Inflation der Gedanken

  • Als Intellektueller wird ein Gedankenproduzent angesehen, »der eine Reputation erworben hat oder anerkannte Kompetenzen im kognitiven oder kreativen, wissenschaftlichen, literarischen oder künstlerischen Bereich besitzt und seinen Status dazu benutzt, öffentlich zu Fragen Stellung zu nehmen, die nicht sein Spezialgebiet, sondern die gesamte politische Gemeinschaft betreffen, der er angehört«. (M.Winock)


    Per Definition ist der Intellektuelle kein Fachmann, sondern ein Generalist. Während der Corona-Krise (oder in jeder Krise??) haben alle Generalisten von Dieter Nuhr bis Christian Lindner an Reputation verloren, Spezialisten wie Christian Drosten haben Ansehen und Einfluss gewonnen.


    Ergo: Generalist kann jeder, Generalist macht jeder. Wir haben eine Generalisten-Inflation, eine Gedankeninflation. Anwendbares Fachwissen ist gefragt.


    Natürlich gibt es in der Gedankenwelt Fünfer, Zehner und Fünfhunderter, aber mindestens seit sogar Medien, die sich vordem "Nachrichten" widmeten, nur noch Infotainment bieten, schlägt jede kluge Bemerkung, jeder pfiffige Gedanken alle anderen tot. Die Gedankenwährung summiert sich nicht zu Gedankenreichtum, sondern türmt sich zu einer Wolke, zu einem betäubenden Hintergrundgeräusch ohne Mitteilung und ohne Wert. Wo die Fünfer und die Zehner wohlfeil zu haben sind, verlieren die Fünfhunderter ebenso an Wert. Inflation trifft die gesamte Gedankenwährung, egal in welcher Notation.

    Übrigens sind Philosophen "die schlechtbezahltesten weil überflüssigsten Lakaien der internationalen Bourgeoise..." (Walter Benjamin, Gesammelte Briefe II, 448.)

  • Unser Problem ist: Die bezahlte Schreibe imitiert das freie Schreiben und übertrumpft es.

    Gab es zu Beginn des Internets eine Kultur der Diskussionsforen, so begannen die Lohnschreiber unter ihre Artikel Kommentarspalten zu hängen, bis die freie Diskussionskultur zerstört war.

    Dann gab es die Blogger. Die Lohnschreiber begannen die lockere Schreibe, die Sprache der Blogger, die bisher ins Feuilleton verbannt war, erst in ihre Kommentarspalten, dann auch in ihre „Nachrichtenspalten“ und Nachrichtensendungen zu übernehmen. Inzwischen ist überall Bento, ein Mix aus scheinbar persönlichem Erleben und lockerer Schreibe. Überall herrscht Klamauk und übertüncht und übertönt die ernst gemeinte Satire und erst recht ernst gemeinte Gedanken.

    Wie oft haben wir als radikale Kritiker gesagt: Kapitalismus beherrscht die Öffentlichkeit! Diese Herrschaft haben wir meist bei anderen und anderswo gesucht. Dass der Kapitalismus es auch schafft, unsere Stimmen unhörbar zu machen und alle radikalen Gedanken in einem Meer aus Nichtigkeiten zu ertränken, das haben wir nicht bedacht. Das bezahlte Denken imitiert das freie Denken und übertrumpft es.


    Eine Perspektive bleibt uns: Lohnschreiberei muss von den Lesern bezahlt werden - direkt durch Abonnements oder indirekt durch Blödwerbung. Von diesem Mediendschungel hält sich fern, wer kostenlos bleibt und auf Werbung verzichtet.

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