weitgehend verloren.
    Heute konkurrieren wir Lohnarbeiter in Europa mit Millionen Billiglöhnern in aller Welt, die an den gleichen Maschinen arbeiten und die dieselben Computer benutzen wie wir.
    Für unsere Probleme als Lohnabhängige im (ehemals) reichen Westen spielt es wirklich keine Rolle, ob irgendeine eine europäische Ländergrenze 100 km weiter östlich oder westlich verläuft. Je mehr sich die Lebensverhältnisse in allen Ländern angleichen, desto mehr verlieren Staatsgrenzen an Bedeutung.
    Wir sollten uns wichtigeren Problemen zuwenden,
    meint Wal Buchenberg


    Siehe auch:


    Kurze Geschichte des heutigen Russland

  • Mein Gott ist die erste Karte sowas von falsch. Polen und Kaliningrad :D!

    Ist das jetzt Unwissenheit der schlimmsten Art=O, oder einfach billige kommunistische Propaganda für den beschränkten Pöbel:saint:?

    Ich bin mal gespannt, ob Sie diesen Beitrag freischalten und diesen Fehler beheben.

    MfG

  • Hallo Tobi,

    diesen Text haben schon mehr als 20.000 Menschen gelesen, und du bist der Erste und Einzige, der in der ersten Karte einen ganz furchtbaren Fehler entdeckt!?

    Bevor du deine Backen so weit aufbläst, solltest du erst mal nachlesen und nachdenken, was genau in der ersten Karte dargestellt ist. Da steht unter dem Russischen Reich: "HEUTIGE GRENZEN" !

    Die erste Karte zeigt also die Ausdehnung des zaristischen Russland vor dem Hintergrund heutiger Grenzen.

    Im Klartext: Alle Grenzen und alle geografischen Namen - auch der von Kaliningrad sind von heute. Die Ausdehnung von Russland (rote Fläche) ist von damals.

    Es handelt sich also NICHT um eine historische Karte mit den geografischen Namen von damals (wie du glaubst, sondern um eine HEUTIGE Karte mit der (ungefähren) geografischen Ausdehnung von Russland vor 1917.

    Daran ist nichts auszusetzen und das muss so sein, damit alle gezeigten Karten miteinander vergleichbar sind.

    Komm mal von deiner Empörung runter.

    Gruß Wal

  • Guten Tag, vor dem Russischen Zarenreich gehörte das Baltikum (Estland, Lettland und Litauen) nicht zu Russland, das waren und sind eigenständige Länder!


    Edit w.b.:
    Danke für den Hinweis!
    Aber mein historischer Rückblick beginnt um 1856.

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